Friedensgerichte gelten als bürgernah, ihre Richter als empathische Vermittler. Doch durch Zeitdruck, mehr Kompetenzen und konkurrierende Anwälte hat sich die Realität gewandelt. Eine Reportage über alltägliche Konflikte, emotionale Verhandlungen und die soziale Rolle der Justiz.

„Dem werden wir es zeigen, wir lassen dich nicht alleine, Bruder.“ Etwa zwei Dutzend junger Erwachsener stehen vor dem Friedensgericht in Luxemburg-Stadt, ziehen hektisch an ihren Zigaretten und sprechen einander Mut zu. Ihr leicht nervöses Wippen und die auffällig akkurat gegelten Haare weisen darauf hin, dass für sie heute ein besonderer Tag ist.

In einer Sommernacht, damals vor Corona, ist ihr „Bruder“ in einer Diskothek in eine Schlägerei geraten. Der, der das Bierglas ins Gesicht bekommen hatte und zum Nähen der Augenbraue in die Notaufnahme musste, hat Anzeige erstattet. In einer Viertelstunde soll die Angelegenheit nun vor dem Friedensrichter verhandelt werden. Ein letzter Zug an der Zigarette, die Sicherheitskontrolle am Eingang, und dann betreten die jungen Menschen betont lässig den bereits gut gefüllten Gerichtssaal im ersten Stock.

Im Gegensatz zu den anderen Gerichten, den Bezirks- und Verwaltungsgerichten oder auch dem Obersten Gerichtshof, finden die Prozeduren am Friedensgericht nicht in schriftlicher Form, sondern mündlich statt. Die Betroffenen sind meist anwesend, Anwälte halten ihre Plädoyers live und Zeugen stellen sich den Fragen der Richter direkt. Dies führt zu vollen Gerichtssälen und einem regen Kommen und Gehen.

Direkter, alltäglicher, persönlicher

Der Angeklagte nimmt also Platz, die Zeugen setzen sich wie eine Schutzmauer auf die noch freien Stühle um ihn herum. Pünktlich um 9.00 Uhr tritt die Richterin ein, alle Anwesenden erheben sich, die etwa zwei Dutzend für heute Vormittag angesetzten Angelegenheiten werden zügig verlesen. Dann könnte die Anhörung zur Diskoschlägerei und damit der Auftritt der jungen Begleiter eigentlich beginnen.

Doch nicht einmal fünf Minuten später stehen die Jugendlichen wieder draußen auf dem Kopfsteinpflaster. Keiner von ihnen hat auch nur ein einziges Wort gesprochen. Der selbst jugendlich wirkende Anwalt hatte es versäumt, die neun Zeugen im Vorfeld der Anhörung auch anzumelden. Der eng bemessene Zeitplan wurde durchkreuzt, die Angelegenheit vertagt. Wiedersehen in vier Monaten.

Statt auf die pure Anwendung des Rechtes kommt es im Friedensgericht verstärkt darauf an, sich auf die Betroffenen einzulassen und den Tathergang so genau wie möglich zu rekonstruieren.“Séverine Menetrey, Jura-Professorin

Zwei Drittel der an diesem Vormittag anberaumten Fälle werden direkt vertagt. Meistens wegen fehlender oder nicht fristgerecht an die Gegenpartei weitergeleiteter Dokumente. Aber auch wegen abwesender Protagonisten oder ohne Dolmetscher nicht zu lösender Sprachbarrieren.

Die Friedensgerichte in Luxemburg, Esch/Alzette und Diekirch zählen zur untersten Ebene der Gerichtshierarchie. Eine Diskoschlägerei, ein über den Nachbarschaftszaun gewachsener Baum, unbezahlte Rechnungen, schlampige Handwerkerarbeiten oder auch ein verärgerter Vermieter: Die Tatbestände am Friedensgericht, und mit ihnen auch die Verhandlungen selbst, sind meist alltäglicher und persönlicher als etwa am Bezirksgericht. „Es menschelt. Das macht die Friedensgerichtsbarkeit besonders spannend“, sagt Séverine Menetrey, Professorin an der Juristischen Fakultät der Uni Luxemburg im Gespräch mit Reporter.lu.

Ein Kind der Französischen Revolution

Die Friedensrichterin oder der Friedensrichter urteilt über weniger bedeutende Angelegenheiten im Zivil- und Handelsrecht, ist kompetent im Miet- und Arbeitsrecht – hier sogar ohne finanzielle Einschränkungen – und ist zuständig für Lohnpfändungen und Zahlungsaufforderungen. Darüber hinaus ist auch das Polizeigericht, wo Ordnungswidrigkeiten und kleinere Verkehrsdelikte verhandelt werden, Teil des Friedensgerichts.

