Innerhalb von wenigen Wochen sind Tausende Menschen aus der Ukraine nach Luxemburg geflüchtet. Die Behörden reagieren flexibler als bei früheren Krisen. Doch die bereits vor dem Krieg ausgelasteten Aufnahmestrukturen drohen schnell an ihre Grenzen zu stoßen. 

„Auch wenn die Sonne noch so schön ist. Dieser Frühling ist nicht für mich“, sagt Alisa S. Sie sitzt auf der Terrasse eines Lokals auf der Place d’Armes. Vor ihr steht eine Tasse Kaffee und ein Aprikosensaft für ihre Tochter Anja, die unter dem Tisch ihre Spielkonsole bedient.

Erzählt Alisa S. von ihrer Flucht aus der Ukraine, hält sie manchmal für einige Sekunden inne und lässt den Blick in die Ferne schweifen. Sie spricht über ihre Lieblingspizzeria in Kiew und darüber, wie herausgeputzt in Luxemburg-Stadt alles ist im Gegensatz zur dynamischen ukrainischen Hauptstadt. Dort in ihrem Viertel Podil hat rezent ein Marschflugkörper der russischen Armee ein Einkaufszentrum in Schutt und Asche gelegt. „Und das nur, weil irgendein Idiot ein Foto mit Flugabwehrbatterien auf dem Dach des Zentrums auf Telegram gepostet hat“, so Alisa S.

Die Redakteurin für eine Lern-App ist eine stolze alleinerziehende Mutter, die sich noch bis vor ein paar Wochen nicht vorstellen konnte, dass ihr Leben sich so drastisch verändern könnte. „Ich fühle mich, wie aus einem Foto herausgeschnitten und hier auf eine Pappfigur geklebt und aufgestellt“, meint die Mittdreißigerin.

3.606 Schutzsuchende, 3.606 Schicksale

Dabei hatte sie verhältnismäßig noch Glück. Sie lässt keine Familie in Kiew zurück und ihre Mutter lebt im Westen der Ukraine, wo die russische Invasion noch nicht angekommen ist. Ihre Firma hatte Busse zur Verfügung gestellt, um ihre Angestellten in Sicherheit zu bringen. Einige blieben im Westen der Ukraine, Alisa S. und ihre Tochter Anja reisten über Rumänien nach Luxemburg, wo eine Studienfreundin und deren luxemburgischer Freund sie aufnahmen.

Die Vermittlung mit den luxemburgischen Familien kommt viel zu langsam voran. Die Menschen wollen und müssen aber raus aus diesen Strukturen.“Marianna Pogosova, „LUkraine“

Alisa S. und ihre Tochter sind zwei von insgesamt 3.606 Geflüchteten aus der Ukraine, die bis zum 23. März in Luxemburg ein temporäres Schutzstatut beantragt haben. „Dies ist bei Weitem die größte Welle, die Luxemburg bis jetzt zu meistern hatte“, meint Sergio Ferreira von der „Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés“ (ASTI) im Gespräch mit Reporter.lu. „Die meisten Flüchtlinge, die Luxemburg bis jetzt in einem Jahr aufnahm, kamen 1999 nach den Balkankriegen. Das waren damals um die 3.000.“

Erste Anzeichen von Überforderung

Demnach sind die Folgen des Ukrainekrieges auch für Luxemburg ein Szenario, das bis jetzt noch nie da war. Entsprechend unübersichtlich ist die Lage in puncto Unterbringung und langfristige Perspektiven für die betroffenen Menschen.

Allerdings gibt es bereits deutliche Anzeichen, dass die Ankunft der vielen Geflüchteten Luxemburgs Behörden überfordert. Das zeigt etwa die regelrechte Evakuierung der sogenannten „Dublin-Fälle“ aus der „Structure d’hébergement d’urgence Kirchberg“ (SHUK) in die Räumlichkeiten der „Wanteraktioun“ (WAK) in Findel. „Damit haben wir faktisch zwei Kategorien von Flüchtlingen geschaffen“, sagt Catherine Warin von der Flüchtlingshilfsorganisation „Passerell“ gegenüber Reporter.lu.

