Das Ministerium legt der Kulturbranche einen Deontologiekodex vor. Dies scheint angesichts ungleicher Arbeitsbedingungen, potenzieller Interessenkonflikte und struktureller Intransparenz auch nötig. An der Umsetzbarkeit gibt es in der Szene jedoch Zweifel.
„Es geht uns um den Schutz unserer Künstler und Künstlerinnen. Die Charta soll der Diskrepanz zwischen den starken und den schwachen Parteien im Kultursektor entgegenwirken.“ Mit diesen Worten begründet Sam Tanson (Déi Gréng) im Gespräch mit Reporter.lu die Initiative des Kulturministeriums, eine Deontologie für kulturelle Einrichtungen auszuarbeiten.
Die Charta geht auf eine Empfehlung zum Kulturentwicklungsplan zurück und ist Teil der Neuorientierung der Konventionspolitik. Sie soll für alle Kultureinrichtungen und Institutionen bindend sein, die in irgendeiner Form finanzielle Unterstützung vonseiten des Ministeriums erhalten.
Werte und Verhaltensregeln
Die vorläufige Fassung der Charta des Kulturministeriums, die Reporter.lu vorliegt, hat achtzehn Seiten und drei große Kapitel. Die Einleitung dient vor allem dazu, Motivation und Ziele festzulegen. „Die vorliegende Deontologie-Charta zielt insbesondere darauf ab, das Vertrauensverhältnis zwischen kulturellen Strukturen, Künstlern und Bürgern zu bewahren“, heißt es hierzu. Kulturhäuser und Organisationen sollen die übergeordneten Leitlinien dann in einem zweiten Schritt an ihre individuellen Bedürfnisse und Besonderheiten anpassen.
Wir sind an einer Kreuzung angekommen, wir können nicht einfach so weiter machen wie zuvor.“Tom Leick, Direktor der städtischen Theater
Das Herzstück der Charta liegt in der Festlegung und der Definition von sieben verpflichtenden Werten: Kompetenz, Respekt, gerechte Bezahlung, Integrität, Chancengleichheit, Gleichheit zwischen Mann und Frau und Transparenz. Es handelt sich hierbei um Werte, denen sich zumindest theoretisch jeder und jede verbunden fühlt und die sich Organisationen gerne auf die Fahne schreiben.
Der dritte und bei Weitem umfangreichste Teil der Charta setzt die Werte nun in konkrete Verhaltensregeln um. Diese scheinen in einer Szene, die alleine schon durch ihre geringe Größe viel Potential für Interessenkonflikte bietet, notwendig zu sein. In einer Szene, in der Arbeitsverträge auch mal auf sich warten lassen und viel auf mündliche Vereinbarungen gesetzt wird. In einer Szene, in der zum Thema Diversität und Gleichberechtigung gerne mit „längst erreicht“ reagiert wird. Auch wenn das „Capitani“-Casting-Desaster sowie die Besetzung in Verwaltungsräten und Direktionen eine andere Sprache sprechen.
Musik in Männerhand
Dass es mancherorts an der Gleichstellung von Frauen und Männern mangelt, zeigt sich besonders im Bereich der Musik. In den führenden Musikinstitutionen liegt das meiste Geld weiterhin in Männerhänden. Das hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Programmierung und Künstlerförderung der einzelnen Häuser.
In der Philharmonie und in der Rockhal sind sowohl Präsident und Vizepräsident, als auch Generaldirektor männlich. Das Orchestre Philharmonique du Luxembourg hat einen Chefdirigenten. Die „Rotondes“ haben die Posten des Präsidenten, des Direktors und drei von vier Programmchefs, darunter den Verantwortlichen für Musik, mit Männern besetzt. Und auch die erst am 3. Juni gegründete „Alliance musicale“ hat in ihrem achtköpfigen Verwaltungsrat nur eine einzige Frau sitzen.