Vor den Friedensrichtern landen oft Angelegenheiten, die theoretisch auch außergerichtlich geklärt werden könnten. Doch ihre Bedeutung ist dennoch nicht zu unterschätzen. (Foto: Christian Peckels)

Die Gerichte sind eine Errungenschaft der Französischen Revolution. Napoleon I. hat im Rahmen seiner Justizreform mit der „Justice de paix“ eine Instanz geschaffen, die näher am Volk sein und nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe agieren soll. Die beteiligten Parteien sollten für sich selbst sprechen, die Aufgabe der Richter sah man in erster Linie darin, zu schlichten und zu vermitteln. Ein Friedensrichter braucht in erhöhtem Maße Empathie, Verständnis und Geduld. Das gilt in abgeschwächter Form auch heute noch.

„Das Friedensgericht kann Juristen immer wieder eine Lektion in Demut erteilen“, sagt Séverine Menetrey. „Die große Masse an Gerichtsverfahren beschäftigt sich nun einmal nicht mit Sensationsaffären, sondern mit alltäglichen Konfliktsituationen“, so die Juristin. „Statt auf die pure Anwendung des Rechtes kommt es im Friedensgericht verstärkt darauf an, sich auf die Betroffenen einzulassen und den Tathergang so genau wie möglich zu rekonstruieren“, fasst sie die Besonderheit dieser Gerichtsbarkeit zusammen.

Seismograph des gesellschaftlichen Wandels

Nächster Tag, gleiche Uhrzeit, gleicher Saal. Heute steht Frau B. vor dem Friedensrichter des Polizeigerichts. Sie schaut peinlich berührt auf den Boden. Die Verhandlung hatte innerhalb weniger Sekunden eine völlig neue Wendung genommen. Ursprünglich war sie es, die auf Schadenersatz geklagt hatte. Schließlich wurde sie ziemlich schwer an der Schulter verletzt, als ihr damaliger Studienkollege mit ihr auf dem Beifahrersitz einen Unfall verursachte. Und das auch noch mit ihrem Kleinwagen, den sie mittlerweile verschrotten musste. 45.000 Euro hatte sie an Ausgleichszahlungen gefordert. Für finanzielle, aber auch ästhetische und psychische Folgen. Dazu hatte ihr eine befreundete Anwältin geraten.

Und nun plädiert die Verteidigung auf „geteilte Verantwortlichkeit“ (responsabilité partagée). Will ihr den schwarzen Peter zuschieben. Versucht, sie vom Opfer zum Täter zu machen. Und spricht von der Hose, die sie aufgeknöpft haben soll, von Ablenkungsmanövern, von Fellatio beim Fahren.

Hier behält man noch die Bodenhaftung, wir bekommen mit, woran unsere Gesellschaft krankt.“Agnès Zago, leitende Richterin

„Natierlech war mäi Client ofgelenkt, dat kann een dach verstoen“, argumentiert der gegnerische Anwalt, der sich ein Grinsen nicht verkneifen kann. Frau B. vermeidet es hochzusehen. Der Richter übernimmt betont sachlich die Führung. Doch ob oder ob nicht, ist so schnell nicht zu klären. Zumal der Angeklagte selbst nicht zur Verhandlung erschienen ist. Es steht Aussage gegen Aussage. Auch diese Angelegenheit wird erst einmal vertagt und der Angeklagte aufgefordert, sich beim nächsten Termin selbst den Fragen des Richters zu stellen. Frau B. nimmt ihre Tasche und krallt sich an ihr fest. Ihren Blick richtet sie weiterhin fest auf den Boden. Beinahe wäre sie gestolpert in ihrer Bemühung, möglichst schnell den Saal zu verlassen.

„Entwicklungen sind oft nicht vorhersehbar“, erzählt Agnès Zago im Gespräch mit Reporter.lu. Die leitende Richterin des Friedensgerichts in Luxemburg macht ihre Arbeit aus Überzeugung: „Hier behält man noch die Bodenhaftung“, sagt sie, „wir bekommen mit, woran unsere Gesellschaft krankt und arbeiten als Friedensrichter, weil wir den direkten Kontakt mit den Menschen mögen und auch vor Gericht pflegen möchten“.

Zuhören, auch belanglos scheinende Monologe nicht unterbrechen, Aufklärungsarbeit leisten: Agnès Zago sieht in der Friedensgerichtsbarkeit durchaus eine wichtige, soziale Rolle der Justiz. „Wir können mehr durchgehen lassen, Prozesse gehen schneller und sind in der Regel billiger“. Doch sie betont auch, dass die Arbeit mit den Jahren härter geworden sei.

Kompetenzerweiterung durch neues Gesetz

Im Zivil- und Handelsrecht darf der zu verhandelnde Betrag aktuell die 10.000 Euro-Marke nicht überschreiten. Im Rahmen eines neuen Gesetzes zur Effizienzsteigerung des Justizapparates soll diese Kompetenz nun auf 15.000 Euro erhöht werden. Verfechter dieser Änderung erhoffen sich hierdurch vor allem eine Entlastung der Bezirksgerichte. „Der Betrag wurde seit 1996 nicht geändert, 10.000 Euro heute ist nicht das gleiche, wie 10.000 Euro vor einem Vierteljahrhundert“, sagt etwa Thierry Hoscheit, Kammerpräsident des Berufungsgerichts. Er macht keinen Hehl daraus, dass er auch eine höhere Anpassung für angemessen gehalten hätte.

