Bei den russischen Präsidentschaftswahlen im März waren die liberalen Parteien, wie erwartet, chancenlos. Viele Russen machen sie für das Elend der 1990er Jahre verantwortlich. Es ist ein Feindbild, das Präsident Wladimir Putin gezielt bedient. Rick Mertens berichtet aus Moskau.
Nikolai Rybakow blickt auf die Russlandkarte und wirkt ratlos: „Russland ist ein riesiges Land. Deshalb ist es sehr schwierig und sehr teuer, wenn man Leute in allen Regionen des Landes erreichen will.“ Wie schwierig es ist, erfuhr Rybakow zuletzt am 18. März.
An diesem Tag trat seine liberale Partei bei den Wahlen gegen Wladimir Putin an. Als Stabsleiter hatte Rybakow in den Wochen davor versucht, möglichst viele Wähler im ganzen Land für seinen Kandidaten Grigori Jawlinski zu mobilisieren: „Viele Leute fanden es sei die beste Kampagne unserer Parteigeschichte.“ Doch am Ende stand ein ernüchterndes Ergebnis: Jawlinski erhielt gerade einmal 1,05 Prozent der Stimmen.
Jawlinskis Ergebnis ist symptomatisch für das schwache Abschneiden der liberalen Kräfte: Die TV-Moderatorin Xenija Sobtschak erreichte 1,68 Prozent, während der wirtschaftsliberale Boris Titiow unter einem Prozent blieb. Internationale Wahlbeobachter stuften das Wahlresultat, trotz einiger Unregelmäẞigkeiten, als gröẞtenteils korrekt ein.
Kooperation mit europäischen Liberalen
Rybakows Jabloko-Partei steht für traditionelle liberale Werte. Auf ihrer Internetseite nennt die Partei „eine sozial ausgerichtete Marktwirtschaft“, „gleiche Startmöglichkeiten für alle“ und die „Stärkung der demokratischen Institutionen und des Rechtsstaats“ als Prioritäten. Außenpolitisch setzt Jabloko sich für eine engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union ein.
Jabloko (russisch für Apfel) pflegt engen Kontakt zu liberalen Parteien außerhalb Russlands: Seit 2006 gehört die Partei der europäischen Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE) an. Dieses Bündnis verbindet liberale Parteien aus ganz Europa, darunter die luxemburgische DP, die deutsche FDP und die britischen Liberal Democrats.
Auch in Moskau gibt es engen Kontakt zu europäischen Partnern. Unser Gespräch mit Rybakow findet im Moskauer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung (FNF) statt, die der deutschen FDP nahe steht. Direkte finanzielle Unterstützung erhalte Jabloko nicht von der Naumann-Stiftung, so FNF-Mitarbeiter Oleg Soloschenko. Doch die Stiftung fördert den Austausch zwischen deutschen und russischen Liberalen, und bietet Weiterbildungen an. So habe Nikolai Rybakow schon mehrmals Seminare der stiftungseigenen Theodor-Heuss-Akademie im deutschen Gummersbach besucht.
Kaum Resonanz im ländlichen Raum
Trotz dieser Unterstützung spricht Jabloko nur einen begrenzten Teil der russischen Wähler an. Die meisten Stimmen bekomme seine Partei im Nordwesten, zum Beispiel in Sankt-Petersburg oder der Region Kaliningrad, so Rybakow: „Das liegt vielleicht daran, dass die Leute dort so nah an Europa leben, dass sie praktisch mit dem Fahrrad ein EU-Land besuchen können.“ Doch außerhalb von Großstädten wie Moskau oder Sankt Petersburg, gebe es große Skepsis gegenüber liberalen politischen Kräften.
Wir haben zwar einiges kaputt gemacht, aber die Marktwirtschaft funktioniert heute noch.“Andrej Netschajew, Oppositionspolitiker und ehemaliger Wirtschaftsminister
Auch Andrej Netschajew weiß, dass viele seiner Landsleute ihn verachten: „Früher haben die Mütter ihren Buben eingebläut: Benehmt euch, sonst kommt ein Milizionär und bestraft euch. Heute sagt man: Benehmt euch, sonst kommt ein Liberaler“, frotzelt der erfahrene Oppositionspolitiker mit dröhnender Raucherstimme.
Unser Treffen mit Netschajew findet in der Wohnung von Julius Freytag-Loringhoven statt, dem Moskauer Bürochef der Naumann-Stiftung. Diese großräumigen Appartements im Zentrum Moskaus wurden in den 1980er Jahren von den sowjetischen Eliten bewohnt. Auch der spätere russische Präsident Boris Jelzin habe damals hier gewohnt, erklärt der Gastgeber zur Begrüßung.