Die Charta als Kontrollinstrument
Eine für den gesamten Sektor verpflichtende Charta wäre ein Instrument, um bei Neugründungen und Neubesetzungen Reflexe auszulösen, die einem Ungleichgewicht bewusst entgegenwirken. Der Text formuliert Mechanismen, die greifen könnten, um Interessenkonflikte zu erkennen und ihnen vorzubeugen. Die Charta wäre eine Referenz für alle Akteure, um Arbeitsbedingungen zu verbessern und den respektvollen Umgang zwischen den unterschiedlichen Akteuren zu stärken.

Doch zum jetzigen Zeitpunkt ist die Charta für viele Strukturen schlicht nicht umsetzbar. In Gesprächen mit Verantwortlichen von vornehmlich kleineren Häusern und Künstlerkollektiven wird deutlich, dass die Realisierung eines solchen Verhaltenskodex nicht nur an begrenzten finanziellen Mitteln scheitern würde, sondern auch am Fehlen der nötigen Expertise und Sensibilisierung. Die Professionalisierung ist nicht in allen Bereichen weit genug vorangeschritten, um die Forderungen der Charta flächendeckend zu erfüllen. Das wurde auch auf den Theaterassisen deutlich, die am vergangenen Montag im Escher Theater stattgefunden haben.
Überproduktion und künstlerische Verschwendung
Einer Auseinandersetzung mit der Charta müssen Fragen zur Art der Kunst- und Kulturproduktion in Luxemburg, zu Nachhaltigkeit, zur Verantwortung gegenüber dem Publikum und letztendlich auch zu Arbeitsbedingungen und Gehältern eines gesamten Sektors zwangsläufig vorausgehen. Die langjährigen Debatten, die den Sektor im Bemühen um Professionalisierung beschäftigen, sind durch die Erfahrungen der Pandemie akuter geworden. „Die Charta ist durchaus auch als direkte Konsequenz aus den Krisenerfahrungen zu verstehen“, sagte Sam Tanson im Gespräch mit Reporter.lu.
Wir können die Überproduktion nur bremsen, wenn wir die Gehälter erhöhen.“Sophie Langevin, Schauspielerin
„Wir sind an einer Kreuzung angekommen, wir können nicht einfach so weiter machen wie zuvor“, erklärt auch Tom Leick, Direktor der städtischen Theater, auf den Assisen am Montag. „Wir produzieren viel zu viel, hetzen von einer Arbeit in die nächste“, beschreibt Carole Lorang den Arbeitsalltag der Kunst- und Kulturschaffenden. Für die Direktorin des Escher Theaters handelt es sich bei dieser „chronischen Überproduktion“ um eine „intellektuelle und künstlerische Verschwendung“. Stücke nicht nur wenige Male aufzuführen, auch nach Jahren wieder aufzunehmen, eventuell ein Repertoire-Theater aufzubauen und sich die Mittel für einen Fundus zu geben, seien einige Möglichkeiten, nachhaltiger zu produzieren.
Sich mehr Zeit für die einzelnen Produktionen zu geben, sei jedoch oft nicht möglich. Sophie Langevin erinnert daran, dass niemand freiwillig eine Produktion nach der anderen annehme, sondern dass dieses Verhalten auf einer finanziellen Notwendigkeit beruhe. „Wir können die Überproduktion nur bremsen, wenn wir die Gehälter erhöhen“, sagt die Schauspielerin. Sie spielt auf die von der ASPRO („Association luxembourgeoise des Professionnels du Spectacle Vivant“) ausgearbeiteten Empfehlungen zu den Gehältern für die unterschiedlichen Berufe in den darstellenden Künsten an, die in den letzten Wochen bereits für Kontroversen gesorgt haben.
