Ein Teamarzt missbrauchte in den USA Hunderte Kunstturnerinnen. Der Skandal lenkt den Blick auf die weitverbreiteten Missstände in diesem Leistungssport. Ein System von exzessivem Training und Unterdrückung ab frühester Kindheit machte solche Übergriffe möglich.
Es sind die Turnweltmeisterschaften 2011 in Tokio. Die Amerikanerin McKaila Maroney steht vor dem Sprung. Ihr Mund ist zusammengekniffen, ihr Paradegerät hat sie fest im Blick. Sie nimmt Anlauf, drückt sich mit den Händen ab, katapultiert sich in einen Salto und dreht sich dabei zweieinhalb Mal um die eigene Achse. Sie landet im Stand und holt sich dabei den Weltmeistertitel, wird umjubelt und gefeiert. Nichts lässt erahnen, dass sie in der Nacht zuvor von ihrem Teamarzt sexuell belästigt wurde. „Ich dachte, ich sterbe“, erzählt sie Jahre später der „New York Times“.
Die Geschehnisse der Nacht waren kein Einzelfall. Seit sie 13 war, vergriff sich Larry Nasser an ihr. Ihren Teamkolleginnen ging es ebenso. Sie gewannen Weltmeisterschaften und Olympia-Titel, ihre Gesichter prangten auf Cornflakes-Packungen und Plakaten. Gleichzeitig fielen sie der Person zum Opfer, die ihnen eigentlich helfen sollte. Über drei Jahrzehnte lang belästigte Larry Nasser mehrere Hundert Athletinnen. „Behandlung“ nannte er die sexuellen Übergriffe. An manchen Kindern vergriff er sich Hunderte Male. Manche waren keine zehn Jahre alt, als Nasser sie das erste Mal anfasste.
Die Strukturen hinter dem Skandal
2016 wurde der Skandal öffentlich, ein Jahr später folgte der Prozess: 175 Jahre Haft lautete das Urteil. Spätestens seit der Netflix-Doku „Athlete A“ ist das Ausmaß von Larry Nassers Verbrechen weltweit bekannt.
In der Turnwelt allerdings nimmt der Fall des pädophilen Arztes noch größere Dimensionen an: Nasser ist kein Einzelfall. Dass er sich jahrelang an Mädchen vergreifen konnte, überrascht bei näherem Blick nicht. Die Bedingungen, unter denen Eliteturnerinnen trainieren – in den USA und anderswo – machten Nassers Vergehen erst möglich.
Es ist eine Welt, in der Mädchen in engen Turnanzügen rund 30 Stunden die Woche in stickigen Turnhallen mit zumeist männlichen Trainern verbringen. In der sie lernen, blind zu gehorchen und nicht einmal dann zu widersprechen, wenn sie mit Knochenbrüchen trainieren. In der bis heute Trainingsmethoden angewendet werden, die unter den diktatorischen Regimes Osteuropas entwickelt wurden. Nun aber wehren sich Turnerinnen weltweit gegen dieses Klima der Unterdrückung.
„Train them young“
„Bestenfalls ist Frauenturnen – eigentlich Teenager-Turnen – niedlich und süß. Schlimmstenfalls ist es eine subtile Form von Kindesmissbrauch“, schreibt 1992 der Journalist der „New York Times“, Dave Andersson. Anders als in anderen Sportarten sind viele der weltbesten Turnerinnen Kinder. Dass die jungen Athletinnen scheinbar mühelos durch die Luft wirbeln und Saltos auf zehn Zentimeter breiten Balken turnen, ist das Ergebnis harter Arbeit. Statt einer „normalen“ Kindheit absolvieren sie stundenlange Trainingseinheiten.
Das war nicht immer so. Ursprünglich war der Sport Ausdruck von Eleganz und Weiblichkeit. Es turnten emanzipierte Frauen mit weiblichen Rundungen. Die tschechische Olympionikin Vera Caslavska mit blond-toupiertem Haar und selbstbewusstem Auftreten protestierte 1968 etwa öffentlich gegen die sowjetische Invasion ihres Landes. Mit dem fortschreitenden Fokus auf Akrobatik wurden jedoch aus Frauen Mädchen. 1972 dominierte die 17-jährige sowjetische Turnerin Olga Korbut die Olympischen Spiele. Mit rosigen Wangen und zwei blonden Pferdeschwänzen wirkte sie wie ein Kind. Die Rumänin Nadia Comaneci war 14, als sie wenige Jahre später als erste Turnerin, die für den Sport so richtungsweisende perfekte 10 turnte. Perfektion lautete ab da das Ziel.
