Charles Nosbusch ist manuell begabt, hat aber schwere Lernschwächen. Heute ist er 23 Jahre alt und besitzt das Statut des „Travailleur handicapé“. Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, wehrt er sich gegen Vorurteile, Schubladendenken und einen paternalistischen Staat.
„Ich wusste schon immer, dass ich anders bin. Doch im Unterschied zu früher, wehre ich mich heute nicht mehr dagegen.“ Im Gespräch mit Charles Nosbusch ist es relativ leicht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er spricht klar, hat feste Meinungen, ist reflektiert und selbstkritisch. Während er als Kind noch angestrengt versuchte, normal zu sein und es allen recht zu machen, hat er heute längst akzeptiert, dass seine Lernschwächen ihn schnell zu einem Außenseiter machen können. „Ich kenne meine Grenzen, weiß aber auch, was ich kann.“
Normal. Nicht normal. Das sind keine Kategorien, in denen der 23-Jährige denkt. Lieb und gemein, ehrlich und verlogen, gerecht und unfair sind eher jene Eigenschaftspaare, die er im Gespräch immer wieder benutzt. Zum Beispiel, wenn er über die Tiere spricht, mit denen er arbeitet. „Sie sind alle lieb, sie bellen nur, weil du da bist“, sagt er, als wir das Tierasyl in Schifflingen betreten. Und über die Beziehung zu seiner Freundin sagt er: „Sie meint es ehrlich mit mir, wir können gut reden, sie ist sehr lieb.“
Ich habe mich nicht erschaffen, aber ich kann versuchen, mich zu erziehen.“Charles Nosbusch
Charles Nosbusch ist anzumerken, dass Aufrichtigkeit für ihn keine Selbstverständlichkeit ist. Und dass er nicht träumt, sondern sein Leben aufbaut. Auch an die Liebe geht er – zumindest mittlerweile – mit einer ordentlichen Portion Pragmatismus heran. „Wir wollen beide nicht mehr den Stress, jemanden finden zu müssen. Und wir können gut miteinander reden. Wir werden für immer zusammenbleiben.“ Kein Stress, gut reden, für immer zusammen. So einfach kann es sein. Ein „Ja, aber“-Satz mit viel Konjunktiv ist nach dieser Bestimmtheit nicht mehr möglich. Das Thema ist abgeschlossen.
Das System, das behindert
Entschlossen klingt Charles Nosbusch auch, wenn er das politische System kritisiert. Für ihn ist mittlerweile klar: Nicht seine Behinderungen machen es ihm so schwer, seinen Weg zu gehen. Es ist das System, das ihn behindert. Das Schubladendenken der Verwaltungen, die Konformität der Gesellschaft und vor allem auch die paternalistische Haltung des Staates machen es ihm schwer, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber er ist fest entschlossen. Er wird es trotzdem schaffen. Trotz bitterer Rückschläge.
Richtig wütend macht ihn, dass Luxemburg sein Diplom als Hausmeistergehilfe nicht anerkennt, das er nach mehrjähriger Schul- und Ausbildungszeit in der Schweiz erworben hat. „Das ist so unfair“, sagt er und beißt sich auf die Unterlippe. „Das nervt mich so.“
Er möchte keine Almosen, keine Sozialhilfen, keine finanzielle Unterstützung. Er möchte arbeiten und für seine Arbeit anständig bezahlt werden. So, dass er davon leben und sich irgendwann eine eigene Wohnung kaufen kann.
Zwischen den Schubladen
Als Charles Nosbusch nach seiner Schulzeit nach Luxemburg zurückkam, stand für ihn außer Frage, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden. Alles andere wäre ein Rückschritt gewesen, schließlich hatte er eine Ausbildung abgeschlossen und ein Diplom in der Tasche. Doch schnell musste er erkennen, dass gutes Lesen und Schreiben, soziale Kompetenzen und Beständigkeit immer noch jene Eigenschaften sind, ohne die sich kaum Türen öffnen lassen. Trotz unterschiedlichster Kompetenzen und Begabungen.

