„Wenn es dem Land gut geht, soll es auch den Menschen gut gehen“: Das neue Motto der Regierung bringt das luxemburgische Selbstverständnis auf den Punkt. Solange die Wirtschaft brummt, gibt es keinen Grund zur Sorge. Wer sich nicht mit freut, ist selber schuld. Eine Analyse.
„Langfristig sind wir alle tot“: Der berühmte Satz des Ökonomen John Maynard Keynes ist nicht nur unter Fachleuten ein geflügeltes Wort. Keine Theorie der Volkswirtschaft ist als ideelle Grundlage moderner Politik allgegenwärtiger als der Keynesianismus. Sie besagt unter anderem, dass der Staat in Krisenzeiten die Nachfrage steigern muss. Das geschieht in der Regel durch öffentliche Investitionen oder Steuersenkungen. Langfristig sind wir zwar alle tot, kurzfristig ist dafür aber einiges möglich.
Auch in Luxemburg ist Keynes in aller politischer Munde – zumindest der plakative Kern seiner Theorie. Das Ziel der Politik ist die wirtschaftliche Stabilität, die Stimulierung der Kaufkraft, die Vollbeschäftigung und das Aufrechterhalten hoher sozialer Standards. Der Staat vertraut nicht allein auf die Kräfte des Marktes, sondern kann die Nachfrage regulieren und damit Konjunkturschwankungen ausgleichen. An dieser Stelle endet aber schon der keynesianische Ansatz. Denn nicht nur Politiker in Luxemburg haben Keynes nicht ganz zu Ende gelesen.
Von der Theorie zur politischen Praxis
So politisch nachvollziehbar nämlich die eine Seite der berühmten volkswirtschaftlichen Theorie ist – höhere Ausgaben, um die Krise nicht noch zu verschärfen – so ungewöhnlich bis politisch unangenehm scheint die Kehrseite der Medaille. Denn im Sinne der antizyklischen Finanz- und Wirtschaftspolitik nach Keynes, hat der Staat in Zeiten des Wirtschaftsbooms andere Aufgaben, nämlich: die Nachfrage entsprechend zu dämpfen, eine Überhitzung der Konjunktur zu verhindern und im besten Fall in Voraussicht der nächsten Krise die Staatsschulden zu senken.
Luxemburgs Politik in wirtschaftlich guten Zeiten ist also ein bisschen so wie an Weihnachten in einer wohlhabenden Familie. Selbst wenn man eigentlich alles hat und sich nichts erwartet, wird man reichlich beschenkt.“
In der politischen Praxis hält sich aber kaum eine Regierung an das keynesianische Ideal. Viele Staaten häufen auch im Aufschwung neue Schulden an, andere fahren besonders in Krisenzeiten einen harten Sparkurs. In Luxemburg gilt dagegen seit Jahrzehnten die Praxis, dass unabhängig von der Konjunktur genügend Geld vorhanden ist, damit der Staat immer mehr ausgeben kann.
Auch die aktuelle Regierung will sich dieser finanzpolitischen Tradition nicht entziehen. Im Rückblick handelte sie zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode aber durchaus antizyklisch. Auch wenn die Erwartungen der Koalitionäre anders waren: Nach der Finanzkrise zog die Konjunktur ab 2013 wieder an. Die ansatzweise Konsolidierung des Haushalts im Zuge von „Zukunftspak“ und Steuererhöhungen kam – theoretisch – durchaus zur richtigen Zeit. Sobald die Regierung merkte, dass es dem Land wirtschaftlich wieder besser ging, wurde der „Sparkurs“ aber schon wieder gestoppt.
Das Ende der finanziellen Zurückhaltung
„Wenn es dem Land gut geht, soll es auch den Menschen gut gehen“: Das ist die neue Maxime, an die sich DP, LSAP und Déi Gréng seit der Steuerreform von 2016 strikt halten. Politisch durchaus attraktiv, wirtschaftstheoretisch allerdings ein eigenwilliger Kurs. Denn das antizyklische Motto müsste eigentlich heißen: Wenn es dem Land gut geht, müssen wir dafür sorgen, dass es den Menschen auch noch gut geht, wenn es dem Land wieder schlechter geht.