Auf einmal waren da erwachsene Männer, die 10-jährige Mädchen rumschubsten und beleidigten.“Turnerin Claire Heaffort
Doch das Zeitfenster ist klein, in dem die Turnerinnen die immer anspruchsvolleren Übungen meistern können: „Mit 20 ist man geriatrisch“, schreibt etwa Turnerin Dominique Moceanu in ihrer Biografie. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und die Pubertät – sind Saltos und Co. mit weiblichen Rundungen doch viel schwerer auszuführen. So wird versucht, die Periode durch übertriebenes Training und konstantes Untergewicht hinauszuzögern. Ermüdungsbrüche und Entwicklungsstörungen sind Spätfolgen.
Soldatinnen in Turnanzügen
Spätestens seit Comaneci traten statt Frauen kleine, leichte, flachbrüstige Mädchen mit bandagierten Sprunggelenken und gesenkten Blicken in Wettkämpfen an. Der rumänische Trainer Bela Karolyi etwa rekrutierte seine Sportlerinnen aus Kindergärten und Schulen und steckte sie in Trainingscamps, in denen er die volle Kontrolle über die Kinder übernahm.
Vor dem Hintergrund der politischen Spannungen zwischen Ost und West wurden Kinder zu Soldatinnen, die die Überlegenheit des kommunistischen Regimes demonstrieren sollten. Ihr Training: gnadenlos. Das Klima: eins von Angst und Gewalt. Jeder Wackler, jeder Fehler wurde bestraft. „Ich weiß 24/7, was meine Turnerinnen machen. Was sie essen, wann sie schlafen. Ich habe die Macht darüber, was mit den Kindern passiert“, betonte Karolyi in Interviews. Ein weiterer Trainer drückt es folgendermaßen aus: „Eine Turnerin fragt nicht. Sie tut, was man ihr sagt“.

Die mit der perfekten Zehn zur rumänischen Nationalheldin avancierte Comaneci versuchte kurz nach den Olympischen Spielen 1976 sich das Leben zu nehmen. „Im Krankenhaus war ich erleichtert, dass ich nicht zum Training musste“, sagte sie 1990 dem „Life Magazine“. Als die sowjetische Olympionikin Elena Mukhina sich 1980 das Rückgrat brach, war ihr erster Gedanke: „Gott sei Dank muss ich nicht zur Olympiade.“
„Das war Disziplin“
Mit dem Zerfall der kommunistischen Regimes etablierten sich die osteuropäischen Trainer im Westen. Sie brachten die Expertise, die es braucht, um Siegerinnen zu formen, und gaben ihr Wissen an die heimischen Trainer weiter. Doch dazu gehörten auch die brutalen Trainingsmethoden. Ein Untersuchungsbericht der rumänischen Polizei, der 2005 freigegeben wurde, beschreibt etwa, wie die Trainer die Turnerinnen unter dem Ceausescu-Regime geradezu „vernichteten“, schlugen und beschimpften. Mit der Überzeugung: Nur diese Methoden führen zum Erfolg.
Wie konnte ich glücklich sein, wenn ich nicht perfekt genug war?“Turnerin Dominique Moceanu
„Auf einmal waren da erwachsene Männer, die 10-jährige Mädchen rumschubsten und beleidigten“, erinnerte sich die britische Turnerin Claire Heaffort im Interview mit „Sky News“. „Sie ignorierten uns, schrien uns an, überwachten unser Gewicht. Ganz gleich, was wir machten, es war nicht gut genug.“ Ähnlich beschreibt es die Turnerin Jennifer Sey im Buch „Chalked Up“: „Wir mussten aussehen wie Mädchen, turnen wie Roboter und uns benehmen wie Erwachsene.“
In den USA schufen die „Macher der perfekten Zehn“, Marta und Bela Karolyi jenes Klima, das die Übergriffe Nassers erst ermöglichte. Die Erfolge, die die US-amerikanischen Turnerinnen unter ihnen verzeichnen, legitimierten die Beschimpfungen, Demütigungen und das exzessive Training. „Das Klima galt nicht als Missbrauch “, so die ehemalige Turnerin Kristie Philipps in „Little Girls in Pretty Boxes“. „Das war Disziplin. Und wir haben gewonnen.“
Dass es rund 30 Jahre dauerte, bis der Missbrauchsskandal um Nasser ans Licht kam, liegt auch daran, dass die Verantwortlichen die Hinweise ignorierten. Nasser half schließlich, Medaillen zu holen.
Nährboden für Missbrauch
Die Trainer gaben in Interviews sogar mit ihren Methoden an. „Ich kann einem Mädchen so lange einreden, sie sei gesund, wie ich sie brauche“, erzählte zum Beispiel der US-Coach Steve Nunno 1995 der „Sports Illustrated“.
