Nach der Abstimmung ist vor der Abstimmung: Neue Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus sollen „schnellstmöglich“ vom Parlament in den sogenannten Covid-Gesetzen verankert werden. Das vorgegebene Tempo der Regierung wird dabei zunehmend zum Problem für die Gewaltentrennung.
Die Regierung schlägt Gesetze vor, der Staatsrat überprüft ihre Konformität, das Parlament debattiert darüber, passt sie an und verabschiedet sie: So funktioniert Luxemburgs Parlamentarismus in der Regel. Jede Institution spielt dabei ihre eigene, von der Verfassung vorgegebene Rolle. Eine klare Grenze gibt es allerdings nur zwischen Staatsrat und den beiden anderen Organen. Die parlamentarischen Ausschüsse stützen sich meistens schon auf den Sachverstand aus den jeweiligen Ministerien, um Änderungsanträge zu formulieren. Einzig der Staatsrat genießt eine fast vollkommene Unabhängigkeit – oft zum Frust von Regierung und Parlament.
Lange Fristen und ein an ein Veto grenzendes Recht, sogenannte „Oppositions formelles“ auszusprechen, machen den Staatsrat dabei regelmäßig zum Sündenbock der Politik für verzögerte Abstimmungen. Durch die anhaltende sanitäre Krise ist die Regierung jedoch gezwungen, schnell zu handeln. Während der „Etat de crise“ es den Ministern erlaubte, täglich neue Regeln festzulegen, haben jetzt wieder das Parlament und der Staatsrat das letzte Wort. Der hohe Zeitdruck lässt nun aber auch die Grenzen zwischen Regierung und Staatsrat verschwimmen.
Politischer Druck auf den Staatsrat steigt
„Es ist wichtig, dass der Staatsrat versteht, dass wir durch eine Opposition formelle den Text nicht verabschieden können“, sagte Xavier Bettel (DP) auf einer Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung am vergangenen Mittwoch. Zudem zähle er auf den „Conseil d’Etat“, um die Maßnahmen schnellstmöglich umsetzen zu können.
Mars Di Bartolomeo (LSAP) drückt sich vorsichtiger aus und merkt lediglich an, dass die Situation jetzt eine andere sei als damals. Der Staatsrat sollte dies in einer neuen Stellungnahme berücksichtigen. „Aber es ist keineswegs meine Absicht, dem Staatsrat etwas zu diktieren“, so der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses und Berichterstatter der Covid-Gesetze.
Wir schreiben nur, wir reden nicht“Agnès Durdu, Präsidentin des Staatsrats
Mit der „neuen Situation“ meint Mars Di Bartolomeo die wieder steigenden Fallzahlen von Covid-19 Infektionen. Binnen einer Woche wurden 146 Menschen positiv getestet, davon 24 allein auf einer Feier. Grund genug für die Regierung, die Maßnahmen wieder zu verschärfen, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Versammlungen von mehr als 20 Menschen sollen wieder eingeschränkt und Verstöße gegen die Regeln bestraft werden, hieß es vergangene Woche. Eigentlich wollte die Regierung diese Einschränkungen bereits in der ersten Fassung des Covid-Gesetzes einführen, wurde jedoch zum Teil vom Staatsrat ausgebremst.
Im privaten Bereich sei ein Versammlungsverbot von mehr als 20 Personen eine unverhältnismäßige Einschränkung der Grundrechte, so der „Conseil d’Etat“ in seiner ersten Stellungnahme. Die „Opposition formelle“ des beratenden Gremiums hatte das Parlament dazu veranlasst, die Restriktionen im Privatbereich komplett zu streichen und nur noch Empfehlungen auszusprechen. Die Politik, insbesondere die Regierung, hofft nun, dass der Staatsrat seine ursprüngliche Position überdenkt.
Pandemie-Bekämpfung vs. Rechtsstaat
Es ist eine Gratwanderung. Um die Pandemie zu bekämpfen, muss die Politik schnell auf neue Entwicklungen reagieren können. Zügige Beschlüsse können allerdings nur gefasst werden, wenn weder Parlament noch Staatsrat größere Bedenken äußern. Aus Sicht des Gesundheitsschutzes ist es verständlich, dem Staatsrat nahezulegen, den Text durchzuwinken. Für den Rechtsstaat und Luxemburgs Parlamentarismus bleibt es jedoch bedenklich.
