Obdachlose und Menschen ohne gültige Papiere fallen in Luxemburg durch das Raster der Impfkampagne. Auch Menschen mit seltenen Krankheiten warten noch auf ihre Einladung. Der politische Wille für unbürokratische Lösungen fehlt – und das schon seit Monaten.
„Geimpft!“, „Vacciné(e) !“ Spätestens seit Luxemburg sich in der letzten Phase seiner Impfstrategie befindet, scheint das Licht am Ende des Tunnels der Pandemie endlich heller zu werden. Die Kampagne schreitet sichtlich voran. In den sozialen Netzwerken häufen sich die Fotos von Menschen, die stolz ihre geimpften Oberarme vorzeigen.
Doch gibt es in unserer Gesellschaft auch Menschen, die von der Impfstrategie ausgeschlossen bleiben. Die bisher nicht „Teil der Lösung“ sind, obwohl sie es in vielen Fällen gerne wären. Bei einigen wenigen sprechen medizinische Gründe gegen eine Impfung. Die meisten jedoch werden in der Impfstrategie nicht ausreichend berücksichtigt oder ganz übersehen.
Marginalisierte Bevölkerung außen vor
„Bis heute ist keiner unserer Patienten gegen Covid-19 geimpft worden“, sagt etwa Bernard Thill, Vizepräsident der Luxemburger Zweigstelle von „Médecins du Monde“ im Interview mit Reporter.lu. Die Organisation betreut in ihren Räumlichkeiten in Bonneweg und in Esch/Alzette Menschen, die keine Krankenversicherungsnummer vorweisen können und somit auch nicht in den Impflisten des Gesundheitsministeriums auftauchen. „Nicht jeder hat die Chance, ein reguläres Leben zu führen“, bemerkt Bernard Thill. In Pandemiezeiten sei es aber erst recht wichtig, Menschen ohne soziale Absicherung zu schützen und medizinisch zu versorgen.
Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keine koordinierte Impfkampagne für marginalisierte Bevölkerungsgruppen.“Sérgio Ferreira, Sprecher der ASTI
Bereits vor zwei Monaten hat die Organisation deshalb in Absprache mit der „Direction de la Santé“ eine Liste mit Namen und Geburtsdaten jener Patienten erstellt, die sich impfen lassen möchten. „Viele unserer Patienten leiden an chronischen Krankheiten. Bei einer Covid-19-Infektion sind sie besonders gefährdet, einen schweren Verlauf durchleben zu müssen“, erklärt der Arzt von „Médecins du Monde“.
Parallel hat die Organisation gemeinsam mit dem Roten Kreuz eine Struktur gefunden, um etwa zwei Dutzend schwer kranke Personen von der Straße zu holen und unterzubringen. Selbst diese Menschen sind bis heute nicht geimpft worden, obwohl die Impfungen vor mehr als zwei Monaten bei der Gesundheitsbehörde angefragt wurden.
Eine Arbeitsgruppe ohne Folgen
Die „Association de Soutien aux Travailleurs Immigrés“ (Asti), die sich seit über 40 Jahren für die Rechte und den Schutz von Immigranten einsetzt, sieht sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert. „Wir haben seit Beginn der Impfkampagne eine grundsätzliche Vereinbarung mit dem Gesundheitsministerium, dass auch die Empfänger unserer Leistungen geimpft werden“, sagt Sérgio Ferreira im Gespräch mit Reporter.lu. „Wie die Impfungen allerdings in der Praxis ablaufen sollen, ist bis heute unklar“, so der Sprecher der Asti weiter.
Vorschläge der Organisation, mit Impfteams in den Räumlichkeiten der Asti zu arbeiten, um auch den Schutz von Menschen ohne gültige Papiere zu gewährleisten, blieben bis heute unbeantwortet. „Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keine koordinierte Impfkampagne für marginalisierte Bevölkerungsgruppen“, so der Sprecher der Asti. Auch in den Flüchtlingsheimen werde, von Einzelfällen abgesehen, nicht regulär geimpft.

„In der Krisenzelle der Regierung gibt es eine Arbeitsgruppe, die sich insbesondere um die Organisation bezüglich der Tests, der medizinischen Betreuung und Unterbringung sowie der Impfung von Personen, die in prekären Verhältnissen leben, kümmert“, heißt es auf Nachfrage aus dem Gesundheitsministerium. „Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort.“
Die Akteure vor Ort jedoch äußern mittlerweile Zweifel an der Funktionsweise dieser Arbeitsgruppe. Im letzten Jahr, bei der Verteilung von Schutzmaterial und Tests, habe die Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen noch recht gut geklappt, heißt es von mehreren Quellen. Ähnlich sah es bei der Lokalisierung der etwa 4.000 Menschen aus, die sich in prekären Lebenssituationen befinden.
Seit Beginn des Jahres allerdings, und damit auch seit Beginn der Impfkampagne, sei nicht mehr viel passiert. Es finde kaum Austausch statt, die Arbeitsgruppe selbst soll in diesem Jahr erst wenige Male getagt haben. Von Krankheitsfällen und Personalwechseln in den beteiligten Behörden ist die Rede. Wer nach welchen Kriterien letztlich Entscheidungen trifft, scheint unklar, ebenso die Frage, inwieweit die Gesundheitsministerin selbst über die Funktionsweise der Arbeitsgruppe informiert ist.
Impfstart in der Winteraktion
Paulette Lenert ihrerseits kündigte auf der Pressekonferenz am Mittwoch an, am 1. und 2. Juni mit einer Impfkampagne von Obdachlosen in den Räumlichkeiten der Winteraktion auf dem Findel zu beginnen. Aus einem Schreiben, das die Gesundheitsdirektion am selben Tag an „Médecins du Monde“ schickte, wird jedoch deutlich, dass auch hier ein Großteil von Menschen von vorneherein ausgeschlossen wird. Das Vorlegen eines Passes oder eines Personalausweises sei nämlich Voraussetzung für eine Impfung, heißt es in dem Schreiben.
