Unternehmen oder Privatpersonen setzen zunehmend auf missbräuchliche Gerichtsverfahren, um Medien oder Aktivisten einzuschüchtern. Die EU sagt nun sogenannten „SLAPP“-Klagen den Kampf an. Luxemburg sieht dagegen keinen eigenen Handlungsbedarf.
„Es ist ein Kampf von David gegen Goliath. Doch in einer Demokratie ist die Rolle der Journalisten, die Mächtigen zu kontrollieren, enorm wichtig“, sagte Vera Jourova, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, bei der Vorstellung der ersten Anti-SLAPP-Richtlinie am 27. April in Brüssel. „Das Package, das wir heute vorstellen, wird dazu beitragen, dass sie diese Rolle erfüllen können.“
Die Bekämpfung von sogenannten „SLAPP“-Klagen ist in der Tat eine Initiative, die seit Jahren von Journalisten- und Menschenrechtsorganisationen gefordert wird. SLAPP steht für „Strategic Lawsuits against Public Participation“. Der Begriff benennt ein seit Jahrzehnten auftretendes Phänomen, dessen Relevanz in vielen europäischen Staaten zunehmend deutlicher wird. Wenn Medien oder Aktivisten öffentlich Kritik an Firmen oder einflussreichen Persönlichkeiten äußern, besteht immer das Risiko einer Klage – meistens wegen vermeintlicher Diffamierung oder Geschäftsschädigung.
Eine SLAPP-Klage zeichnet sich durch ihre missbräuchlichen Absichten aus, wie auch EU-Justizkommissar Didier Reynders bei der Präsentation der Initiative betonte. „Diese Klagen verzögern oder verhindern die Veröffentlichung von Stellungnahmen zu Angelegenheiten im öffentlichen Interesse und belasten auch die Gerichte unnötig. Wir stellen jetzt die Instrumente zur Verfügung, die diese missbräuchliche Praxis eindämmen“, so der liberale belgische Politiker.
Hohe Kosten und andere Risiken
Konkret geht es den Klägern meistens nicht darum, am Ende einen Prozess zu gewinnen, sondern lediglich darum, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Wegen einer journalistischen Recherche oder gesellschaftlichem Aktivismus angeklagt zu werden, bedeutet für die Betroffenen nämlich vor allem, dass sie für die Kosten der eigenen Verteidigung in einem Gerichtsverfahren aufkommen müssen. Dabei sind die finanziellen Möglichkeiten in den meisten Fällen ungleich verteilt. Während die Kläger sich oft die besten Anwaltskanzleien leisten können, stehen die Angeklagten eher mit weniger Mitteln da.
Die eigentlichen Strafen bei solchen Prozeduren sind die Anwaltskosten und der Zeitaufwand.“Pierre Hurt, Rechtsanwalt
Die Verfahren können teilweise Jahre andauern, was an den Nerven zehrt und längerfristig zu Selbstzensur führen kann. „Wir haben keine Lust mehr auf Aktionen wie im Jahr 2019“, sagt zum Beispiel Marine Lefebvre, Kommunikationsbeauftragte von „SOS-Faim“, im Gespräch mit Reporter.lu. Die NGO hatte im Jahr 2019 vor der Aktionärsversammlung von „Socfin“ protestiert. Der in Luxemburg ansässige Palmöl- und Kautschukproduzent steht seit Langem im Fokus der Zivilgesellschaft – nicht nur wegen Umweltvergehen, sondern auch wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen und Korruption. Socfin gehört dem französischen Milliardär Vincent Bolloré und dem Belgier Hubert Fabri. Letzterer wurde 2018 wegen Korruption von einem belgischen Gericht schuldig gesprochen.
