Kasan gilt als vielfältig und tolerant. Damit könnte die Hauptstadt der Region Tatarstan sich am Rande der Fußball-WM zu einer Erfolgsgeschichte für Russland entwickeln. Doch die tatarische Vielfalt beruht auf einer politischen Gratwanderung.
Eins will Marat Gibatdinow gleich klar stellen: „Wir sind keine Russen, das ist für Besucher oft schwer zu verstehen: Wir leben zwar in Russland, aber wir Tataren haben unsere eigene Geschichte, Sprache und Kultur,“ erklärt der Historiker. Gibatdinow forscht an der Tatarischen Akademie der Wissenschaften in Kasan zur Bildungsgeschichte.
Das weiße Akademie-Gebäude liegt entlang der Festungsmauern am Fuße des Kasaner Kreml. 80 Geisteswissenschaftler beschäftigen sich hier mit der Geschichte und Kultur der Region Tatarstan. Wie vielfältig diese Kultur ist, verbildlicht das befestigte Stadtzentrum: Die Minarette der Kul-Scharif-Moschee liegen hier nur wenige Schritte entfernt von den Zwiebeltürmen der orthodoxen Mariä-Verkündigungs-Kathedrale.
„Eigentlich mögen wir das Wort Toleranz hier gar nicht,“ sagt Ilfar Hassanow während sein Blick durch den geräumigen Gebetssaal seiner Kul-Scharif-Moschee wandert. „Toleranz suggeriert, dass man seinen Gegenüber nur duldet. Aber hier in Kasan ehren wir uns untereinander“, so der Imam. Das könne man bei wichtigen religiösen Festen beobachten: „Jedes Jahr überbringe ich der orthodoxen Gemeinde zu Ostern meine Wünsche, und umgekehrt gratulieren die Orthodoxen uns zum Ende des Ramadan.“
Fußball-WM als Imagepflege
Diese Kultur des Zusammenlebens könnte Kasan in den nächsten Wochen zu einer Erfolgsgeschichte für ganz Russland machen. Getreu dem alten russischen Sprichwort: „Kratzt du an einem Russen, kommt ein Tatare zum Vorschein.“
Denn im Sommer werden in der tatarischen Hauptstadt Besucher aus aller Welt erwartet. „Wir rechnen während der Fußball-WM mit insgesamt 200.000 Gästen,“ sagt Daria Sannikowa. Die Tourismus-Beauftragte der Stadt erwartet sich vor allem Besucher aus Frankreich, Spanien und dem Iran. Kasan will sich ihnen gegenüber von seiner besten Seite zeigen, denn die WM bietet Russland eine einzigartige globale Bühne: Es ist eine Chance sich – trotz allen geopolitischen Spannungen – als weltoffenes Land zu zeigen.
Die kulturelle Vielfalt, die Kasan sich auf die Fahne schreibt, beschränkt sich nicht auf das Zusammenleben von Muslimen und Orthodoxen. Tatarstan ist auch von sprachlicher Diversität geprägt: Neben Russisch sprechen viele Einwohner nämlich Tatarisch, eine Sprache, die zur Familie der Turksprachen gehört.
Begrenzte politische Autonomie
Im Konferenzraum des Spracheninstituts an der Kasaner Karl-Marx-Straẞe reihen sich tatarische Wörterbücher in einem Regal entlang der Wand. „Mit meinem Team habe ich in den letzten Jahren jede Menge Material zusammengestellt,“ erklärt der Leiter der lexikographischen Abteilung Ajnur Achatowitsch: „Schüler können jetzt sogar auf zwei- oder dreisprachige Wörterbücher zurückgreifen, wenn sie Tatarisch lernen.“
Die Regierung in Moskau hat den politischen Spielraum unserer Regionalregierung in den letzten Jahren Schritt für Schritt begrenzt.“
Doch Achatowitsch befürchtet, dass es demnächst nur noch wenig Schüler gibt, die seine Wörterbücher brauchen. „In den 90er Jahren hat die tatarische Sprache eine groẞe Renaissance erlebt,“ so Achatowitsch. Die damalige Zentralregierung unter Präsident Boris Jelzin sei schwach gewesen: „Das hat die Regionalregierung hier in Kasan genutzt, um unsere Sprache und Kultur gezielt zu fördern.“
Doch die Zeiten haben sich geändert. „Die Regierung in Moskau hat den politischen Spielraum unserer Regionalregierung in den letzten Jahren Schritt für Schritt begrenzt,“ erklärt der Sprachwissenschaftler. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Tatarstan ein Autonomiestatus gewährt. Dieser Sonderstatus gab der Region um Kasan mehr Gestaltungsmöglichkeiten als anderen russischen Regionen. Doch das Abkommen mit Moskau lief letzten Sommer ab, und wurde bislang nicht erneuert.
