Die Gemeinde Diekirch braucht dringend eine neue Kindertagesstätte. Ein Bauherr wurde mit Hilfe einer öffentlichen Ausschreibung gefunden. Die Prozedur, die sich hinter dem Projekt verbirgt, wirft jedoch gleich in mehrerer Hinsicht Fragen auf.
„Meiner Meinung nach wurde hier die Gesetzgebung umgangen“, sagt Thibault Chevrier. Der Rechtsanwalt spricht von einer öffentlichen Ausschreibung, die die Gemeinde Diekirch am 2. Juli 2018 im „Luxemburger Wort“ veröffentlicht hatte. Der „Appel d’offre“ betraf den Bau einer neuen Maison Relais, die Platz für rund 300 Kinder bereitstellen soll.
Sowohl der Schöffenrat als auch die Opposition waren sich einig, dass die Gemeinde eine zusätzliche Kindertagesstätte dringend braucht. Das Problem ist demnach nicht der Bau selbst, der nun im alten Internat „Pensionnat Notre-Dame de Lourdes“ angefangen hat. Sondern die Vorgehensweise, die sich dahinter verbirgt.
Zwei Bürger haben Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht. Sie wehren sich zwar nicht gegen die Renovierung des Internats, sondern gegen den Bau, der direkt neben der künftigen Maison Relais gebaut werden soll.* Einer von ihnen wandte sich außerdem an den Anwalt Thibault Chevrier, um ein Gutachten zum Fall der Ausschreibung erstellen zu lassen. Letzterer kam zu dem Ergebnis, dass die Vorgehensweise nicht mit der nationalen Gesetzgebung konform sei.
Ausschreibung war „lückenhaft“
In dem Gutachten, das REPORTER vorliegt, bezeichnet der Anwalt die Ausschreibung der Gemeinde als „lückenhaft“. Er beruft sich auf die großherzogliche Verordnung vom 8. April 2018, die vorschreibt, welche Punkte eine öffentliche Ausschreibung beinhalten muss: Es müssen unter anderem der Arbeitsumfang, das Anfangsdatum des Projektes sowie die voraussichtliche Dauer der Arbeiten aufgelistet werden. Außerdem eine Schätzung, wie viel das Projekt kosten wird. Alles Angaben, die in der Ausschreibung der Gemeinde Diekirch fehlen.

Doch nicht nur der Inhalt der Ausschreibung war unvollständig. Die Gemeinde hielt sich zudem nicht an die vorgeschriebenen Prozeduren. Der Bau der Maison Relais hätte nämlich neben einer Ausschreibung in der Presse auch auf der Plattform Portail des Marchés Publics und beim „Office des Publications“ der Europäischen Union veröffentlicht werden müssen. Auf beiden Seiten ist die Anzeige nicht zu finden.
Kostet ein Projekt nämlich mehr als rund eine Million Euro, ist eine Veröffentlichung auf dem „Portail des Marchés Publics“ verpflichtend. Auf europäischer Ebene ist dies der Fall für Projekte, die 5,5 Millionen Euro übersteigen.
Zwei „Formfehler“, keine Konsequenzen
Laut Konvention zwischen Bauherr und Gemeinde wird sich die voraussichtliche Investition in die künftige Maison Relais auf rund 15.9 Millionen Euro belaufen. Diese Konvention wurde im Februar diesen Jahres unterschrieben. Für Thibault Chevrier steht aber fest, dass man den Preis auch schon vorher hätte abschätzen können.
„Zwischen der Ausschreibung vom Juli 2018 und der Unterzeichnung des Vertrags im Juni 2019 zwischen Gemeinde und Anbieter liegt ein Jahr. Die Gemeinde kann nicht argumentieren, dass sie jetzt erst vom Kostenpunkt erfahren hat“, so Thibault Chevrier. Bei einer Maison Relais für 300 Kinder und den anstehenden Renovierungsarbeiten im alten Internat könne jeder Auftraggeber im Vorfeld die Kosten in etwa abschätzen.
