780.000 Einwohner bis 2060: Laut Eurostat soll Luxemburgs Bevölkerung langsamer wachsen als bisher angenommen. Eine Entschleunigung des Luxemburger Modells, die allerdings auch den Druck auf das Sozialsystem erhöhen würde. Die Politik sieht dennoch keine Not zum Handeln.
Es ist der Inbegriff des Luxemburger Modells: der Eine-Million-Einwohnerstaat. Wachstum war und ist das oberste Gebot der Politik. Die lang anhaltende Konjunktur finanziert den Sozialstaat, das demografische Wachstum füllt die Rentenkassen. Bereits zur Jahrtausendwende beschwor Jean-Claude Juncker (CSV) den 700.000-Einwohner-Staat, der das Sozialsystem retten sollte.
Das wirtschaftliche Wachstum blieb in der Zwischenzeit weiter konstant hoch. Und auch Luxemburgs Bevölkerung wächst weiter. Der 1,1-Millionen Einwohner Staat sollte erneut mögliche Reformen des Rentensystems in spätere Legislaturperioden befördern, die großzügige Verteilungspolitik weitergehen.
Die Kehrseite des ungezügelten Wachstums wurde allerdings auch zunehmend zum Thema. So drehte sich der letzte Wahlkampf um die Worthülse des „qualitativen Wachstums“. Die Aussichten grenzten an eine Utopie. In weniger als 50 Jahren hätten Regierungen das ganze Land umkrempeln und von den „Kollateralschäden“ des dauerhaften Wirtschaftswachstums entkoppeln müssen.
Qualitativ Wachsen dank neuer Prognose
Konkret hieß es: Der bereits jetzt angespannte Wohnungsmarkt hätte Platz für fast doppelt so viele Einwohner finden müssen. Die weitere Überfüllung der Straßen wäre wahrscheinlich trotz massiver Investitionen in die Infrastruktur unausweichlich gewesen. Die Wasserbestände würden nicht nur im Sommer knapp werden. Diesem Szenario der Wachstumskritiker könnte das Land nun doch noch entgehen – nicht wegen eines radikalen Politikwechsels, sondern aufgrund einer neuen Modellrechnung.
Das europäische Statistikamt veröffentlicht in unregelmäßigen Abständen eine aktualisierte Version seiner demografischen Wachstumsprognosen. In der letzten Ausgabe wurden die Zahlen nun stark nach unten korrigiert. Bereits dieses Jahr soll der Zuwachs geringer ausfallen als in den Vorjahren, um sich bis 2060 bei etwa 780.000 Einwohnern einzupendeln. Zum 1. Januar 2020 zählte das Großherzogtum laut dem Statec 626.108 Einwohner.
Je früher das System angepasst wird, desto weniger einschneidend müssen die Reformen werden.“Gast Gibéryen, ADR-Abgeordneter
„Wenn sich die Prognose bewahrheitet, wäre das eine geniale Gelegenheit“, sagt Charles Margue (Déi Gréng). Ein begrenztes demografisches Wachstum würde den nötigen Spielraum geben, um der Nachfrage an Wohnraum nachzukommen. Zudem könnte man die nötigen Investitionen in das Mobilitätsnetz tätigen, so der Abgeordnete im Gespräch mit REPORTER. Eine begrüßenswerte Perspektive nennt es auch Gast Gibéryen (ADR). „Wir müssen wirtschaftlich wachsen und gleichzeitig weniger neue Arbeitsplätze schaffen“, so der Wunsch des ADR-Politikers.
Beide Parteien stehen sinnbildlich für die Forderung eines qualitativen Wachstums – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Während es den Grünen primär um die nachhaltige Entwicklung des Landes geht, will die ADR vor allem die demografische Entwicklung – und damit die Migration nach Luxemburg – begrenzen. Weniger Menschen, also bessere Lebensqualität? So einfach ist die Gleichung dann doch nicht.
Das ewige Problem der Rentenmauer
Denn keine Partei will ganz auf Wachstum verzichten. Der Grund dafür liegt nahe: Die Wirtschaft soll weiter wachsen, um den Sozialstaat finanzieren zu können. Vor allem das Rentensystem könnte ohne konjunkturelles und demografisches Wachstum in Schwierigkeiten geraten. Seit einem Jahrzehnt empfehlt die Europäische Kommission dem Großherzogtum die langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems zu verbessern, indem etwa die Beschäftigungsquote von älteren Arbeitnehmern verbessert wird. Dieses Jahr empfiehlt die Kommission erstmals keine solche Reformen. Der Grund dafür ist allerdings nicht eine verbesserte Lage, sondern die als dringlicher eingeschätzte Coronavirus-Pandemie.