Charles Nosbusch besitzt heute das Statut des „Travailleur handicapé“. Dieses bescheinigt ihm eine mindestens 30-prozentige Einschränkung der Erwerbsfähigkeit. Dafür kommt der Staat bei einer Anstellung zumindest teilweise für seine Gehaltszahlungen auf. Ist der Arbeitgeber eine sogenannte Behindertenwerkstatt, ein „Atelier protégé“, sogar vollständig. „Das ist doch irre“, sagt Charles Nosbusch dazu. „Anstatt mein Diplom anzuerkennen und mich normal arbeiten zu lassen, bezahlen sie mich jetzt.“ Diese Helferhaltung, der auch etwas Gönnerhaftes anhaftet, stößt ihm bitter auf.
Denn Charles Nosbusch arbeitet gerne. Er ist handwerklich begabt, kann gut mit Holz umgehen, kochen und gärtnern, versteht elektronische Kreisläufe, ist von Maschinen fasziniert und fährt gerne Auto, am liebsten schnell. Wichtig ist ihm die Abwechslung im Alltag. „Deshalb bin ich ja auch Hausmeister geworden“, sagt er.
Bei zu viel Druck, da platze ich.“Charles Nosbusch
Was ihm nicht so leicht fällt, sind klassische Schulkompetenzen wie Rechnen, Lesen und Schreiben. „Ich bin halt dys“, sagt er dazu. Doch unter Arbeitsbedingungen, die seinen Bedürfnissen angepasst sind, kann auch er trotz Dyslexie und Dyskalkulie lernen, immer flüssiger zu lesen, sicherer zu rechnen und mit weniger Fehlern zu schreiben. Er liest mittlerweile ganze Bücher, am liebsten alte Krimis. Sherlock Holmes und Agatha Christie sind seine Helden.
Schreibt er seinen Namen, dann muss er allerdings bei dem b in Nosbusch auch heute noch überlegen, ob der Bauch nun nach vorne oder nach hinten gehört. Hat er genug Zeit, dann muss das keine Einschränkung sein. Schwierig wird es jedoch, wenn er unter Druck gerät. Wenn eine Stresssituation entsteht, kann Charles die Kontrolle verlieren. Dann schreit er auch einmal herum, schmeißt seine Arbeitsutensilien zur Seite und hat von allem genug. Dann ergreift er am liebsten die Flucht.
„Lass mich in Ruhe. Ich kann mich nicht sechsteilen. Das wäre vielleicht witzig, aber es geht nicht. Kapiert?“, habe er neulich einem seiner Arbeitskollegen an den Kopf geworfen. Heute erzählt er von der Situation mit einem Grinsen. Der Kollege habe einfach zu viel auf einmal von ihm verlangt. „Bei zu viel Druck, da platze ich“, sagt er und zuckt mit den Achseln. So, als wolle er signalisieren, dass er seine Reaktion als angemessen empfindet, obwohl er weiß, dass sie das nicht ist. „Ich habe mich nicht erschaffen, aber ich kann versuchen, mich zu erziehen“, sagt er.
Das Zwischenmenschliche
„Ich probiere immer, mich weiterzuentwickeln. Ich will weiterkommen. Aber manche Dinge kann ich einfach nicht.“ Diese ehrliche Selbstreflexion wirkt entwaffnend. Für die Beispiele, die er anführt, liegen recht einfach umzusetzende Lösungen auf der Hand. Und dennoch scheint vieles in seinem Leben an zwischenmenschlichen Unstimmigkeiten, an Verständigungsproblemen gescheitert zu sein.
Da ist das Beispiel mit der neuen Maschine, die neulich zu dem Streit mit dem Kollegen geführt hatte: „Mir mit vielen Worten zu erklären, wie die funktioniert, das geht schief“, sagt er und betont, dass er die Sachen anfassen muss, um sie kennenzulernen und zu verstehen. Ausprobieren und dabei lernen. So funktioniert er.