Wir kontrollieren zwar die Ausschreibungen. Es ist allerdings keine leichte Aufgabe.“Ein Jurist des Innenministeriums
Das Innenministerium gibt dem Anwalt in seiner Kritik in gewisser Weise recht. Die „lückenhafte“ Ausschreibung und das Fehlen der Ausschreibung auf dem „Portail des Marchés Publics“ seien „Formfehler“ gewesen, heißt es dort auf Nachfrage von REPORTER. „Wir kontrollieren zwar die Ausschreibungen. Es ist allerdings keine leichte Aufgabe“, so ein Jurist des Ministeriums. „Es gibt nicht viele Möglichkeiten, um gegen Formfehler vorzugehen – außer die Annullierung eines Projektes. Und das hätte weitreichende Konsequenzen.“
Kurz: Die Gemeinde hat zweimal einen Fehler gemacht. Folgen wird das aber laut Innenministerium keine haben. Jetzt ist es am Verwaltungsgericht, zu entscheiden, wie diese Fehler zu bewerten sind.
Wenige Grundstücke in der Nähe der Schule
In diesem Fall stellt sich allerdings die Frage, ob es tatsächlich Formfehler waren. Oder, ob die Gemeinde absichtlich so gehandelt hat, wie es einige Kritiker der Entscheidung vermuten.
Schon beim Lesen der Ausschreibung fällt auf, dass die Gemeinde den Interessenten eine vergleichsweise kurze Meldefrist für ein solch umfangreiches Projekt gab. 19 Kalendertage, also bis zum 21. Juli 2019, hatten die Bewerber Zeit, um ihre Dossiers einzureichen. Dabei sollen sich laut Bürgermeister Claude Haagen (LSAP) zwei Interessenten gemeldet haben. Einer telefonisch. Einer hat ein Dossier eingereicht – und das wurde auch zurückbehalten. Es war das Angebot einer Firma deren Besitzer später die Immobilienagentur MR Diekirch gründeten.
Und nur dieses Angebot kam letztlich auch infrage. Denn der Immobilienagentur gehören das einzige Gebäude und die beiden einzigen Grundstücke, die in Diekirch unter den Bedingungen, die die Gemeinde in ihrer Ausschreibung stellt, überhaupt infrage kommen. Nicht nur sollen dort 300 Kinder untergebracht werden, das Gebäude soll laut „Appel d’offre“ auch in der Nähe der Schule an der Place des Ecoles liegen und der Bauherr des Projektes soll außerdem auch Grundstückbesitzer sein.
Ein Blick auf die Onlineplattform „Geoportail“ zeigt, dass in Diekirch unter diesen Bedingungen nur ein Grundstück infrage kommt: das des denkmalgeschützten Pensionnat Notre-Dame de Lourdes in der rue de l‘Hopital. Das gehörte erst den Schwestern der „Doctrine Chrétienne“ – der Verkauf an die Immobilienagentur MR Diekirch wurde erst im September 2019 per notariellem Akt besiegelt.
Ausschreibung zumindest ungewöhnlich
Für Thibault Chevrier sind diese Punkte alles andere als „harmlos“, wie er schreibt. Der „Appel d’offre“ erwecke den Eindruck, als sei das Projekt auf einen Anbieter zugeschnitten worden. Im Normalfall wird eine Ausschreibung von einer Verwaltung, einer Gemeinde oder dem Staat veröffentlicht, damit mehrere Privatunternehmen um die Projekte konkurrieren können. Am Ende wird das attraktivste Projekt zurückbehalten. Zumindest theoretisch.
Ungewöhnlich ist auch der Vertrag, der zwischen der Gemeinde und dem Grundstückbesitzer abgeschlossen wurde. Es ist ein Mietvertrag mit Kaufoption. „Dass eine Gemeinde eine Ausschreibung für ein bestimmtes Objekt veröffentlicht, ist nicht außergewöhnlich“, so ein Jurist aus dem Innenministerium. „Das Gesetz verlangt zwar unterschiedliche Angebote, die in Konkurrenz zueinander stehen. In der Realität wird das aber nicht immer umgesetzt.“
Der Beamte sagt aber auch: „In der Regel übernimmt die Gemeinde dann nach Vertragsabschluss sofort das Grundstück oder das Gebäude.“ Fälle, wie den in Diekirch habe er noch nicht oft gesehen, so der Jurist weiter.