Bis jetzt lebte die Sozialversicherung und das Rentensystem vom demografischen Wachstum.“Jean-Jacques Rommes, Präsident des Wirtschafts- und Sozialrates
Schon lange vor der Kommission warnte aber der frühere Premier Jean-Claude Juncker vor einem möglichen Kollaps des Systems. In seiner Erklärung zur Lage der Nation im Jahr 1997 prägte er den Begriff der „Rentenmauer“. Er schätzte damals, dass in rund 20 Jahren die Kassen leer seien. Spätestens seit dieser Rede streiten Regierungen und Sozialpartner regelmäßig über die Finanzierung des Rentensystems. Indes bewahrheitete sich Junckers Befürchtung nicht. Die Rentenmauer wurde noch nicht erreicht, die Kassen füllten sich weiter.
Die langfristige Absicherung des Rentensystems wurde im vergangenen Wahlkampf nur vom damaligen CSV-Spitzenkandidaten Claude Wiseler, wenn auch zaghaft und sehr abstrakt, thematisiert. Deutlicher formuliert die Forderungen traditionell die Arbeitgeberseite. „Bis jetzt lebte die Sozialversicherung und das Rentensystem vom demografischen Wachstum“, sagt Jean-Jacques Rommes im Gespräch mit REPORTER. Im Falle eines begrenzten Wachstums müsse man neue Mittel finden, um die Finanzierung zu garantieren, so der frühere UEL-Direktor und heutige Präsident des Wirtschafts- und Sozialrates.
Produktivität soll den Sozialstaat retten
Die Hoffnung beruht dabei hauptsächlich auf Produktivitätsgewinnen. Weniger Beitragszahler sollen zukünftig mehr erwirtschaften, so die Theorie. „Natürlich gibt es keine Garantie, dass die Produktivität in Zukunft steigt“, sagt Sylvain Hoffmann im Gespräch mit REPORTER. Dennoch gebe es zumindest Anzeichen dafür. Das Homeoffice könnte etwa einen positiven Einfluss haben, so der Direktor der Arbeitnehmerkammer. Seit Jahren erhofft man sich auch von der Robotisierung zusätzliche Fortschritte. Sollte die Projektion von Eurostat sich bewahrheiten, müssten diese Gewinne an Produktivität allerdings früher eintreten als bisher angenommen.
Im Bereich Rentenversicherung und angesichts der demografischen Entwicklung des Landes muss die versicherungstechnische und finanzielle Situation der allgemeinen Rentenversicherung genau beobachtet werden.“Koalitionsprogramm von DP, LSAP und Déi Gréng
Charles Margue und Gast Gibéryen würden deshalb am liebsten jetzt schon über mögliche Reformen reden. „Je früher das System angepasst wird, desto weniger einschneidend müssen die Reformen werden“, sagt Gast Gibéryen. Zudem sei fraglich, wie lange die Rechnung aufgehen kann. „Sollte die Konjunktur anhalten, werden durch den Wohnungsmarkt irgendwann auch die luxemburgischen Gehälter nicht mehr attraktiv genug sein, um hier zu leben“, sagt Charles Margue. Dann erreiche man einen Wendepunkt, ab dem sich trotz wirtschaftlichen Wachstums die Rentenkassen leeren, so der Abgeordnete.
Wie eine Reform dann aussehen könnte, steht allerdings noch in den Sternen. „Entweder man erhöht das Renteneintrittsalter – was Arbeitgeber bevorzugen, oder man erhöht die Beiträge – was die Arbeitnehmerseite fordert“, fasst Jean-Jacques Rommes die nicht ganz neue Debatte zusammen. Alternativ könnten Renten gekürzt werden, aber das wird von den meisten Politikern kategorisch ausgeschlossen.
Handlungsbedarf stets in ferner Zukunft
Trotzdem müsse man noch nicht in Panik geraten. „Man muss in Sache Renten nie sofort handeln. Zwar bleibt es immer wichtig, es wurde bis jetzt jedoch nie akut“, so der Präsident des Wirtschafts- und Sozialrates. Eine Ansicht, die auch vom Ministerium und den Arbeitnehmern geteilt wird. Auf Nachfrage bestätigt das Ministerium von Romain Schneider (LSAP), dass man sich an den Koalitionsvertrag hält und demnach keine tiefgreifenden Reformen des Rentensystems vorgesehen sind.
