Der Prozess um die mutmaßliche Veruntreuung in Hesperingen läutet ein neues Kapitel in der Aufarbeitung ein. Wie die Millionensumme verschwinden konnte, ist für die Opposition noch nicht ausreichend geklärt. Bürgermeister Marc Lies sieht sich nicht im Fehler.
Die Überraschung war für Marc Lies wahrscheinlich nicht gerade so groß als für andere Mitglieder des Gemeinderats. Im Juni 2019 erfuhr der CSV-Abgeordnete und Bürgermeister von Hesperingen durch Beamte, dass ein Mitarbeiter wohl über längere Zeit Gelder der Gemeinde veruntreut habe. Claude G. war ihm nämlich bereits negativ aufgefallen. Bei dem Beamten habe „das Budget nie mit dem übereingestimmt, was vorher beschlossen worden war“, sagte Marc Lies vor drei Monaten im Gespräch mit Reporter.lu. Als Finanzschöffe waren ihm diese Fehler bereits 2007 aufgefallen.
Eine seiner ersten Amtshandlungen als Bürgermeister bestand 2009 dann darin, die Buchführung der Gemeinde zu reformieren. In den Finanzen der Kommune kehrte in der Folge tatsächlich für drei Jahre Ruhe ein. Aber dann fand Claude G. einen Komplizen. Gemeinsam mit Jean-Paul F. konnte seine Masche fortgeführt werden. Das geht aus dem Disziplinarverfahren gegen den Gemeindebeamten hervor. Reporter.lu hatte im Oktober über die Hintergründe der Affäre berichtet.
Die Frage, warum es unter Claude G. stets zu Unstimmigkeiten beim Budget kam, stellte damals offenbar kein Politiker. Er habe nicht geahnt, was der wahre Grund für diese Auffälligkeiten sei, so Marc Lies. Im Frühjahr 2019 erinnerte sich der Bürgermeister wahrscheinlich an diese eine Episode. Verantwortung für mögliche Versäumnisse musste er bisher nicht übernehmen. Das liegt auch daran, dass das Interesse an einer politischen Aufarbeitung der Affäre bisher eher gering war.
Die Salami-Taktik des Bürgermeisters
„Der Schöffenrat hat nie versucht, die ganze Affäre aufzuarbeiten“, sagt Gemeinderatsmitglied Roland Tex (Déi Gréng) im Gespräch mit Reporter.lu. Zu Beginn informierte der Bürgermeister den Gemeinderat noch über den Vorfall und stellte das Dossier mit den Aussagen der Zeugen vor dem Regierungskommissar zur Verfügung. Später sei das Handeln des Schöffenrats zunehmend intransparenter geworden.
„Wir waren nett mit dem Schöffenrat, weil man uns Transparenz versprochen hat“, sagt die LSAP-Rätin Rita Velazquez im Gespräch mit Reporter.lu. Die Opposition, bestehend aus den Grünen, der DP und der LSAP, ist in ihren Forderungen für die Aufarbeitung der Affäre geeint. Die CSV hat in der siebtgrößten Gemeinde des Landes aber die absolute Mehrheit und kann deshalb über das Niveau an Transparenz entscheiden.
Wenn sich herausstellen sollte, dass die mutmaßliche Veruntreuung durch einen Mangel an politischer Kontrolle möglich wurde, dann werden wir auch die Frage der politischen Verantwortung stellen.“Oppositionsrat Claude Lamberty (DP)
Der Kurswechsel des Schöffenrats begann bereits im Dezember 2019, nachdem die Gemeinde im Juni Anzeige erstattet hatte. Im Auftrag des Bürgermeisters erstellte die Auditfirma „PwC“ einen Bericht zu den Unstimmigkeiten im Kommunalbudget. Der Gemeinderat wurde darüber nicht informiert. Nicht nur das: Die Ergebnisse des Audits wurden zudem geheim gehalten, sodass den Politikern die Möglichkeit verwehrt blieb, öffentlich Position zu beziehen. „Das hinterlässt das Gefühl, dass der Schöffenrat etwas zu verbergen hat“, sagt Claude Lamberty, DP-Abgeordneter und Oppositionsrat in Hesperingen, im Gespräch mit Reporter.lu.
Über neue Entwicklungen erfuhr die Opposition seitdem eher durch Zufall. Dass einer der Angeklagten – Jeannot D., ein lokaler Unternehmer – mutmaßlich veruntreutes Geld zuzüglich Zinsen zurück an die Gemeinde überwies, wurde in einer Sitzung des kommunalen Finanzausschusses nur am Rande erwähnt. „Das stand als letzter Punkt bei den Einnahmen. Nur auf Nachfrage wurde mir erklärt, was es damit auf sich hat“, sagt Gemeinderatsmitglied Rita Velazquez. Das ist nur eines von vielen Beispielen. Marc Lies dementiert dies. Während einer Gemeinderatssitzung wäre den lokalen Politikern ein Brief von Jeannot D. mit Belegen vorgelegt worden mit einer Entschuldigung des Beschuldigten.