Dank Leonardo da Vinci habe ich verstanden, dass „anders sein“ auch etwas Positives sein kann.“Charles Nosbusch
Anstatt ihm lang und breit zu erklären, wie er das Nassfutter anzurühren hat und wo der Topf steht, den er dazu verwenden soll, wünscht Charles Nosbusch sich, dass jemand es einfach mit ihm macht. Einmal, vielleicht auch zwei- oder dreimal. „Ich brauche keine Babysprache, aber ich brauche Klarheit und Wiederholung“, erklärt er. Die meisten Leute seien schon lieb hier im Tierasyl, aber so richtig anfangen könne keiner was mit ihm. Er tätschelt Tequila, einer Staffordshire-Terrierin, mit der er gerade spazieren geht, den Hals und fügt hinzu: „Und ich auch nicht mit ihnen.“
Charles Nosbusch findet Menschen – von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen – anstrengend. Deshalb hat er nun die Entscheidung getroffen, mit Tieren arbeiten zu wollen. So wenig Kontakt zu Menschen wie möglich, nur zu denen, die er sich selbst aussucht.
Sein Praktikum im Tierasyl in Schifflingen ist für ihn eine Art Bewährungsprobe, die – so hofft er – zu einem Sprungbrett wird. Schafft er es, das Praktikum durchzuziehen, verbessern sich sicher seine Chancen, einen Ausbildungsplatz zum Tierpfleger zu finden. Irgendwann einmal, da möchte Charles Nosbusch nicht mit Hunden und Katzen, sondern mit großen, wilden Tieren arbeiten, mit Alligatoren, Wölfen, Löwen oder Luchsen. Er möchte die Türen zu den Nationalparks in Amerika und in Afrika aufstoßen. Er muss zwar noch seine Freundin überzeugen, mitzukommen, ansonsten sieht er keine Hindernisse. „Überall gehen die Türen leichter auf als hier in Luxemburg“, sagt er. „In der Schweiz, zum Beispiel, da haben sie mich sofort hereingelassen.“
Umzug in die Schweiz
Dabei war es damals keine leichte Entscheidung, als er Luxemburg als Jugendlicher verließ und mit seiner Mutter in die Schweiz zog. Eine Entscheidung, die Charles Nosbusch nicht bereuen wird. „Meine Kindheit war schon schwierig“, sagt er, „in der Schweiz wurde es dann viel besser.“ Wenn er heute von seiner Kindheit spricht, wirkt er traurig und ist zwiegespalten. Einerseits hat er schöne Erinnerungen, wie etwa das gemeinsame Kochen und Handwerken mit seinem Vater. Auch seine Beschäftigung mit Leonardo da Vinci hat ihn als Kind in seinem Verständnis von der Welt geprägt. Dieser Universalgelehrte habe einen „Wow-Effekt“ in ihm ausgelöst. „Dank ihm habe ich verstanden, dass ‚anders sein‘ auch etwas Positives sein kann“, sagt er und beginnt von den Zeichnungen da Vincis zu schwärmen.

Andererseits mischt sich in seine Stimme Verbitterung, wenn er an seine Kindheit zurückdenkt. Besonders wenn er von seiner Schulzeit spricht, findet er nicht viele gute Erinnerungen.
