Bei der Causa Özil geht es um weit mehr als nur Fußball und ein Foto mit Erdogan. Der Fall ist symptomatisch für das verkrampfte Verhältnis Deutschlands mit seinen Einwanderern und den andauernden Rechtsruck im Land. Eine Analyse.

Ich erinnere mich noch gut an die Grundschulzeit. Eine Kleinstadt in Niedersachsen, bei weitem kein Einwanderungsbrennpunkt, ein durchschnittlicher Bevölkerungsanteil an Deutschtürken. Schräg gegenüber der Schule gab es einen Dönerimbiss, in Bahnhofsnähe eine kleine Moschee, die jedoch nie auffiel. Zu unserer Schulklasse gehörten zwei Kinder aus türkischstämmigen Familien, die für den Rest der Schüler schlicht „die Türken“ waren. Im Deutschunterricht hatten die beiden manchmal Schwierigkeiten mit den Artikeln und wurden dafür ausgelacht. Auf dem Schulhof spielten sie meist mit den anderen Kindern, die ebenfalls einen türkischen Hintergrund hatten.

War das Abschottung, gar ein Zeichen von mangelnder Integration? War es eine Form von Trotz oder war es eher der Wunsch nach Halt im vertrauten Umfeld und eine Flucht vor Diskriminierung? Was sich im Kleinen seit Jahrzehnten auf deutschen Schulhöfen abspielt, gehört zur selben Symptomatik wie die aktuelle Affäre um Mesut Özil, die in den vergangenen Tagen wie kein anderes Thema Kommentatoren in den deutschsprachigen Medien beschäftigt.

Özils Foto mit dem türkischen Präsidenten, das letztendlich im türkischen AKP-Wahlkampf zum Einsatz kam, lässt sich durchaus kritisieren. Der Rücktritt des Fußballers aus dem deutschen Nationalteam sagt jedoch vor allem etwas über Deutschlands verkrampften Umgang mit seinen Einwanderern aus – selbst jenen, die lange noch als kickende Nationalhelden und Vorbilder in Sachen Integration galten.

Das fehlende Zugehörigkeitsgefühl

Gerade türkischstämmige Deutsche wie Özil, dessen Familie aus der türkischen Schwarzmeerregion stammt, haben auch nach mehr als fünfzig Jahren oft das Gefühl, nicht wirklich dazugehören zu dürfen. Die Geschichte der seit den 1960er Jahren als angeworbene Arbeitskräfte in Deutschland lebenden Türken ist gespickt von zunächst regelrechter Ausbeutung, manchmal von Demütigung und von vielen verpassten Chancen. Integrationsstrategien gab es lange Zeit gar nicht, stattdessen war die deutsche Politik lange der Ansicht, dass die Anatolier schon wieder irgendwann zurück in ihre Heimat reisen würden.

Nun ist Integration natürlich keine Einbahnstraße, sodass Diskriminierung und ein mangelnder Integrationswille sich besonders in Hinblick auf die Deutschtürken stets gegenseitig verstärken.

Zurzeit zeigt sich in der öffentlichen Debatte jedenfalls immer mehr, wie brüchig das Bild der “Multikulti-Nation” Deutschland ist. Da gibt es etwa die leidige “Der Islam gehört (nicht) zu Deutschland”-Debatte, das fast protesthafte Wahlverhalten der Deutschtürken, die mehrheitlich für “ihren Präsidenten” Erdogan stimmen, und auf der anderen Seite die nunmehr vollständige Abkehr von der flüchtlingsfreundlichen Politik unter Horst Seehofers Regie. Viele sehen die Errungenschaften Deutschlands auf dem Weg zu einer multikulturellen Nation, in der Vielfalt hochgehalten wird, akut bedroht.

Der Beweis des „Deutschseins“

Vor allem seit dem Rechtsruck in den letzten Jahren scheinen Einwanderer und deren Kinder immer wieder ihr Deutschsein unter Beweis stellen zu müssen. Mesut Özil wurde in der Vergangenheit etwa immer wieder angehängt, dass er die deutsche Nationalhymne nicht mitsinge. Nach derselben Logik gedacht, führte das Porträt mit Erdogan bei vielen zu dem Schluss: Der ist keiner von uns. Dabei hätte noch vor wenigen Jahren kaum jemand etwas zu dem Foto gesagt – erst das schwierige Verhältnis Deutschlands zur türkischen Regierung machte das Bild zum Politikum.

Mesut Özil, der 1984 im nordrhein-westfälischen Gelsenkirchen zur Welt kam, drückte es in seiner Erklärung mit einer Reihe von Fragen aus: “Gibt es Kriterien, um ein ganzer Deutscher zu sein, denen ich nicht gerecht werde? Meine Freunde Lukas Podolski und Miroslav Klose werden nie als Deutsch-Polen bezeichnet, also warum bin ich Deutsch-Türke? Ist es so, weil es um die Türkei geht? Ist es, weil ich ein Moslem bin?” Er schreibt auch von den vielen Hassbriefen und Anfeindungen, die er und seine Familie erhalten haben.

Reaktionen aus der Türkei

Schaut man in die Türkei, so ist die Özil-Debatte für viele türkische Politiker ein weiterer Beweis für den steigenden Rassismus in Deutschland, den man schon nach den verhängten Redeverboten für türkische Minister im Wahlkampf diagnostiziert hatte. So titelte ein Kommentar in der Tageszeitung “Hürriyet” über Özil: “Wenn Deutschland gewinnt ist er Deutscher, wenn es verliert ist er Einwanderer! Solch eine Heuchelei gibt es nicht nochmal!”

In der osttürkischen Stadt Malatya entschied man sich aus Solidarität mit dem Profifußballer derweil prompt, einen Sportplatz nach Mesut Özil zu benennen. Der örtliche AKP-Abgeordnete Ahmet Çakır ließ bei seiner Eröffnungsrede verlauten: “Hier sehen wir mal wieder die Doppelzüngigkeit Europas. Wir sprechen von jenem Europa, dass uns stets Unterricht in Menschlichkeit und Demokratie gibt. Der Fall Mesut Özil hat wirklich alle unsere Herzen verletzt.” In Devrek, der Heimatstadt von Özils Eltern, wurde das Foto von Özil und Erdogan großformatig ausgedruckt und in die dort befindliche Mesut-Özil-Straße gehängt.

Erkut Ayvaz hingegen sieht Özils Rückzug aus dem DFB als Warnsignal für Deutschland. In der “Sabah” schrieb der Politikwissenschaftler: “Mesut Özils Erklärungen haben der Einwanderungsbevölkerung in Deutschland Selbstbewusstsein gegeben. (…) Jedoch ist die Möglichkeit, dem institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus in Deutschland entgegenzutreten angesichts der zunehmend nach rechts rückenden Mainstream-Politik und dem Populismus der Medien sehr begrenzt. Es sollte zu erwarten sein, dass Deutschland diese durch Özils Erklärung gewonnene historische Gelegenheit, welche es im NSU-Prozess versäumt hat, wahrnimmt und gut beurteilt.”

Man muss freilich nicht mit dieser Position einverstanden sein. Fest steht jedoch, dass der Fall Özil nicht ohne Folgen für das ohnehin getrübte Bild eines toleranten und multikulturellen Deutschlands bleiben wird.