Die Pandemie bestimmt nicht mehr die Nachrichten – das könnte sich ab Herbst aber wieder ändern. Eine Zuspitzung der Lage wie in den vergangenen zwei Jahren ist zwar unwahrscheinlich. Doch die Experten warnen dennoch vor zu viel Gelassenheit.

Inzwischen ist es nur noch eine Randnotiz: Die täglich kommunizierten Covid-Zahlen sind den Medien schon lange keine Push-Nachricht mehr wert. Auch in der politischen Debatte spielt Covid-19 kaum eine Rolle mehr. Die meisten Hygienemaßnahmen sind seit dem 30. Juni aufgehoben. Eine Maskenpflicht gilt nur noch in Krankenhäusern sowie in Alten- und Pflegeheimen.

Man könnte also glauben, die Pandemie sei vorbei. Auf den Intensivstationen des Landes muss zurzeit nur ein einziger Covid-Patient behandelt werden. Vor genau einem Jahr waren es noch zehn. In den beiden vergangenen Jahren stiegen die Infektionen nach dem Sommer jedoch rasant an. 2020 zeigte sich das auch in der Belegung der Krankenhausbetten. Kurz vor Weihnachten mussten damals 50 Patienten auf Intensivstationen behandelt werden. Letztes Jahr waren es im Dezember noch halb so viele Personen.

Experten sind „vorsichtig optimistisch“

Steht uns also eine neue Herbstwelle bevor? Die Antwort lautet wohl: Jein. Einerseits sind sich die Experten einig, dass die Infektionszahlen wieder anziehen werden. Coronaviren seien im Herbst und Winter immer stärker präsent, das liege an ihrer „gewissen Saisonalität“, erklärt Dr. Gérard Schockmel. Das habe weniger mit dem Wetter zu tun als mit den wechselnden Verhaltensweisen der Menschen. Man halte sich weniger im Freien auf, treffe mehr Menschen auf engerem Raum und habe trockenere Schleimhäute. „Das sind alles Faktoren, die die Übertragung von Aerosolen und das Aufkommen respiratorischer Krankheiten begünstigen“, so der Infektiologe der „Hôpitaux Robert Schuman“ (HRS) im Interview mit Reporter.lu.

Niemand kann sagen, was im Herbst passiert, aber wir sind besser vorbereitet als je zuvor.“Dr. Thérèse Staub, CHL

Damit sei allerdings noch nicht gesagt, dass die Infektionen auch verstärkt zu schweren Krankheitsverläufen führen, betont der Experte. Er sei zwar „vorsichtig optimistisch“, dass es nicht mehr zu einer Situation wie in den vergangenen zwei Jahren komme. Dafür sorge allein schon die kollektive Immunität durch die Impfungen. Und dennoch: „Es gibt immer noch realistische Szenarien, bei denen die Stufe 3 in den Krankenhäusern ausgerufen werden könnte“, so Dr. Gérard Schockmel. Also jene Stufe, bei der bestimmte Operationen wegen zu vielen Corona-Patienten verschoben werden müssten.

„Niemand kann sagen, was im Herbst passiert, aber wir sind besser vorbereitet als je zuvor“, sagt auch Dr. Thérèse Staub. „Mit der Impfung, Antikörperbehandlung und neuen Medikamenten hoffen wir, dass wir die vulnerable Bevölkerung schützen können“, so die Leiterin der Abteilung für Infektionskrankheiten im „Centre Hospitalier de Luxembourg“ (CHL). Aktuell behandelt das CHL nur zwei Covid-Patienten, beide würden an Autoimmunkrankheiten leiden, erklärt Dr. Thérèse Staub. „In den letzten Wochen hatten wir nur noch einen typischen Covid-Fall, dabei handelte es sich um einen Ungeimpften.“

Neue Impfstoffe stehen vor der Tür

Wie sich die Lage in den kommenden Wochen verändert, hängt laut Gérard Schockmel an zwei Fragen: Was kommt nach Omikron? Und wie wirksam sind die Impfstoffe gegen mögliche neue Virusvarianten? Die Omikron-Variante, die seit Anfang dieses Jahres dominant ist, bereitet ihm dabei kaum Sorgen. Omikron sei weniger virulent als frühere Varianten, vor allem würden weniger Atemwegserkrankungen auftreten, so der Experte. Zudem seien die aktuellen Impfstoffe erprobt, um schwere Krankheitsverläufe zu verhindern.