Die Vereinigung freue sich zwar über den schnellen und unbürokratischen Empfang der Geflüchteten aus der Ukraine, warnt aber vor Problemen, wenn man die Menschen so auseinanderdividiert, so die Anwältin weiter. Zudem würden in diesen Tagen auch Versäumnisse der Vergangenheit sichtbar. „Den ‚Dublin-Fällen‘ in der SHUK war allen ein Ausgehverbot nach 20 Uhr auferlegt. In der WAK ist dies nun nicht mehr der Fall. Da stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und der legalen Basis einer solchen Maßnahme, wenn sie so schnell obsolet werden kann“, sagt Catherine Warin.

Weitere Zahlen zeigen das Ausmaß der Flüchtlingswelle, die nun auch in Luxemburg angekommen ist: Momentan machen die ukrainischen Flüchtlinge 87,9 Prozent der Menschen aus, die in den Strukturen des „Office National de l’Accueil“ (ONA) aufgenommen wurden. Das sind 1.228 Personen. Das heißt aber auch, dass 2.378 Geflüchtete bereits bei Privatleuten untergekommen sind.

Schleppende Vermittlung von Gastfamilien

Das Rote Kreuz geht von zehn Familien pro Woche aus, die auf diese Weise vermittelt werden. Ziel sei es, auf 25 pro Woche zu kommen, so der Sprecher der „Croix-Rouge luxembourgeoise“, Vincent Ruck, im Gespräch mit Reporter.lu. Man arbeite daran, die Dossiers schneller zu bearbeiten und mehr Mittel aufzuwenden. Es gebe jedenfalls noch mehr luxemburgische Gastfamilien, die ihre Hilfe angeboten hätten.

Bevor die Menschen zu den Gastfamilien kommen, bleiben sie jedoch in den Strukturen des ONA. Dies sind die SHUK, die Halle 7 der „Luxexpo“ in Kirchberg sowie 16 weitere Notunterkünfte,  unter anderem in Hotels und Jugendherbergen, im ganzen Land. Dazu gehören etwa das Kulturzentrum in der Gemeinde Contern und ein Campingplatz in Ettelbrück, die vom ONA an das Rote Kreuz oder an die Caritas outgesourct wurden.

In der SHUK in Kirchberg finden ukrainische Geflüchtete eine provisorische Unterkunft. Die „Dublin-Fälle“, die zuvor hier lebten, wurden in der „Wanteraktioun“ untergebracht.  (Foto: Mike Zenari)

Die Bedingungen in diesen Strukturen sind jedoch nicht ideal: „Es gibt dort keine Intimität. Die Familien leben eingepfercht zwischen improvisierten Wänden. Und auch die Essensqualität ist schlecht“, erzählt Marianna Pogosova, Flüchtlingskoordinatorin der Vereinigung „LUkraine ASBL“, die in der Krise an vorderster Front mithilft, im Gespräch mit Reporter.lu. „LUkraine“ wird von ukrainischen Auswanderern betrieben, die nun helfen, ihre Landsleute in Sicherheit zu bringen.

Auch über die Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz beschwert sich Marianna Pogosova: „Da geht oft niemand ans Telefon. Die Vermittlung mit den luxemburgischen Familien kommt viel zu langsam voran. Die Menschen wollen und müssen aber raus aus diesen Strukturen.“

Die Risiken der schnellen Aufnahme

Warum der Prozess so langsam vorangeht, erklärt Vincent Ruck vom Roten Kreuz: „In einer ersten Phase brauchen die Menschen natürlich ihr temporäres Schutzstatut. Darum kümmert sich das Ministerium, wir helfen da bloß aus. Dann kontaktieren wir die potenziellen Gastfamilien, die ein Onlineformular ausgefüllt haben. Unsere Sozialarbeiter führen persönliche Gespräche und sehen sich die Häuser oder Wohnungen an. Das ist sehr wichtig, um zu verhindern, dass wir Familien an Menschen weitergeben, deren erstes Interesse eben nicht Altruismus und Humanismus ist.“

Zu den anderen Interessen kann im schlimmsten Fall auch Menschenhandel gehören. Dass dieses Risiko besteht, zumal wenn so viele Frauen und Kinder unter den Geflüchteten sind, wurde in Luxemburg noch nicht groß thematisiert. Der Polizei seien zurzeit keine Fälle bekannt, sagt ein Sprecher gegenüber Reporter.lu. Man überprüfe aber sämtliche Antragsteller in Bezug auf Meldungen in internationalen Datenbanken. Das Außenministerium verwies bei Nachfrage auf das Justizministerium, das in Kürze zum Thema kommunizieren werde.

