Ohne Maskenpflicht zurück zum normalen Schulalltag: Das neue sanitäre Konzept des Bildungsministeriums gibt sich betont hoffnungsvoll. Risiken blendet es zwar nicht komplett aus. Und doch wird die Strategie ähnlich kontrovers diskutiert wie bei der letzten „Rentrée“.
„Ich bin kein Mediziner“, sagt Claude Meisch. Dennoch stellt der Bildungsminister unmissverständlich klar, dass er das Gesundheitsrisiko des Coronavirus für Kinder und Jugendliche für sehr gering hält. „Wir haben die Schulen vor eineinhalb Jahren nicht zugemacht, weil wir uns Sorgen um die Gesundheit der Kinder machten, sondern um vulnerable Mitmenschen zu schützen“, so der DP-Politiker auf seiner „Rentrée“-Pressekonferenz am vergangenen Montag.
Das neue Covid-Konzept für die Schulen folgt genau dieser Logik. Die größte Änderung betrifft das Wegfallen der generellen Maskenpflicht im Klassenzimmer, laut Meisch ein nicht nur symbolischer Schritt „zurück in die Normalität“. Erst wenn in einer Klasse ein positiver Fall auftaucht, wird das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes wieder Pflicht. Gleichzeitig setzt das Ministerium weiterhin auf Schnelltests und betonte, dass mittlerweile 90 Prozent des Lehrpersonals und rund 55 Prozent der 12- bis 18-Jährigen gegen Covid-19 geimpft seien. Überhaupt sehe der Stufenplan der Regierung vor, dass die Maßnahmen zur Einschränkung einer Verbreitung des Virus zu jeder Zeit verschärft werden könnten.
Der neuen Strategie liegt aber auch die Überzeugung zugrunde, dass Kinder und Jugendliche, vor allem jene unter 12 Jahren, nicht zu einer vulnerablen Bevölkerungsgruppe gehören. „Es besteht kein großes Risiko für die Schüler“, behauptete Claude Meisch jüngst im Interview mit dem „Tageblatt“.
Erfahrungswerte und bleibende Risiken
Diese Auffassung gründet aber weniger auf belastbaren Fakten oder wissenschaftlichen Daten als auf den bisherigen Erfahrungswerten sowie auf einem „permanentem Abwägen“ zwischen sanitären Auflagen und dem Bildungsauftrag, so Claude Meisch. Die Begründung des neuen Konzepts hat aber auch etwas von Hörensagen, so formulierte es zumindest der Minister in besagtem Interview: „Generell höre ich immer noch, dass es keine größeren gesundheitlichen Risiken für Kinder und Jugendliche gibt, die positiv sind.“
In der Tat gilt es unter Medizinern als Konsens, dass Kinder weniger stark von den Folgen von Covid-19 betroffen sind. Jüngere Menschen weisen weniger Symptome auf und müssen aufgrund einer Infektion seltener auf einer Intensivstation behandelt werden. „Die schwerwiegenden Infektionen bleiben bei Kindern die Ausnahme“, formuliert es ein Gutachten des „Conseil supérieur des maladies infectieuses“ (CSMI) von Mitte August.
Doch die Risiken seien nicht gleich null und die langfristigen gesundheitlichen Folgen einer Infektion seien auch für Kinder noch nicht absehbar, heißt es in dem Bericht des CSMI. Das „Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten“ (ECDC) hält ebenfalls fest: „Die genaue Belastung durch Covid-19 und seine Langzeitfolgen in der pädiatrischen Bevölkerung müssen noch ermittelt werden und sind eine Priorität für die weitere Forschung.“
Dabei gibt das ECDC der Luxemburger Strategie zwar Recht, indem es die Schule nicht als „primären Faktor für die gemeinschaftliche Übertragung“ des Virus einschätzt. Allerdings basiere diese Einschätzung auf den Erfahrungen des vergangenen Schuljahres. Mit der Deltavariante würde auch bei Kindern sowohl die Anfälligkeit als auch die Infektiosität zunehmen, so die europäische Agentur.