Keiner soll zu den Verlierern ihrer Politik gehören, heißt es mittlerweile von den Regierenden. Jeder weiß aber, dass dieses Versprechen auf Dauer nicht einlösbar ist.“
Dabei war die Dreierkoalition ursprünglich mit genau diesem Anspruch einer generationengerechten Politik angetreten. „Méi mat manner“, „Gouverner c’est prévoir“, „das Land dauerhaft krisenfest machen“, lautete der Anspruch von Premier Xavier Bettel in seiner ersten Regierungserklärung 2014. Bald schon wurde das rigide finanzpolitische Motto aber angepasst. „Méi mat méi“, „Gouverner c’est distribuer“, die Menschen dauerhaft am Aufschwung teilhaben lassen, heißt es bis heute.
Die schwer kritisierbare Kurzsichtigkeit
„Wenn es dem Land gut geht…“ Die Kritiker dieses Glaubenssatzes haben es freilich schwer. Wer kann schon etwas dagegen haben, dass der Staat sich um das Wohlbefinden seiner Bürger bemüht? Dass er konsequent seine finanziellen Spielräume nutzt, um die Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Sozialstaat stetig zu steigern? Dass er meistens gegen Ende einer Legislaturperiode auch noch genügend Geld für Steuersenkungen oder gezielte Wahlgeschenke übrig hat?
Das einzige Problem an dieser finanzpolitischen Ausrichtung könnte ihre Kurzsichtigkeit sein. Denn sie beantwortet nicht die Frage, wie es den Menschen gehen wird, wenn es dem Staat finanziell wieder schlechter gehen sollte. So absurd oder schwarzmalend ist diese Perspektive aber nicht. Die letzte Finanzkrise mitsamt Rezession und rasantem Anstieg der Staatsschulden ist erst wenige Jahre her. Und anders als vor der Krise werden die angehäuften Schulden nicht so schnell und ohne Weiteres verschwinden.
Zudem nährt diese Politik bei den Bürgern die Hoffnungen auf eine grenzenlose Großzügigkeit des Staates. Keiner soll zu den Verlierern ihrer Politik gehören, heißt es mittlerweile von den Regierenden. Jeder weiß aber, dass dieses Versprechen auf Dauer nicht einlösbar ist. Allen voran die heutige Koalition, deren prominentesten Vertreter ihren Vorgängern immer genau dies – eine kurzsichtige Politik mit der Gießkanne – vorgeworfen haben.
Erfolgsmodell „op Lëtzebuergesch“
Verfolgt man die heutige Argumentation der blau-rot-grünen Koalition, könnte man fast meinen, dass sie ein politisches Zaubermittel gefunden hat. Luxemburg, dieses kleine Paradies, das Kapitalismus und Wohlfahrtstaat miteinander versöhnt. Luxemburg, dieser ökonomische und politische Musterschüler, der ohne soziale Konflikte auskommt und dessen Regierung einfach nur Gutes für ihr Volk tun will.
Dabei ist das Erfolgsmodell alles andere als neu. Es beruht nach wie vor auf einer wirtschaftlichen Dynamik, die mehr als in anderen Staaten von der internationalen Konjunktur beeinflusst wird – in guten wie in schlechten Zeiten. Das liegt wiederum daran, dass Luxemburgs Modell auf der Ausnutzung von Wettbewerbsnischen fußt. Oder einfacher: Das luxemburgische Modell funktioniert nur auf Kosten anderer. Nennt man es nun „Steueroase“ oder intelligente, vorausschauende Nischenpolitik eines Kleinstaates – die Auswirkungen des luxemburgischen Geschäftsmodells bleiben die gleichen.
Der anhaltende Boom des Finanzplatzes erklärt zwar nicht die ganze Dynamik dieses Modells, schon gar nicht über eine längere Entwicklung. Doch ohne die politisch hofierte Finanzbranche, die knapp ein Drittel der nationalen Wirtschaftskraft ausmacht, wäre die Verteilungsmasse des Staates um einiges kleiner. Bei einem Einbruch der durch Banken, Versicherungen, Fonds und anderen Beteiligungsgesellschaften maßgeblich angetriebenen wirtschaftlichen Entwicklung hätte Luxemburg jedenfalls ein Problem, das nicht mehr mit kleinen budgetären Anpassungen zu lösen wäre. Die Abhängigkeit vom Finanzplatz bleibt Luxemburgs Achillesferse.