Wir scheinen viele Optimisten in der Regierung zu haben.“Dr. Gérard Schockmel, HRS

Stichwort Impfungen: Aktuell verfügen laut Angaben des Gesundheitsministeriums 474.526 Personen über einen vollständigen Impfschutz. Das entspricht einer Impfquote von 79 Prozent der impffähigen Bevölkerung, also Menschen ab fünf Jahren. Vergangene Woche gab die Regierung zudem bekannt, dass im Laufe des Monats neue Impfstoffe, die speziell zur Vorbeugung einer Omikron-Variante entwickelt wurden, in Luxemburg verfügbar sein werden. Ab der kommenden Woche soll deshalb auch das Impfzentrum in der Victor-Hugo-Halle in Limpertsberg wieder öffnen.

Laut den Experten bleibt die kollektive Impfung der wirksamste Schutz vor einer neuen Corona-Welle. Die Impfkampagne befindet sich jedoch noch im Leerlauf. (Foto: Mike Zenari)

Die neu zugelassenen Impfstoffe von Pfizer und Moderna sollen als Booster-Impfung einen besseren Schutz gegen eine Subvariante von Omikron liefern. Doch mittlerweile sind bereits leicht andere Varianten im Umlauf. Der Impfschutz ist somit zwar besser als bisher, aber weiterhin nicht an die aktuelle Lage angepasst. Das könnte sich aber bald ändern. „Ein neues Konzept für die Impfung steht vor der Tür, die gleich gegen zwei Omikron-Varianten schützen kann. Man kann davon ausgehen, dass dann auch der Impfschutz zunimmt“, sagt Alain Schmit, Vorsitzender der Ärztevereinigung AMMD, im Gespräch mit Reporter.lu. In den USA ist der entsprechende Impfstoff bereits zugelassen. Währenddessen läuft die Überprüfung in der EU.

Die Impfkampagne könnte also bald wieder Fahrt aufnehmen. Zurzeit werden eher weniger Menschen geimpft. „Die Zahl der Impfungen in den Praxen hat abgenommen, sodass es sich für manche Ärzte nicht mehr lohnt, weiter Impfungen anzubieten“, sagt Alain Schmit. Dabei sollen die Ärzte und Apotheken gerade in abgelegeneren Gegenden des Landes für ausreichend Möglichkeiten zur Impfung sorgen. Das Gesundheitsministerium will indes mit einer neuen Werbekampagne auf die Impfung aufmerksam machen. Das Ministerium habe dem Ärzteverband vor kurzem ein neues Plakat vorgestellt, so der Vorsitzende der AMMD.

Kein präventives Konzept erkennbar

Ansonsten gibt es jedoch kaum Hinweise, dass sich die Regierung auf eine neue pandemische Lage im Herbst vorbereitet. Einen konkreten Plan, was bei einer neuen Infektionswelle geschehen soll, gibt es nicht. Auch politisch findet keine Debatte darüber statt, was man tun sollte, wenn das Virus in den kommenden Monaten wieder stärker zirkuliert. „Ein solches präventives Konzept ist mir nicht bekannt“, sagt Gérard Schockmel. „Wir scheinen viele Optimisten in der Regierung zu haben.“

Obwohl bisher nichts auf eine Rückkehr der akuten Coronakrise hindeute, solle man wachsam bleiben und einen Plan in der Schublade haben, betont der Infektiologe der HRS. Sollte das Virus weiter mutieren, könne man nicht ausschließen, dass das Pandemiegeschehen wieder problematischer werde. In ihrem Bericht über die mögliche Einführung einer Impfpflicht simulierten die Experten den weiteren Verlauf der Pandemie. Bleibt die Omikron-Variante vorherrschend, rechnen die Forscher mit etwas mehr als zehn Patienten auf der Intensivstation.

Sollte jedoch eine neue Variante auftreten, mit einer vergleichbar hohen Ansteckungsfähigkeit wie Omikron und einem schweren Krankheitsverlauf wie Delta, könnte diese gar zur tödlichsten Welle ausarten. Demnach könnte die Zahl der Patienten auf Intensivstationen im Dezember auf über 70 steigen. Es wäre ein neuer Rekord. Sollte dieses „Worst-Case-Szenario“ eintreten, könne die Regierung zwar relativ schnell gewisse Hygienemaßnahmen wieder einführen. Doch präventive Politik sehe anders aus, kritisiert Gérard Schockmel. „Indem man einfach nur abwartet, geht man ein gewisses Risiko ein. Man lässt es drauf ankommen.“

Die verschiedenen Maßnahmen können jederzeit eingesetzt werden.“Direction de la Santé

Gérard Schockmel erinnert die aktuelle politische Haltung an die Impfpflicht-Debatte. „Zuerst war eine große Mehrheit im Parlament dafür. Dann, als die Fallzahlen wieder zurückgingen, waren quasi alle dagegen. Wenn es im Herbst wieder ernst werden sollte, werden sie wieder dafür sein. Doch dann ist es zu spät.“ Er bedauere zutiefst, dass sich die Politik in dieser Frage nicht zu einer klaren Regelung durchgerungen habe, so der Experte für Infektionskrankheiten, der in einem Interview nicht ausgeschlossen hat, in Zukunft selbst politisch aktiv zu werden.