Proteste werden nicht geduldet
Die Einschränkung der politischen Autonomie schlägt sich auch in der Sprachenpolitik nieder. An den Schulen der Region wurde das Pflichtfach Tatarisch Ende 2017 aufgrund einer Anweisung aus Moskau abgeschafft. Die Regionalsprache wird jetzt nur noch als Wahlfach unterrichtet. Ajnur Achatowitsch sagt, solche Entscheidungen würden in der Region zunehmend für Unmut sorgen, öffentliche Proteste hätten sich aber bislang in Grenzen gehalten.
„Protestaktionen werden ganz einfach nicht genehmigt“, so Achatowitsch: „An der Uni gab es zum Beispiel eine Gruppe von Studenten, die gegen die aktuelle Sprachenpolitik protestiert hat.“ Kurze Zeit später habe die Staatsanwaltschaft dann Ermittlungen gegen diese Studenten aufgenommen. Selbst habe er bislang nicht an Protesten teilgenommen.

Achatowitsch zieht viele historische Vergleiche, wenn er über Politik redet. Er versucht die Gegenwart durch wiederkehrende Muster zu erklären: „Gleich nach der russischen Revolution wurde den Regionalsprachen auch viel Freiheit gewährt. Stalin setzte dieser Politik dann ein Ende.“ Der Sprachenwissenschaftler sieht darin Parallelen zur aktuellen Entwicklung: „Die ersten Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind ganz in unserem Sinne verlaufen. Doch jetzt setzt Moskau uns wieder mehr Hindernisse.“ Früher oder später werde die Zentralregierung aber schon erkennen, „dass das Wohl der tatarischen Sprache auch im Interesse Russlands ist.“
Von Tatarstan zur Krim-Krise
Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen im März deutet nicht darauf hin, dass die Politik von Wladimir Putin die tatarische Bevölkerung in Rage versetzt: Mit 82 Prozent der Stimmen war die Zustimmung für den aktuellen Präsidenten in Tatarstan sogar noch höher als in anderen Regionen.
Der Historiker Marat Gibatdinow zeigt sich wenig überrascht über dieses Ergebnis: „Es ist eine Art Tradition hier in der Region, dass man sich bei Wahlen loyal gegenüber der Regierung in Moskau zeigt.“ Dieser „solidarische Pakt“ habe sich zu Sowjetzeiten etabliert: „Es geht um Geben und Nehmen: Die Leute glauben, dass die Zentralregierung den Anliegen der Region mehr Gehör schenkt, wenn die regionale Bevölkerung ihre Loyalität unter Beweis stellt.“
Glauben Sie immer noch, dass es sich um eine ‚Annexion‘ handelt? ‚Annexion‘ ist ein negative behafteter Ausdruck!“
Obwohl Moskau der tatarischen Autonomie rezent Schranken gesetzt hat, konnte Gibatdinows Akademie vor Kurzem eine neue Auẞenstelle eröffnen. „Als die Krim 2014 ein Teil Russlands wurde, konnten wir dort eine Zweigstelle eröffnen um die Kultur und Geschichte der Krimtataren zu erforschen,“ erklärt der Historiker. Finanziert werde dieses Projekt von der tatarischen Regionalregierung: „Es gab die Idee, dass die Region Tatarstan die Krimtataren dabei unterstützen könne, sich in die russische Gesellschaft einzugliedern. Für uns Historiker war das eine gute Gelegenheit, unsere Kontakte zu den Krimtataren zu vertiefen.“
Dabei ist fraglich, ob diese Bemühungen auch von der Gemeinschaft der Krimtataren begrüẞt wird: Die politische Vertretung der Krimtataren lehnt die russische Übernahme der Krim nämlich ab.
Ajnur Achatowitsch ist unterdessen überzeugt, dass auf der Krim „99 Prozent der Einwohner“ glücklich sind ein Teil Russlands zu sein. Seine Schwester sei vor Kurzem auf die Krim gezogen um dort im Gesundheitswesen zu arbeiten, so Achatowitsch. Auf die Umstände der russischen Übernahme angesprochen reagiert er gereizt: „Glauben Sie immer noch, dass es sich um eine ‚Annexion‘ handelt? ‚Annexion‘ ist ein negative behafteter Ausdruck!“ Vielleicht kommt manchmal auch ein Russe zum Vorschein, wenn man an einem Tataren kratzt.