Risse in der Wohlstandsfassade
Doch auch an anderer Stelle stößt das Wachstumsmodell immer mehr an seine Grenzen. Die oberflächliche Wachstumsdebatte aus dem Wahlkampf hat sich zwar mittlerweile wieder verflüchtigt. Doch die Begleiterscheinungen des auf dauerhaftem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum aufbauenden luxemburgischen Modells werden nicht kleiner. Dabei wirkt sich allein der Bedarf an staatlichen Investitionen in Infrastrukturen freilich auch auf die finanzielle Situation aus.
Die Hoffnung auf dauerhaftes Wachstum geht stets mit der Verpflichtung eines spendierfreudigen Staates einher. Luxemburg ist dazu verdammt, dass es immer, immer weiter geht.“
Es ist jedenfalls nicht so, dass die Regierung nur aus Überzeugung und Liebe zu ihrem Volk die Investitionen steigert. Um mit dem wirtschaftlichen und demografischen Wachstum ansatzweise mitzuhalten, hat der Staat gar keine andere Wahl, als seine Ausgaben in diesen Bereichen von Jahr zu Jahr aufzustocken. Die Hoffnung auf dauerhaftes Wachstum geht stets mit der Verpflichtung eines spendierfreudigen Staates einher. Luxemburg ist dazu verdammt, dass es immer, immer weiter geht.
Gleiches gilt für die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Luxemburgs Modell funktioniert nur, weil die Politik seit jeher darauf achtet, dass der geschaffene Wohlstand auch ansatzweise verteilt wird. Auch der „soziale Frieden“, der nicht zuletzt als Argument für die Ansiedlung von ausländischen Unternehmen dient, muss erhalten und finanziert werden. Und doch zeigt die rezente Entwicklung von Löhnen und Eigentumsverhältnissen am Wohnungsmarkt, dass Luxemburg bei der Schere zwischen Arm und Reich die Gesetze des Kapitalismus dann doch nicht komplett außer Kraft setzen kann. Nicht jeder kann sich den Eintritt in das kleine Paradies leisten.
Das Primat der politischen Interessen
Spätestens an dieser Stelle wird jedoch klar, dass die Politik dann doch nicht nur durch wirtschaftliche Interessen determiniert ist. Die finanz- und wirtschaftspolitische Ausrichtung der Regierung (und ihrer Vorgänger) ist nicht zuletzt durch kurzfristige politische Interessen begründet. „Wenn es dem Land gut geht, soll es auch den Menschen gut gehen“ – und darunter ganz besonders den wahlberechtigten Luxemburgern.
Nur durch diese besondere Luxemburger Situation sind denn auch gewisse finanzielle Akzente des Staates zu erklären. Warum brauchte es 2016 etwa unbedingt eine Steuerreform, bei der sogar Bürger, die 20.000 Euro im Monat verdienen, noch entlastet wurden? Warum erhält jeder Staatsbeamte ab dem kommenden Jahr, unabhängig von seinem Gehalt eine Erhöhung seiner Essenszulage um 60 Euro pro Monat? Warum soll der „Gratis“-Transport als „soziale Maßnahme“ eingeführt werden, wenn man das Geld auch ganz gezielt und exklusiv sozial schwachen Menschen zugute kommen lassen könnte?
Luxemburgs Politik in wirtschaftlich guten Zeiten ist also ein bisschen so wie an Weihnachten in einer wohlhabenden Familie. Selbst wenn man eigentlich alles hat und sich nichts erwartet, wird man reichlich beschenkt. Kurzfristig wird man sich als Teil der privilegierten Gewinner des Systems darüber wohl auch nicht beschweren. Mittelfristig beschleicht einen vielleicht hin und wieder die Frage, ob die Bescherung der eigenen Kinder, Enkel und Urenkel wohl auch noch so üppig ausfallen wird. Ja, und langfristig hat John Maynard Keynes natürlich immer noch Recht.