Das Trauma des Wirtschaftsliberalismus
Netschajew kokettiert gerne mit seinem eigenen Image, das auch heute noch von seiner kurzen Amtszeit als russischer Wirtschaftsminister geprägt ist. Ende 1991, gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war er der erste, der dieses Amt übernahm. 18 Monate lang war er Wirtschaftsminister unter Präsident Boris Jelzin. Es waren turbulente Zeiten, in denen die sowjetische Planwirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft umgewandelt wurde.
„Natürlich waren die damaligen Reformen für große Teile der Bevölkerung sehr hart,“ erinnert sich Netschajew bei Weißwein und mit Fleisch gefüllten ossetischen Teigfladen. Er selbst habe als Minister die Ausgaben für Militärausrüstung deutlich zurückgeschraubt. „Viele Ingenieure und Fabrikarbeiter haben dadurch ihre Arbeit verloren.“ Staatliche Einsparungen seien aber nötig gewesen, um die Weichen für den Übergang zur Marktwirtschaft zu stellen: „Wir haben zwar einiges kaputt gemacht, aber die Marktwirtschaft funktioniert heute noch.“
Ein Großteil der Russen hat jedoch keine guten Erinnerungen an die 1990er Jahre. Die damaligen Reformen spalten die russische Gesellschaft bis heute, denn sie gelten als Ursprung der sozialen Ungleichheiten im Land. Reformpolitiker wie Andrej Netschajew, Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais sind deshalb für viele Russen ein rotes Tuch. Sie werden politisch dafür verantwortlich gemacht, dass die Privatisierung in den 1990er Jahren einen kleinen Kreis von Oligarchen sehr reich machte, während ein Großteil der Bevölkerung in die Armut abrutschte.
Präsident Putin inszeniert sich als Retter
Wladimir Putin bedient diese Feindbilder. Mitten in der Wirtschaftskrise von 2009 landete Putin mit einem Helikopter in der Provinzstadt Pikalewo und rechnete vor laufenden Kameras mit den Oligarchen ab, die den Arbeitern einer lokalen Fabrik seit Monaten keine Gehälter ausbezahlt hatten. Mit solchen Auftritten inszeniert der heutige Präsident sich als Mann der Stärke, der den ungezügelten Kapitalismus der 1990er Jahre wieder unter politische Kontrolle bringt.
Wir haben ganz einfach keine Wahl: Wir können unser Land nicht austauschen, wir können die Bevölkerung nicht auswechseln, und wir können auch das Zeitalter nicht wechseln.“Nikolai Rybakow, stellvertretender Vorsitzender der Partei „Jabloko“
Netschajew kämpft heute als Oppositionspolitiker gegen diese Darstellung an. Bei den Wahlen im März schickte seine liberale Bürgerinitiative die TV-Moderatorin Xenija Sobtschak ins Rennen. Putins anti-liberale Rhetorik sei Teil der offiziellen Propaganda, so Netschajew. Diese sei so effektiv, dass die Leute dem Präsidenten vertrauen, obwohl das Lebensniveau seit drei Jahren sinkt: „In russischen Haushalten gibt es zur Zeit einen harten Kampf zwischen dem Fernsehgerät und dem Kühlschrank. Und im Moment gewinnt der Fernseher.“
Das bedeute aber nicht, dass liberale Ideen in Russland gar keinen Rückhalt hätten: „Wenn Sie die Leute auf der Straße fragen: Sind sie dafür dass der Staat sich nicht in ihr Privatleben einmischt? Dann stimmen 90 Prozent zu. Wenn sie fragen: Sind sie für niedrigere Steuern? Dann stimmen 99 Prozent zu. Aber wenn sie dann sagen: Sie sind also liberal? Dann schreien alle Nein!“
Zweckoptismus als liberales Leitmotiv
Auch Nikolai Rybakow glaubt, dass das Wählerpotential seiner Partei deutlich größer ist, als die rezenten Präsidentschaftswahlen glauben lassen. Viele liberal eingestellte Menschen würden nämlich überhaupt nicht zur Wahl gehen, weil sie nicht daran glauben, dass sie mit ihrer Stimme etwas ändern können. „Das ist eine absurde Situation: Wenn alle Leute, die mit uns einverstanden sind, auch wählen würden, dann könnten wir zehn Prozent der Stimmen erreichen, anstatt ein bis zwei Prozent.“
Doch der Jabloko-Politiker zeigt sich entschlossen: „Wir haben ganz einfach keine Wahl: Wir können unser Land nicht austauschen, wir können die Bevölkerung nicht auswechseln, und wir können auch das Zeitalter nicht wechseln.“ 18 Jahre nachdem Wladimir Putin zum ersten Mal russischer Präsident wurde, scheint der Zweckoptimismus das Leitmotiv der russischen Liberalen zu sein.
Unser Korrespondent Rick Mertens war zehn Tage lang mit der deutschen Journalisten-Organisation „journalists.network“ in Russland unterwegs. Die Reise wurde von den deutschen Unternehmen Volkswagen, Henkel und Wintershall mitfinanziert.