Die Aufnahmefamilien, die es durch das Screening geschafft haben, bekommen anschließend noch 24 Stunden Bedenkzeit: „Wir machen ihnen klar, was es heißt, mit einer fremden, traumatisierten Familie zu leben. Auch, dass wir nicht wissen, wie lange diese Menschen bei ihnen bleiben. Wir wollen vor allem den Geflüchteten ersparen, dauernd von einem Ort zum andern geschoben zu werden“, sagt Vincent Ruck vom Roten Kreuz.

Mehr Budget, mehr Anstrengungen

Dabei könnte es sein, dass die bisher im Land untergebrachten Familien erst der Anfang sind. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) sind seit Kriegsbeginn 3,6 Millionen Menschen aus der Ukraine ins Ausland geflohen. Angesichts der Anzahl von Menschen, die bereits hierzulande in den Notunterkünften untergebracht sind, wird der Druck sich in den kommenden Wochen wohl noch weiter erhöhen und die luxemburgische Infrastruktur auf die Probe stellen.

Die Aufnahmestrukturen, wie hier die SHUK, sind schnell ausgelastet. Mehr als 3.600 ukrainische Geflüchtete haben bereits in Luxemburg ein temporäres Schutzstatut beantragt. (Foto: MAEE/ONA)

Trotzdem ist es nicht so, dass sich bei Luxemburgs Strukturen seit dem Bürgerkrieg in Syrien nichts verändert hätte. Das Außenministerium hat seine Kapazitäten zur Unterbringung von Geflüchteten verdoppelt – von 2.000 auf 4.000 Betten. Aber auch dieses Limit könnte schnell erreicht sein. „Weil die Kapazitäten schon vor der Ukrainekrise ausgelastet waren, musste in kürzester Zeit ein paralleles System für die vom Krieg betroffenen Menschen aufgebaut werden“, so ein Sprecher des Ministeriums von Jean Asselborn (LSAP). Außerdem habe das ONA bereits ein höheres Budget beziehungsweise das reguläre Überschreiten der Kreditlinie aus dem Staatsbudget beantragt. Das Budget 2022 beläuft sich auf über 89 Millionen Euro.

Fraglich bleibt aber noch, ob die große Solidarität, die der ukrainischen Bevölkerung auch aus Luxemburg entgegengebracht wird, irgendwann abflachen wird. „Die Politik und die Zivilgesellschaft müssen alles daran setzen, trotz aller Emotionen rational zu bleiben und langfristige Lösungen für alle Geflüchteten zu suchen“, betont Sergio Ferreira von der ASTI. Er verweist ausdrücklich auch auf die nicht-ukrainischen Geflüchteten, die nun in der „Wanteraktioun“ sitzen und nur sehr schwierig Zugang zum Wohnungsmarkt finden können.

Die offene Frage der Integration

Schnelle Hilfe und Solidarität sind das eine, eine wirkliche Perspektive auf Integration das andere. Das sieht auch Alisa S. so. In Kürze soll ihr und ihrer Tochter eine kleine Wohnung in Esch/Alzette zur Verfügung gestellt werden, in der sie bis Juni bleiben können. Wie es dann weitergehen soll, weiß die Ukrainerin noch nicht: „Es ist ein Dilemma. Ich könnte auf Distanz weiterarbeiten, aber das Geld wird niemals reichen, um in Luxemburg Fuß zu fassen.“ Auf Sozialhilfe will sie allerdings auch nicht angewiesen sein.

„Wer weiß, wie lange die Solidarität mit den Ukrainern in Luxemburg anhalten wird?“, sagt Alisa S. Wie viele ihrer Landsleute möchte sie nur eins: So schnell wie möglich zurück in ihre Heimat, auch wenn der Wiederaufbau nach den russischen Bombardements Jahre dauern wird – und zum jetzigen Zeitpunkt ein Ende des Krieges noch gar nicht abzusehen ist.