„Ich habe zu viel gefragt, zu oft um Hilfe gebeten, die Lehrerin wohl genervt“, erzählt er. Aber er habe so wenig verstanden. Rechteck, Dreieck, Viereck, schon die Worte verwirrten. Das erste Diktat – das Heft kam knallrot zurück. Und wenn es der Lehrerin zu anstrengend mit ihm wurde, hat sie ihn auch schon einmal samt Tisch auf den Flur gestellt. „Sie war völlig überfordert“, erklärt er heute. Mehrere Male ist Charles Nosbusch weggelaufen. Den Weg nach Hause kannte er. Die Grundschule in Merl, das war nicht sein Ort. „Ich wusste schon immer, dass ich anders bin“, sagt er. „Ich wusste nur nicht, dass das auch eine Chance sein kann.“
Wertschätzung manueller Berufe
Verschiedene Schulen und einige Jahre später zog er dann mit seiner Mutter in die Schweiz, besuchte dort eine Förderschule und lebte im Internat. Er lernte, mit seinen Schwächen umzugehen und sich eine Struktur aufzubauen, die es ihm erlaubte, zu lernen. Er stärkte sein Selbstbewusstsein, seine Autonomie und sein Selbstwertgefühl. Er fühlte sich wohl in seiner Haut und mit seinem Umfeld. Das war für Charles Nosbusch eine völlig neue Erfahrung.
Bei der Diplomüberreichung dann – Charles Nosbusch hatte den Abschluss als Hausmeistergehilfe bekommen – stand er auf der Bühne mit vielen anderen und war stolz. Sie hatten sich schön angezogen, der Abend wurde von Musikern begleitet, hohe Vertreter des Bildungsministeriums waren gekommen, um den Absolventinnen und Absolventen zu gratulieren. Charles Nosbusch hatte es geschafft, sein Diplom in der Hand.
„Ein Diplom, das hier nutzlos ist“, sagt Charles Nosbusch wieder. Doch die Schweiz habe ihm geholfen. Er sei jetzt ehrlich zu sich selbst, habe Disziplin bei der Arbeit und wisse, was er wolle. Er schaut zum Himmel. „Schau mal, zwei Bussarde.“ Mit seiner Hand fährt er die Flugbewegungen der Greifvögel nach. „Sie sind wunderschön. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“
„Travailleur handicapé“
Jede Person mit einer Arbeitseinschränkung von mindestens 30 Prozent und als fähig eingestuft, einer Beschäftigung nachzugehen, gilt laut Gesetz als „Travailleur handicapé“. Eine medizinische Kommission ist für die Prüfung der Fälle zuständig. Um Menschen mit Einschränkungen in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, sind Staat, Gemeinden, öffentliche Einrichtungen sowie die Eisenbahngesellschaft dazu angehalten, mindestens fünf Prozent ihrer Stellen mit „Travailleurs handicapés“ zu besetzen. Laut einer parlamentarischen Antwort waren im Januar 2021 insgesamt 914 Personen beim Staat mit diesem Statut beschäftigt. Im Vorjahr waren dort 55 „Travailleurs handicapés“ eingestellt worden, wie aus einer weiteren parlamentarischen Antwort hervorgeht.
Im Privatsektor sollen Unternehmen ab 25 Arbeitnehmern mindestens einen „Travailleur handicapé“ einstellen, ab 50 Arbeitnehmern soll der Anteil bei mindestens zwei Prozent, ab 200 Arbeitnehmern bei vier Prozent liegen. Auch diese Bestimmungen sind im Gesetz festgehalten.
Für Menschen, die nicht oder noch nicht bereit sind, einer Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt nachzugehen, gibt es die sogenannten Behindertenwerkstätten („Ateliers protégés“). Im Zuge eines wachsenden Bewusstseins in der Gesellschaft und eines politischen Willens zu mehr Inklusion sind diese Werkstätten heute immer stärker darauf ausgerichtet, Parallelsysteme abzuschaffen, sich als aktiver Teil der Gesellschaft zu positionieren und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Sprungbrett zu dienen.
Eines dieser Beispiele ist „Conex“, der „inklusive Inkubator“ der soziokulturellen Einrichtung in Wiltz, bei dem auch Charles Nosbusch angestellt ist. Nach mehreren Stationen, unter anderem als Gärtner und als Kurier, ist es ihm nun dank einer „externen Konvention“ möglich, sein Praktikum im Tierasyl in Schifflingen zu absolvieren. Bezahlt wird er weiterhin von seinem Arbeitgeber in Wiltz, der die Lohnzahlungen für „Travailleurs handicapés“ wiederum vom Staat erstattet bekommt.