Im Ministerium sieht man das erwartungsgemäß anders. „Die verschiedenen Maßnahmen können jederzeit eingesetzt werden“, sagt Anna Chioti vom Gesundheitsministerium im Gespräch mit Reporter.lu. Auch Paulette Lenert (LSAP) erklärte Anfang Juli, man könne mit dem Pandemie-Gesetz schnell auf eine veränderte Lage reagieren. Gemeint ist damit das Covid-Gesetz, das reaktiviert werden könnte. Die Krisenzelle analysiere weiterhin regelmäßig die Zahlen, um gegebenenfalls zu reagieren, heißt es weiter aus dem Ministerium. Welche Maßnahmen dann wieder eingeführt werden, ist jedoch nicht in Erfahrung zu bringen.

Medikamente bringen Fortschritte

Anders als in den letzten Wellen gibt es allerdings auch neue Behandlungsmethoden gegen Covid. Vor allem bei Risikopatienten kann eine frühzeitige Behandlung mit dem Arzneimittel „Paxlovid“ einen Aufenthalt im Krankenhaus verhindern. Bisher war dieses nur in den Apotheken der Krankenhäuser erhältlich. Seit August ist der Zugang zum Medikament erleichtert, das auch in allen anderen Apotheken auf Rezept verfügbar ist.

Ein Wundermittel war es in Luxemburg bisher allerdings noch nicht. „Die Medikamente können die Abnahme der Krankenhausaufenthalte nicht erklären. Dafür werden sie noch zu wenig verschrieben“, sagt Thérèse Staub vom CHL. Die stetige Abnahme von Covid-Patienten sei vor allem auf den Impfschutz zurückzuführen, so die Infektiologin.

Eine drohende Überlastung der Krankenhäuser wie im Jahre 2020 ist unwahrscheinlich. Doch steigende Infektionszahlen könnten dennoch für mehr Krankenhausaufenthalte sorgen. (Foto: Mike Zenari)

Doch bei manchen Menschen greift der Impfschutz nicht. Menschen mit Autoimmunkrankheiten oder auch Empfänger einer Organspende gelten seit Beginn der Pandemie als besonders gefährdet. Auch nach zusätzlichen Booster-Impfungen bleibt ihr Impfschutz verhältnismäßig gering. Deshalb wurde ein neuer Weg eingeschlagen. „In den letzten Wochen haben wir Menschen mit Autoimmunkrankheiten und Organempfänger präventiv mit Antikörpern behandelt“, sagt Thérèse Staub. Die Ärzte erhoffen sich hiermit, die Betroffenen über die Wintermonate schützen zu können. Für die verbleibende Zeit der Pandemie ist diese Behandlung ein Hoffnungsschimmer für die Betroffenen, einem schweren Verlauf zu entkommen.

Wann ist die Pandemie zu Ende?

Wann gilt die Pandemie eigentlich als beendet? Die Experten, die im Januar 2022 das erste Gutachten zur Impfpflicht verfassten, definierten das Ende der Pandemie folgendermaßen: „En effet, la pandémie en tant que menace majeure pour la santé publique prend fin au Luxembourg lorsque le risque de surcharge du système de santé est maîtrisé.“ In diesem Sinne könnte man meinen, dass die Pandemie in Luxemburg schon heute als bewältigt gelten könnte. Doch die Frage, die die Experten wohl bewusst offen ließen, lautet: Wie lange muss die Überlastung des Gesundheitssystems ausbleiben, damit sie dauerhaft Entwarnung geben können?

Virologen würden die Frage nach dem Ende der Pandemie wohl technisch beantworten. Die Pandemie ist vorbei, wenn sie als Endemie bezeichnet werden kann. Wenn also die Infektionswellen dauerhaft abflachen und es nur noch zu örtlich begrenzten Ausbrüchen kommt. Selbst wenn Sars-CoV-2 eines Tages endemisch wird, heißt das aber nicht unbedingt, dass die Gefahr völlig gebannt ist. „Endemisch bedeutet nicht unbedingt weniger virulent“, betont Gérard Schockmel. Malaria und Tuberkulose seien auch endemische Krankheiten, würden aber lokal immer noch zu vielen Todesfällen führen.

Doch auch an dieser Stelle seien wieder die Impfungen entscheidend. Steigt die kollektive Immunität, werden auch neue Ausbrüche unwahrscheinlicher. Die neuen Plakate des Gesundheitsministeriums, die zur Impfung aufrufen, sind also vorerst nicht ohne Grund das einzige bekannte Mittel, wie die Regierung den dritten Corona-Herbst vorbereitet.