Tatsächlich überlegte Bürgermeister Claude Haagen bereits vor der Ausschreibung, das alte Internat in eine Kindertagesstätte umzubauen. Sechs Monate vor der „Appel d’offre“ reichte er eine Anfrage für eine mögliche Maison Relais im Pensionnat Notre-Dame de Loudres beim Bildungsministerium ein. Die Idee wurde vom Ministerium am 8. Januar 2018 gutgeheißen.
Ein Mieter mit Mitspracherecht
Für Thibault Chevrier ist jedoch der Vertrag zwischen Gemeinde und Immobilienagentur problematischer. „Entweder man ist im Besitz eines Gebäudes oder eines Grundstücks und stellt eine öffentliche Ausschreibung für Arbeiten auf diesem Grundstück auf. Oder man mietet als Gemeinde ein Gebäude. Dann braucht es allerdings gar keinen „Appel d’offre“, weil einem das Gebäude ja nicht gehört.“
Will heißen: Die Gemeinde ist weder im Besitz des Grundstücks noch des darauf stehenden Pensionnats Notre-Dame de Lourdes. Sie will es nach der Fertigstellung erst einmal nur mieten.
Die Gemeinde kann nicht argumentieren, dass sie jetzt erst vom Kostenpunkt erfahren hat.“Rechtsanwalt Thibault Chevrier
Dennoch will sie in die Arbeiten und in die Ausführung des Projektes miteinbezogen werden. Das geht aus dem Gemeindeblatt „Den Deiwelselter“ hervor: „La société s’engage à soumettre dans les meilleurs delais à l’Administration communale les plans approuvés par le Ministère ayant dans ses attributions les dossiers relatifs aux Maisons Relais.“ Dieses Abkommen zwischen der Immobilienagentur und der Gemeinde wurde bereits am 19. Februar 2019 beschlossen.
Kritik erntete das Projekt bei den Bürgern von Diekirch auch deswegen, weil direkt neben der Maison Relais auch eine große Seniorenresidenz entstehen soll. Dieses Projekt wird von der Seniorenresidenz Diekirch Sarl errichtet – die Geschäftsführer und die wirtschaftlichen Eigentümer sind diesselben Personen wie jene der MR Diekirch Sarl.
Zu beiden Fällen stellte sich Bürgermeister Claude Haagen Mitte Oktober den Fragen des Gemeinderates. Er führte seine Argumentation für beide Projekte aus – Widerstand von der Opposition gab es kaum.
Fall Köln: Stadt verstößt gegen Europarecht
Für Thibault Chevrier ist dieses Vorgehen keine Kleinigkeit. Er verweist auf einen ähnlichen Fall, der sich in Köln ereignet hatte. Die Verantwortlichen der Stadt hatten im Jahr 2004 mit einem privaten Investor einen Vertrag abgeschlossen, nach dem dieser vier Messehallen für die Stadt errichten und später an sie vermieten sollte.
Die Stadt verpflichtete sich zu einer Miete von insgesamt 600 Millionen Euro über einen Zeitraum von 30 Jahren. Doch sie verstieß mit diesem Vorhaben gegen Europarecht. Der Europäische Gerichtshof urteilte im Jahr 2009, dass die Ausschreibung für den Bau der Hallen europaweit hätte ausgeschrieben werden müssen.
Die Stadt argumentierte, es habe sich nicht um einen Bau-, sondern um einen Mietvertrag gehandelt. Für den Gerichtshof war dies allerdings kein stichhaltiges Argument. Die Richter erklärten, das vorrangige Ziel des Vertrags sei eindeutig die Errichtung der Messehallen für die Stadt gewesen. Es habe sich demnach nie um einen einfachen Mietvertrag gehandelt.
2005 nahm die Kölner Staatsanwaltschaft wegen Verdacht auf Veruntreuung öffentlicher Gelder Ermittlungen gegen den damaligen Oberbürgermeister auf. Der Vorwurf: Mit dem Vertrag sollen überhöhte Zahlungsverpflichtungen eingegangen worden sein. Im April 2007 wurde das Verfahren jedoch eingestellt.
*Korrektur: In einer ersten Version hieß es, dass zwei Bürger beim Verwaltungsgericht Klage eingereicht haben. Im ersten Text ging allerdings nicht hervor, dass die Bürger nicht gegen die Renovierung der Maison Relais, sondern gegen den Bau einer Seniorenresidenz direkt nebenan einschreiten wollten.
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