Die brachialen Trainingsmethoden machten Mädchen zu Siegerinnen, doch hinterließen sie eine Spur gebrochener Körper und Seelen. „Wir sahen aus wie alte Menschen, wenn wir mit unseren Ice-Packs umher humpelten. Für ein Lachen, einen Klaps auf den Kopf machten wir alles“, schreibt die Amerikanerin Dominique Moceanu in „Off Balance“. Sie konnte sich nicht einmal freuen, als sie mit 13 Weltmeisterin wurde. „Wie konnte ich glücklich sein, wenn ich nicht perfekt genug war?“
Ein solches Machtungleichgewicht zwischen jungen Mädchen und ihren oft männlichen Trainern schafft ein Klima von Unterwürfigkeit und Dominanz. Die Sportwissenschaftlerin Georgia Cervin schreibt im 2020 veröffentlichten „Women’s Artistic Gymnastics“ von einem potenziellen Nährboden für Missbrauch. Kunstturnen wurde somit zum Gegensatz von Emanzipation: Unterwürfigkeit und Folgsamkeit bestimmen das Leben der Athletinnen. Sie erbringen Hochleistungen, katapultieren sich hoch in die Lüfte und haben dabei ihre Bewegungen vollkommen unter Kontrolle. Über ihr Leben jedoch bestimmen andere.
Kultur des Schweigens
„Wir lebten in Angst. Wir konnten nichts sagen“, beschreibt es ein US-Teammitglied im Podcast „30 for 30“. „Inmitten all dieser Erwachsenen, vor denen ich mich fürchtete, war Larry der Einzige, der nett war“, sagt die frühere Turnerin Mattie Larson bei seinem Prozess aus.
Doch mit dem Skandal um Nasser scheint diese Mauer des Schweigens langsam zu zerbröckeln. Seitdem die Übergriffe durch den Teamarzt ans Licht kamen, haben sich in den USA über 500 Athletinnen zu Wort gemeldet. In Interviews, Dokumentarfilmen und Podcasts erzählen sie ihre Geschichten. Manchen wird jetzt erst bewusst, dass sie Opfer sexueller Gewalt waren und dass die Bedingungen, unter denen sie trainierten, nicht „normal“ waren.
Wie viele Athletinnen haben wir verloren, weil wir zu schnell, zu viel von ihnen gefordert haben?“Trainerin Aimee Boorman
Mit dem Erscheinen des Dokumentarfilms „Athlete A“ hat eine Emanzipationswelle den Turnsport überrollt. Ob in Australien, Großbritannien oder den Niederlanden: Weltweit berichten Turnerinnen von physischer und psychischer Gewalt und prangern jene Trainer an, die sie tagtäglich beleidigten und beschimpften. Die britische Nachwuchsturnerin Catherine Lyons etwa machte öffentlich, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, nachdem sie jahrelang von ihren Trainern geschlagen wurde. Die Australierin Chloe Gilliard wollte sich das Leben nehmen, da sie ihr Gewicht nicht halten konnte.
Das System verändern
Inzwischen richteten mehrere Länder unabhängige Kommissionen ein, um die Trainingsbedingungen im Eliteturnen zu untersuchen. Die Niederlande haben ihr Eliteprogramm auf Eis gelegt.
Dass es auch andere Wege zum Erfolg gibt, zeigt auch die US-Amerikanerin Simone Biles. Sie gilt als größtes Talent der Turngeschichte, hat inzwischen mehr Medaillen angehäuft als je eine Turnerin zuvor. Ihre langjährige Trainerin lässt sie ihr Training mitgestalten, achtet auf Verletzungen und die mentale Verfassung ihrer Sportlerinnen. „Ich will, dass sie ein Leben außerhalb der Turnhalle hat“, so Aimee Boorman in einem rezenten Interview. „Wie viele Athletinnen haben wir verloren, weil wir zu schnell, zu viel von ihnen gefordert haben?“
Simone Biles und ihre Trainerin nutzen ihre Popularität, um Athletinnen dazu zu ermutigen, das Schweigen zu brechen. Das lässt hoffen, dass es sich bei der #MeToo-Bewegung um Nasser und „Athlete A“ nicht nur um eine profitorientierte Ausschlachtung eines Skandals handelt.
Sondern um eine Bewegung, die das Machtgefüge langsam zugunsten der Athletinnen zurecht rückt. Eine Bewegung, die die Kultur des Sports verändern kann. Und dazu führt, dass die nächste Weltmeisterin vor ihrem Sprung nicht erst ausblenden muss, was ihr über die Jahre angetan wurde.