„Ich habe von den Aussagen des Premierministers Notiz genommen“, sagt Agnès Durdu im Gespräch mit REPORTER. Man sei sich bewusst, dass ein neuer Text bis zum 25. Juli stehen muss, sagt die Präsidentin des Staatsrats. Vor Veröffentlichung einer offiziellen Stellungnahme zum Text wolle sie aber nichts über dessen Inhalt sagen. „Wir schreiben nur, wir reden nicht“, so Agnès Durdu.
Dennoch gibt es bereits Anzeichen, dass der Staatsrat dem Appell von Xavier Bettel folgen könnte. „Die Entwicklung der Neuinfektionen stellt eine neue Grundlage dar, die nun kritisch betrachtet werden muss“, meinte Alex Bodry, Mitglied des Staatsrats, im Interview mit „Radio 100,7“. Da die Regierung in der ersten Fassung des Gesetzes weder eine Begründung noch Daten über Infektionen im Privatbereich vorlegte, sah die Institution damals keinen Grund für zusätzliche Einschränkungen, so der frühere LSAP-Fraktionsvorsitzende. Das heißt: Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme könnte nun tatsächlich gegeben sein.
Gesetzgebung im Schnelldurchlauf
Trotzdem lässt Bodry durchblicken, dass selbst eine Stellungnahme ohne Bedenken kein Freifahrtschein für eine schnelle Abstimmung ist. Vor zwei Wochen erklärte Mars Di Bartolomeo, dass das Parlament innerhalb von zehn Tagen einen Gesetzestext verabschieden könne. „Das ist realistisch, wenn ein bestehender Text verlängert wird oder ein Gesetz nur einen oder zwei Artikel hat“, sagt nun Alex Bodry. Darüber hinaus müssen allerdings alle Akteure ausreichend Zeit haben, um die Texte unter die Lupe zu nehmen.
Auch in Stresszeiten von Corona müssen wir ordentliche Texte verabschieden, das gehört auch zum Rechtsstaat.“Alex Bodry, Mitglied des Staatsrats
Gerade bei Einschränkungen von Grundfreiheiten sind kontroverse Debatten und kritische Stellungnahmen fast unausweichlich. Der Staatsrat ist hierbei ein bedeutender, aber nicht der einzige Akteur. Für solch tief greifende Gesetzestexte warten die Abgeordneten grundsätzlich die Stellungnahmen der verschiedenen Berufskammern und anderen beratenden Gremien ab. Diese werden dann bei den Diskussionen im Ausschuss berücksichtigt und Anpassungen vorgenommen.
Da die Zeit jedoch drängt, sollen die Abgeordneten bereits jetzt anfangen, über den Text zu beraten. Die Stellungnahmen sollen erst später berücksichtigt werden. Man erhofft sich somit, verschiedenen Bedenken zuvorzukommen, bevor sie überhaupt erst geäußert werden.
„Wir haben ausreichend Zeit“
Trotzdem könnte die Zeit erneut knapp werden. Sollte der Staatsrat sich doch noch für eine „opposition formelle“ entscheiden, könnte der Ausschuss einen Änderungsvorschlag vorlegen. Dieser würde dann erneut begutachtet, bevor der Text zuerst im Ausschuss und dann vom Parlament gebilligt werden kann. Wird den Bedenken nicht Rechnung getragen, müssten die Abgeordneten zweimal über den gleichen Text abstimmen – wodurch erneut Zeit verloren ginge. „Auch in Stresszeiten von Corona müssen wir ordentliche Texte verabschieden, das gehört auch zum Rechtsstaat“, sagt Alex Bodry. Dafür müsse man sich gegebenenfalls die nötige Zeit nehmen.
Mars Di Bartolomeo gibt sich weiterhin optimistisch. Man habe jetzt noch drei Wochen Zeit, bevor das Gesetz ausläuft – also mehr als für die ersten Covid-Gesetze, so der LSAP-Politiker. Der Gesundheitsausschuss wird zudem bereits am Dienstag ein erstes Mal über den neuen Text beraten. Danach „treffen wir uns so oft wie es nötig ist“, so Di Bartolomeo. Falls der Staatsrat also doch noch Bedenken äußern sollte, wäre zumindest der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses auf einen weiteren Sitzungsmarathon vorbereitet.
Es wird im Übrigen der letzte vor der Sommerpause sein. Im Gegensatz zur ersten Fassung soll der neue Text für zwei und nicht einen Monat in Kraft treten. Mit weiteren Anpassungen ist also wahrscheinlich erst für Oktober zu rechnen. Es sei denn die Neuinfektionen werden erneut rasant ansteigen. Die Sommerpause für Parlament und Staatsrat steht und fällt also mit einer möglichen „zweiten Welle“.