Schwindendes Vertrauen in Marc Lies
Der Bürgermeister hat es offenbar auch versäumt, die Mitglieder des Gemeinderats darüber zu informieren, wann der Prozess gegen die beiden ehemaligen Beamten und den lokalen Unternehmer stattfinden soll. Während einer Gemeinderatssitzung am vergangenen 12. Dezember erklärte er, er habe die offiziellen Prozesstermine erst zwei Wochen zuvor erfahren. Dabei hatte die Pressestelle der Justiz Reporter.lu bereits im Oktober mitgeteilt, dass der Prozess Mitte Januar beginnen werde.
Auch verlor Marc Lies kein Wort darüber, dass ein weiterer Prozess gegen die Gemeinde läuft. Die Organisation „Stop Corrupt“ klagte nämlich vor dem Verwaltungsgericht gegen die Gemeinde und forderte die Veröffentlichung des PwC-Audits. Die Verhandlungen sind abgeschlossen und das Urteil steht noch aus – doch darüber wurde der Gemeinderat nicht informiert. Dabei handelt es sich eigentlich um ein übliches Vorgehen in Kommunen, Gemeinderäte über laufende Verfahren gegen die Gemeinde in Kenntnis zu setzen.
Marc Lies bleibt seiner Verteidigungslinie indes treu. Die Affäre werde nun vor Gericht verhandelt und es sei an diesem, ein Urteil zu fällen. Was gäbe es während eines laufenden Verfahrens noch zu kommunizieren, fragte der Bürgermeister in der erwähnten Gemeinderatssitzung. Allerdings sind die Untersuchungen bereits abgeschlossen, der Schöffenrat hatte also durchaus die Möglichkeit, den Gemeinderat über das Ergebnis der Ermittlungen zu informieren. Nur der Wille fehlt.
Die Hoffnung auf Aufklärung beruht nun allein auf dem viertägigen Prozess, dessen erste Sitzung für den 18. Januar angesetzt ist. Die Gemeinde Hesperingen tritt in dem Verfahren als Zivilpartei auf.
Zweites Audit gefordert
„Das Erstellen eines Budgets und dessen Kontrolle ist die Aufgabe der Politik. Da die beschuldigten Beamten sich jedoch an die Regeln der öffentlichen Ausschreibung hielten, konnte das nicht auffallen“, sagte Marc Lies vor drei Monaten gegenüber Reporter.lu. Damit sei die Frage der politischen Verantwortung für ihn geklärt. Ganz so einfach will die Opposition es dem Bürgermeister allerdings nicht machen.
Ich würde mich freuen, wenn diese Affäre nicht noch weiter ausgeschlachtet wird, denn der Schöffenrat hat seine Aufgaben erfüllt.“Bürgermeister Marc Lies (CSV)
„Wenn sich beim Prozess herausstellen sollte, dass die mutmaßliche Veruntreuung durch einen Mangel an politischer Kontrolle möglich wurde, dann werden wir auch die Frage der politischen Verantwortung stellen“, sagt Claude Lamberty. Für den DP-Politiker geht es dabei auch um die Rolle seiner eigenen Partei. Zwar stellte diese nie den Bürgermeister oder Finanzschöffen, aber die Liberalen waren über einen langen Zeitraum der Vorkommnisse in einer Koalition mit der CSV. Claude Lamberty geht es jedoch um mehr: „Wir müssen das Vertrauen der Bürger in die Politik wieder stärken und das geht nur durch Transparenz.“
Demnach sind alle drei Oppositionsparteien sich einig, dass ein zweites Audit nötig sei. Das erste Audit habe nur dazu gedient, die Lücken in der Kontrolle zu schließen, nicht jedoch die Affäre aufzuklären. Der gesamte Zeitraum des mutmaßlichen Betrugs sollte in einem zweiten Audit erfasst und auch das außerordentliche Budget untersucht werden, fordert Grünen-Politiker Roland Tex. Zudem müssten die Ergebnisse veröffentlicht werden, betonen die Oppositionspolitiker. Vor den Wahlen im Juni ist ein solches Audit jedoch kaum machbar.
Der Bürgermeister will am liebsten nicht mehr darüber reden. „Ich würde mich freuen, wenn diese Affäre nicht noch weiter ausgeschlachtet wird, denn der Schöffenrat hat seine Aufgaben erfüllt“, so Marc Lies während der Ratssitzung Ende vergangenen Jahres. Ob sein Wunsch in Erfüllung geht, hängt nach dem Prozess von der Opposition ab. Kurz vor den Wahlen ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Déi Gréng, LSAP und DP weiter „nett“ mit den CSV-Politikern umgehen werden.
Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version wurde für die erste Amtshandlung von Marc Lies das Jahr 2012 genannt. Tatsächlich war es aber 2009. Die Aussagen von Marc Lies zum Fall von Jeannot D. wurden ergänzt.