Kritiker befürchten jedoch auch, dass Friedensgerichte sich durch die Anhebung des Betrages weiter von der sie eigentlich charakterisierenden Bürgernähe entfernen. „15.000 Euro ist für viele Menschen viel Geld und eine Strafe in dieser Höhe kann existenzbedrohend werden“, sagt etwa Agnes Zago.

Das Friedensgericht in Esch/Alzette: Nicht nur hier haben die Rechtsanwälte in der ursprünglich als „Laiengerichte“ erdachten „Justice de paix“ mehr Kontrolle übernommen. (Foto: Christian Peckels)

Eine der ursprünglichen Ideen des Friedensgerichtes ist die Abwesenheit von Anwälten. Angeklagte verteidigen sich entweder selbst oder lassen sich von einem Vertrauten vertreten. Der Richter als Mediator vermittelt zwischen den Parteien und findet einen Kompromiss. Diese Idealvorstellung ist mit den Jahren einer rauer werdenden Realität gewichen, in der immer mehr Menschen – zumindest, wenn sie es sich leisten können – auf Anwälte zurückgreifen. Agnès Zago ist anzumerken, dass sie dies bedauert.

„Spannungen drohen, sich zu verschärfen, wenn sich die Parteien vor Gericht nicht auf Augenhöhe begegnen“, sagt die Richterin. Sie erzählt von Menschen, die sich um Kopf und Kragen reden. Oder von anderen, deren Stimme so zittert, dass sie kaum einen verständlichen Satz herausbringen. „Es ist dann oft eine Qual, wenn auf der anderen Seite ein Anwalt sitzt, der von der Unwissenheit eines sich selbst verteidigenden Angeklagten profitiert“, erzählt sie. Friedensrichter würden dann versuchen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. „Das geht jedoch nur bis zu einem gewissen Maß, schließlich müssen wir unparteiisch bleiben“.

Wider Willen rät Agnès Zago Betroffenen dann häufig selbst zu einem Anwalt. Auch wenn sie die Hemmschwelle, sich juristischen Beistand zu holen, gut verstehen kann. „Ein Anwalt kostet viel Geld und die Wartelisten für staatlichen Rechtsbeistand sind überfüllt“, sagt die Richterin.

Gute Schule für angehende Anwälte

Große Anwaltskanzleien schicken ihre sich noch in der Ausbildung befindenden Anwälte gerne zum Friedensgericht. Meist steht nicht allzu viel auf dem Spiel und Fehler werden eher verziehen. Die Fälle vor dem Friedensgericht gelten als gute Praxisübung, als Lehrstunde der Rhetorik, der Argumentation und der Beweisführung, doch sind in der Regel finanziell nicht sehr lukrativ und in den Augen mancher Juristen auch intellektuell nicht allzu anspruchsvoll.

Doch es gibt Ausnahmen, wie ein Morgen im Juni 2021 zeigt: Im kleinen Sitzungssaal im Erdgeschoss des Friedensgerichts versammeln sich einige Staranwälte der Luxemburger Kanzleien. Vordergründig geht es bei der Verhandlung um zu klärende Mietverhältnisse, weshalb die Kompetenz für den Fall auch beim Friedensgericht liegt.

In Wirklichkeit jedoch wird hier gleich die Debatte über die größte Gesellschaftsreform der jüngeren Vergangenheit fortgeführt. Reporter.lu hatte im vergangenen Jahr über den Fall berichtet. Im Rahmen der Trennung von Kirche und Staat wurden die etwa 200 Kirchenfabriken des Landes abgeschafft und ihr Eigentum in einen neu gegründeten Kirchenfonds überführt. Dies geschah nicht ohne Widerstand, wie die laufenden Auseinandersetzungen, die bis vor das Verfassungsgericht gehen, zeigen.

Die Plädoyers an jenem Morgen im Friedensgericht sind ein weiteres Puzzleteil in einem juristischen und ideologischen Kampf um Säkularisierung und um die Finanzierung der katholischen Kirche. Die Anwälte überbieten sich in philosophischen Exkursen über Eigentum und Enteignung, über Staatsformen, Verfassungsgrundsätze und Menschenrechte. Und auch Napoleon spielt wieder eine Rolle.

Das mag befremdlich wirken, im kleinen Sitzungssaal des Friedensgerichts. Und dennoch gehören solche Auseinandersetzungen genau dorthin. Schließlich verbergen sich auch hinter großen politischen Debatten immer wieder die kleinen, ganz persönlichen Geschichten, bei denen es „menschelt“.