SOS-Faim und Mitglieder anderer internationaler NGOs hatten sich Aktien gekauft, um sich Zugang zu der Versammlung zu verschaffen. Dies gefiel nicht jedem: „Als ich unsere Aktion filmen wollte, wurde mir das Handy von einem Unbekannten aus der Hand geschlagen“, erinnert sich Marine Lefebvre. Anschließend kam die Klage wegen Diffamierung und Verletzung der Privatsphäre. SOS-Faim-Präsident Raymond Weber wurde persönlich verhört. Seitdem ist jedoch nichts mehr passiert. „Jedes weitere vergangene Jahr zehrt an unseren Ressourcen, zeitlich wie finanziell“, sagt Marine Lefebvre. „Wir als NGO wüssten sehr gerne, wo wir dran sind. Wir beobachten die neue EU-Richtlinie daher sehr genau.“
Klagen häufen sich in Luxemburg
„Die eigentlichen Strafen bei solchen Prozeduren sind die Anwaltskosten und der Zeitaufwand“, bestätigt der Rechtsanwalt Pierre Hurt gegenüber Reporter.lu. Für den Juristen, der auch NGOs gegen multinationale Konzerne vertritt, ist der Trick einfach: „Es geht darum, Organisationen oder Journalisten mundtot zu machen und sie im schlimmsten Fall zu ruinieren. Eine gute Verteidigung ist teuer und 50.000 Euro können einer Vereinigung das Genick brechen, nicht aber dem klagenden Unternehmen.“
Bisher war die Praxis in Luxemburg nicht so weit verbreitet wie in manchen anderen europäischen Staaten. Doch auch hierzulande häufen sich Prozesse gegen Journalisten und Herausgeber, in denen es den Klägern darum geht, unerwünschte Berichterstattung zu unterbinden. Von „Clearstream“ gegen den französischen Journalisten Denis Robert über die Prozesse von Gérard Lopez gegen den damaligen „Luxemburger Wort“-Redakteur Pierre Sorlut bis zum Versuch von Flavio Becca, Reporter.lu und die Journalistin Véronique Poujol wegen Recherchen zur Steueroptimierung des Geschäftsmanns einzuschüchtern, um nur einige der öffentlich bekannten Klagen zu erwähnen.
Ein Mord als Wendepunkt
SLAPP-Klagen sind zu einem Instrument der Reichen und Mächtigen geworden, um Gegner zum Schweigen zu bringen – und das europa- und weltweit. Dass die Europäische Kommission sich nun des Themas angenommen hat, liegt nicht zuletzt an einem besonders tragischen Fall: dem Mord an der maltesischen Investigativ-Journalistin Daphne Caruana Galizia im Jahre 2017.
Nach dem Attentat begab sich ein Team des „European Centre for Press & Media Freedom“ (ECPMF) nach Malta, um die Umstände genauer zu analysieren. Mit dabei war auch Flutura Kusari: „Wir haben festgestellt, dass Daphne Caruana Galizia vor ihrem Tod nicht nur eine, sondern gleich 47 Anklagen gegen sich laufen hatte. Das hatten wir so nicht erwartet und es kam uns komisch vor“, meint die Rechtsberaterin des ECPMF im Gespräch mit Reporter.lu. Das Zentrum begann daraufhin, andere Journalisten in ganz Europa zu kontaktieren und nachzufragen, ob und wie oft sie mit solchen Klagen zu kämpfen hatten. „Wir haben dann schnell verstanden, dass es sich dabei um ein grenzüberschreitendes Phänomen handelt“, so Flutura Kusari.
Zusammen mit 33 anderen NGOs tat sich das ECPMF zur „Case Coalition“ zusammen, einem Lobbynetzwerk, das sich dem Kampf gegen SLAPP-Klagen in Europa widmet. „Wir haben drei Prioritäten: SLAPPs dokumentieren, uns bei den EU-Institutionen für ein SLAPP-Verbot stark machen und Betroffenen Hilfe leisten – etwa indem wir ihre Anwaltskosten übernehmen oder ihnen die Miete zahlen“, erklärt Flutura Kusari. Dass das nicht immer einfach war, lag nicht nur an den EU-Institutionen, sondern auch an den Journalisten selbst: „Viele wollen gar nicht über ihre Fälle reden. Es ist ihnen peinlich und sie fürchten auch das Risiko, sich weiteren Angriffen auszusetzen, wenn sie öffentlich über die Klagen gegen sie sprechen.“
Kläger sollen Schadensersatz leisten
Um das Recht auf demokratische Teilhabe zu schützen, sind jedoch oft legale Schritte nötig. Die Arbeit der „Case Coalition“ stieß bei der Europäischen Kommission nicht auf taube Ohren. Vor allem die für Werte und Transparenz zuständige Vizepräsidentin der Kommission, Vera Jourova, setzte sich für die Belange der Medien und NGOs ein – und gab dem Sohn von Daphne Caruana Galizia sogar das Versprechen, SLAPP-Klagen in Europa zu verbieten.