Das Ministerium will aber „die demografische Entwicklung des Landes und die finanzielle Situation der allgemeinen Rentenversicherung genau beobachten, um gegebenenfalls vorgesehene Anpassungsmechanismen anzuwenden“, heißt es auf Nachfrage. Dabei handelt es sich fast genau um den Wortlaut aus dem Koalitionsprogramm von 2018, das aber eben noch auf anderen demografischen Prognosen beruhte.
Warum sollte man also jetzt eine einschneidende Reform beschließen für etwas, was in 40 Jahren vielleicht gar nicht eintritt.“
Sylvain Hoffmann, Direktor der Arbeitnehmerkammer
Da zurzeit die Einnahmen der Rentenkasse größer sind als die Ausgaben, bestehe noch kein Handlungsbedarf, so das Ministerium weiter. Erst wenn sich dieses Verhältnis umkehrt, könnten die Mechanismen der Reform von 2013 greifen. In dem Fall könnte die jährliche Rentenanpassung etwa reduziert werden.
„Gesetzlich sind wir ohnehin dazu verpflichtet, alle zehn Jahre eine Bestandsaufnahme des Systems vorzunehmen“, sagt Sylvain Hoffman. Im aktualisierten Bericht der „Inspection générale de la sécurité sociale“ von 2018 schätzten die Autoren, dass erst 2024 die Ausgaben höher als die Einnahmen ausfallen. Doch selbst wenn dies nun früher eintreten sollte, hätte die Kasse noch ausreichend Reserven, um über ein Jahrzehnt Renten auszuzahlen. Über eine mögliche Reform könne man auch dann noch diskutieren, so der Direktor der Arbeitnehmerkammer.
Zweifelhafte Wachstumsprognosen
Die Abneigung gegen sofortige Reformen erklärt sich aber auch dadurch, dass man innerhalb der Regierung am Mehrwert der Prognosen von Eurostat zweifelt. Das Ministerium weist darauf hin, dass nicht das Bevölkerungswachstum, sondern die Zahl der Beitragszahler ausschlaggebend sei. Die Grenzgänger wurden in den Prognosen allerdings nicht berücksichtigt, dabei machen sie fast die Hälfte der Beschäftigten aus.
Bis jetzt seien zudem alle demografischen Prognosen für Luxemburg mit großer Vorsicht zu genießen, hebt etwa der Soziologe Fernand Fehlen regelmäßig hervor. „Warum sollte man also jetzt eine einschneidende Reform beschließen für etwas, was in 40 Jahren vielleicht gar nicht eintritt“, sagt auch Sylvain Hoffmann.
Die Regierung muss massiv in Infrastruktur investieren, um dem demografischen Wachstum gerecht zu werden oder langfristig an neuen Finanzierungsmodellen für die Renten arbeiten.“Jean-Jacques Rommes, Präsident des Wirtschafts- und Sozialrates
Der Zeitraum für die Prognosen fällt außerdem mit zusätzlichen einschneidenden Reformen zusammen. „Bis 2050 soll Luxemburg CO2-Neutral sein. Bereits der technologische Wandel, der dafür nötig ist, ist kaum vorstellbar. Was bis dahin passiert, weiß niemand“, sagt Jean-Jaques Rommes. Auch ist fraglich, inwiefern der Finanzplatz die zunehmende globale Steuerharmonisierung übersteht und der Motor für die nationale Wirtschaft bleibt. Wirtschaftlich und ökologisch muss das Land sich in den kommenden Jahrzehnten ohnehin neu erfinden, was sich mit ziemlicher Sicherheit auch auf das Bevölkerungswachstum auswirken wird.
Ob es nun also 1,1 Millionen Einwohner oder doch nur 780.000 werden, spielt für das Sozialsystem kurzfristig also keine Rolle. Langfristig werden beide Szenarien aber eine große Herausforderung für die Politik sein, da sind sich nahezu alle Parteien einig. „Die Regierung muss massiv in Infrastruktur investieren, um dem demografischen Wachstum gerecht zu werden oder langfristig an neuen Finanzierungsmodellen für die Renten arbeiten“, sagt Jean-Jacques Rommes.
Im Zweifel wartet die Politik aber einfach die nächste Prognose ab. Frei nach Etienne Schneider, haben sich ohnehin alle Projektionen zur ominösen Rentenmauer als falsch erwiesen und den Rest wird schon das Wirtschaftswachstum richten. Politischer Handlungsbedarf besteht in der Logik des Luxemburger Modells auch nur in der fernen Zukunft.