Manche warten immer noch auf die Einladung zur Impfphase zwei oder drei.“Daniel Theisen, Direktor der ALAN
„Diese Forderung ist mit unserer Einstellung und unseren Statuten nicht vereinbar“, sagt Bernard Thill von „Médecins du Monde“. Um ihre Patienten zu schützen, arbeitet die Organisation selbst mit anonymisierten Krankenakten. „Ihre Identität herauszugeben, das machen wir nicht“, erklärt der Arzt, „Das würde Menschen in Gefahr bringen. Wir sind verpflichtet, ihre Menschenrechte zu schützen.“
Für Bernard Thill ist die Handlungsweise der Gesundheitsbehörde ein Zeichen von Ignoranz: „Da treffen Leute vom Schreibtisch aus Entscheidungen, die sich überhaupt nicht vorstellen können, wie es hier draußen aussieht.“ Der Hilfsorganisation, die sich überwiegend aus ehrenamtlich arbeitenden Ärzten zusammensetzt, Impfdosen zur Verfügung zu stellen, um ihre Patienten eigenverantwortlich zu impfen, sei nicht einmal eine Option. Auch die mittlerweile in vielen europäischen Städten gängige Praxis, Menschen in prekären Lebenssituationen gezielt aufzusuchen und durch mobile Teams mit dem Einmal-Impfstoff „Johnson & Johnson“ zu impfen, wird hierzulande bisher nicht in Erwägung gezogen.
Menschen mit seltenen Krankheiten
Nicht ausreichend geschützt werden aber nicht nur Menschen, die auf der Straße leben oder keine gültigen Papiere haben. Die Erfahrungen der „ALAN – Maladies Rares Luxembourg“ zeigen ebenfalls, dass Luxemburg es bisher versäumt hat, Randgruppen hinreichend zu identifizieren und frühzeitig zu schützen. „Auch von unseren Mitgliedern sind viele durch das Raster der Impfstrategie gefallen“, sagt Daniel Theisen, Direktor der Organisation, die sich für die Rechte und Interessen von Menschen mit seltenen Krankheiten einsetzt. „Dabei hätten wir von Anfang mithelfen können, diese Leute zu identifizieren.“ Doch auch seine Schreiben an die Gesundheitsbehörde seien unbeantwortet geblieben.
Es gibt kaum Krankheitsbilder, die eine Covid-19-Impfung ausschließen.“Thérèse Staub, „Comité supérieur des maladies infectieuses“
Die Organisation hat eine Umfrage bei ihren Mitgliedern durchgeführt, um herauszufinden, wie die Impfstrategie für Menschen mit seltenen Krankheiten funktioniert hat. Auch wenn die Ergebnisse noch nicht vollständig ausgewertet sind, erste Erkenntnisse sind ernüchternd: „Manche warten immer noch auf ihre Einladung zur Impfphase zwei oder drei“, stellt Daniel Theisen fest.
Andere seien mit einem Impfstoff geimpft worden, der der Empfehlung ihres behandelnden Arztes widersprach. Und wiederum andere hätten es aufgrund ihrer komplizierten Gesundheitssituation nicht auf die Listen der Priorisierung geschafft. „Viele Ärzte wissen selbst nicht, wie sie mit seltenen Krankheitsbildern umgehen sollen. Die Datenlage in Bezug auf Corona fehlt völlig. Das verunsichert“, so der Direktor der ALAN.
Kaum medizinische Kontraindikationen
Dabei sprechen nach heutigem Wissensstand nur noch extrem selten medizinische Gründe gegen eine Covid-19-Impfung. „Es gibt kaum Krankheitsbilder, die eine Covid-19-Impfung ausschließen“, bestätigt Thérèse Staub, Chefärztin im CHL und Präsidentin des „Comité supérieur des maladies infectieuses“ (CSMI) im Interview mit Reporter.lu. Sie rät nur in drei Sonderfällen von einer Impfung ab: Bei Schwangeren im ersten Trimester, bei Menschen, die in den letzten sechs Monaten eine Knochenmarktransplantation bekommen haben und bei Personen, die sich in einem akuten rheumatischen Schub befinden.
Die Haltung gegenüber marginalisierten Menschen ist in Luxemburg leider häufig nicht von Verständnis, sondern von Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung geprägt.“Bernard Thill, Vizepräsident von „Médecins du Monde“
Gerade Menschen mit geschwächtem Immunsystem – und das trifft verstärkt auch auf die Patienten vom „Médecins du Monde“ zu – wird eine Impfung mittlerweile ausdrücklich empfohlen. Denn trotz eingeschränkter Immunantwort kann eine Impfung bei anschließender Infektion zumindest einen schweren Krankheitsverlauf verhindern.
Dass Luxemburg es bisher versäumt hat, diese Empfehlungen in der Praxis flächendeckend umzusetzen, läuft nicht nur dem Narrativ der Kommunikationskampagne zuwider. Für die Hilfsorganisationen ist diese Benachteiligung marginalisierter Gruppen vor allem Ausdruck einer fehlenden sozialen Dimension bei der Priorisierung in der nationalen Impfstrategie.
„Die Haltung gegenüber marginalisierten Menschen ist in Luxemburg leider häufig nicht von Verständnis, sondern von Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung geprägt“, meint Bernard Thill von „Médecins du Monde“ abschließend. Dabei müsse die Regierung, aber auch die gesamte Gesellschaft gerade in Krisenzeiten daran gemessen werden, wie sie ihre schwächsten Glieder schützt.
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