In Luxemburg haben sich SLAPP-Klagen nach Zivil- und Handelsrecht noch nicht so ausgebreitet, wie es in anderen EU-Staaten der Fall ist.“Justizministerium
Was würde die Richtlinie verändern? Auf nationalem Niveau wenig bis nichts, da die EU-Kommission nicht über die Zuständigkeit verfügt, den Mitgliedstaaten vorzuschreiben, wie sie ihr Justizsystem zu organisieren haben. Die Richtlinie betrifft demnach nur grenzüberschreitende Fälle – nicht nur zwischen EU-Staaten, sie soll auch vor Einschüchterungsklagen aus Drittstaaten schützen. Damit wäre zumindest eine Praxis anvisiert, die vor allem multinationale Konzerne betreiben: das sogenannte „Forum Shopping“. Hier werden die Klagen gleichzeitig in mehreren Ländern an Gerichten eingereicht, welche die Anwaltskanzleien für besonders passend halten. Die Angeklagten müssen sich dann mit mehreren Prozessen gleichzeitig auseinandersetzen.
Vor allem aber sieht die vorgeschlagene Richtlinie vor, dass Gerichte Anträge von Angeklagten entgegennehmen können, die darauf hinweisen, dass die Anklage missbräuchlich ist und nur darauf abzielt, ihre Teilnahme am öffentlichen Diskurs zu verhindern. Geht ein solcher Antrag ein, könnten die Gerichte die Klage entweder sofort abweisen oder Fristen für die Ausübung des Rechts festlegen, die so kurz wie möglich sind. Außerdem wird empfohlen, solche Klagen nicht mehr straf- oder zivilrechtlich zu behandeln, sondern lediglich das Verwaltungsrecht anzuwenden.
Hinzu kommt: Wenn festgestellt würde, dass die Klage missbräuchlich – also eine SLAPP – war, müsste der Kläger sämtliche Kosten des Verfahrens zahlen und Schadensersatz leisten, auch für erlittene psychologische Schäden oder Krankheiten.
Justizministerium noch unschlüssig
Zumindest letztere Möglichkeit gibt es im luxemburgischen Gesetz bereits teilweise: „Es ist eine Möglichkeit, die wir von den Belgiern übernommen haben und die für jede Art Prozess gilt. Man kann sich seine Anwaltskosten als Schadenersatz erstatten lassen, falls festgestellt wird, dass die Klage übertrieben war. Das ist zumindest ein kleiner Trost“, erklärt der Rechtsanwalt Pierre Hurt.
Bisher haben nur drei EU-Staaten eine nationale Anti-SLAPP-Gesetzgebung in die Wege geleitet: Malta, Irland und Litauen. Luxemburgs Justizministerium will dagegen noch abwarten, wie die Richtlinie sich im Detail gestaltet. „In Luxemburg haben sich SLAPP-Klagen nach Zivil- und Handelsrecht noch nicht so ausgebreitet, wie es in anderen EU-Staaten der Fall ist“, so eine Sprecherin von Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng) auf Nachfrage von Reporter.lu.
Neben der Richtlinie hat die EU auch eine Reihe von Empfehlungen an die Mitgliedstaaten ausgegeben. Diese sind zwar nicht bindend, beinhalten aber durchaus sinnvolle Aspekte. Darunter fallen etwa Schulungen für Anwälte und potenzielle Opfer von SLAPP-Klagen, nationale Sensibilisierungskampagnen sowie die Erhebung von Daten zu unbegründeten oder missbräuchlichen Gerichtsverfahren. Zudem sollen die Mitgliedstaaten es ermöglichen, dass Opfer von solchen Einschüchterungsklagen kostenlose Unterstützung von Anwaltskanzleien erhalten können.
Eigene Initiativen zur Bekämpfung von SLAPP-Klagen stehen in Luxemburg nicht auf der Prioritätenliste. Das Ministerium setzt bis auf Weiteres auf eine „technische Analyse der Richtlinie, um zu entscheiden, ob es überhaupt notwendig ist, unsere nationale Gesetzgebung zu ergänzen“.