Referenzrahmen oder Beamtenmentalität
Der vorgeschlagene Stundenlohn orientiert sich am qualifizierten Mindestlohn und ist für eine Friseurin gleich hoch wie für eine Regisseurin, trotz unterschiedlicher Verantwortung. Er variiert je nach Dienstalter und steigt nach 15 Jahren Erfahrung automatisch um etwa ein Drittel, was der ASPRO bereits die Kritik einer „Beamtenmentalität“ einbrachte.
Eine Theaterproduktion mit sieben Schauspielern, einer knapp bemessenen Probezeit von drei Wochen und fünf Aufführungen kostet nach diesen Berechnungen dann knapp 150.000 Euro. Kleinere Theater, wie das Théâtre Ouvert Luxembourg (TOL), das Kasemattentheater oder das Théâtre du Centaure könnten in dieser Preiskategorie noch zwei, höchstens drei Produktionen pro Jahr finanzieren.
„Es ist klar, dass mit diesen Lohnempfehlungen eine Bombe hochgeht“, sagt Anne Simon. „Aber wir brauchen einen kritischen Dialog.“ Die Regisseurin sieht in dem Dokument der ASPRO deshalb den Anstoß zu einem langen Reflexions- und Umstrukturierungsprozess. „Die Künstler haben jetzt aufgeschrieben, was sie verdienen müssten, um nachhaltig arbeiten zu können. Jetzt sind die Institutionen, Theater und Kulturhäuser dran“, erläutert Anne Simon. Sie müssten nun prüfen, was sie an der Produktionsweise verändern müssten und was sie bräuchten, um solche Gehälter bezahlen zu können. „In einem letzten Schritt ist dann die Politik gefordert“, schlussfolgert die Regisseurin.
Die von der ASPRO angestoßene Gehälterdebatte geht Hand in Hand mit den in der Charta des Ministeriums festgelegten Grundsätzen über die Bezahlung und die Absicherung von Künstlern. Dabei ist sie gleichzeitig Ausdruck des grundlegenden Problems der Luxemburger Kulturszene, das auch der Umsetzung der Charta im Weg steht: Die Professionalisierung ist nicht in allen Berufen und Institutionen gleichermaßen vorangeschritten.
Stelle beim Staat oder Ehrenamt
Es gibt Theaterintendanten und künstlerische Leiterinnen, die als Stadt- oder Staatsangestellte bezahlt werden und es gibt andere, die diese Arbeit weiterhin ehrenamtlich ausüben. Das gleiche gilt für die Verwaltungen. Ein Kommunikationsbeauftragter etwa kann Beamter oder auch „ein Freund des Hauses“ sein.
Es gibt Berufe in der Kulturvermittlung, der Publikumsgewinnung, der Diversität und der Inklusion, die in Luxemburg selbst in den großen Häusern nur in Ansätzen vertreten sind. Und es gibt Strukturen, die sich in der Vergangenheit bereits selbst Gedanken über eine Charta, über Werte und Leitlinien gemacht haben. Die regionalen Kulturhäuser etwa haben ein Manifest veröffentlicht, interne Leitlinien zu Interessenkonflikten und Transparenz existieren in vielen großen Institutionen, wie der Nationalbibliothek, der Philharmonie oder Neimënster.
Nun hat das Kulturministerium eine übergeordnete, für alle Strukturen gleichermaßen verbindliche Charta aufgesetzt. Staatliche finanzielle Unterstützung soll in Zukunft an ihre Umsetzung gebunden sein. Beim Verstoß gegen die Charta können finanzielle Mittel gestrichen und Konventionen gekündigt werden. Die Häuser und Interessenverbände haben bis Mitte Oktober Zeit, auf diese erste Version zu reagieren.
Die endgültige Version der Charta für den Kultursektor wird bindend sein. Auch dann noch, wenn der vor allem einem erfolgreichen Krisenmanagement geschuldete Kuschelkurs zwischen Ministerium und Kulturszene eines Tages harter Realpolitik und Koalitionszwängen weichen sollte. Mit der Charta signalisiert Sam Tanson ihre Bereitschaft, die Weichen davor zu stellen.
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