Zwischen Abwägung und Durchseuchung
Mehrere Virologen, etwa in Deutschland, warnen demnach vor einer zu schnellen Lockerung der Maßnahmen, die zu einer „Durchseuchung“ der Unter-12-Jährigen führen könnte. Da diese Altersgruppe noch nicht für eine Impfung gegen Covid-19 in Frage kommt, gehöre sie in einer eventuellen „vierten Welle“ zu den gefährdeten Gruppen, so die Argumentation. Die Sorge der Experten ist dabei weniger, dass Kinder gesundheitlich vulnerabler sind als bisher, als die Möglichkeit, dass sie ungeimpfte Erwachsene anstecken könnten, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung höher ist.
Das ist nicht unbedingt eine wissenschaftliche Rechnung, die wir gemacht haben, bei der ein bestimmter Koeffizient herauskommt. Nein, es ist ein permanentes Abwägen.“Claude Meisch im „Tageblatt“-Interview
Doch auch die Risiken für Kinder seien eben nicht inexistent, sagt Dr. Isabel de la Fuente Garcia. Laut der Kinderärztin im CHL gebe es nämlich ernsthafte „Bedenken“, dass die Deltavariante auch bei Kindern zu schwereren Krankheitsverläufen führen könnte, so die Ärztin im Interview mit „RTL“. Bis heute sei die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die intensivmedizinisch betreut werden mussten, zwar sehr gering, einen Todesfall habe es in Luxemburg nicht gegeben. Doch die Ärztin berichtete auch von Kindern, die an den Folgen der Infektion leiden und ähnliche „Long Covid“-Symptome entwickelten wie Erwachsene: Müdigkeit, Atembeschwerden, Konzentrationsschwächen.
Die Medizinerin sprach sich deshalb für eine vorsichtigere sanitäre Strategie in den Schulen aus. Es sei „verfrüht“, die Sicherheitsmaßnahmen dort weitgehend aufzuheben, so Isabel de la Fuente Garcia gegenüber „Radio 100,7“. Dabei erwähnte sie auch einen „politischen Druck“, der dem neuen Konzept zugrunde liege. Ein Drittel der Infektionen würde mittlerweile Kinder und Jugendliche betreffen. Und auch wenn es über den Sommer generell wenige Krankenhausaufenthalte gegeben habe, sei nicht auszuschließen, dass diese im Herbst ansteigen würden, so die Kinderärztin.
Schwierige Folgen der sanitären Maßnahmen
Gleichzeitig betont Isabel de Fuente Garcia aber auch die positiven Auswirkungen des neuen Konzepts, die vor allem die mentale Gesundheit der Schülerinnen und Schüler betreffen. Unterstützung bekommt der Bildungsminister zudem von anderen Kinderärzten, die tagtäglich die Kollateralschäden der Corona-Maßnahmen behandeln. Zunehmendes Übergewicht aufgrund der eingeschränkten Sportangebote, Stress und Angst als Auswirkungen auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, Entwicklungsrückstände: „Aus einer ganzheitlichen Sicht auf das Kindeswohl können wir die Lockerungen, wie das Wegfallen der Masken, nur begrüßen“, sagt etwa der Kinderarzt Dr. Serge Allard, der in einer Gemeinschaftspraxis in der Hauptstadt praktiziert.

„Es gibt viele Kinder, die ihre Betreuer in der Kita oder ihre Lehrer in der Schule ohne Maske gar nicht kennen“, gibt er zu bedenken. Besonders für den Spracherwerb habe das Maskentragen erhebliche Nachteile gebracht. „Das Lippenlesen ist fundamental“, sagt der Arzt und weist darauf hin, dass Ungleichheiten bei den Bildungschancen bereits verstärkt wurden. „Es trifft vor allem jene Kinder, die zu Hause kein Luxemburgisch oder Deutsch hören oder sprechen“, meint Serge Allard. Ein großes Gesundheitsrisiko für Kinder und Jugendliche sieht auch er nicht: „Corona ist vor allem für die ältere Bevölkerung gefährlich, nicht für Kinder. Das gilt auch heute noch.“
Etwa 150 Patientinnen und Patienten werden in der Gemeinschaftspraxis täglich behandelt. Er schätzt, dass neun von zehn Eltern eine Rückkehr zur Normalität und die damit verbundenen Lockerungen ausdrücklich begrüßen. „Die Leute haben genug. Sie fordern, dass ihre Kinder nicht mehr die Leidtragenden der Pandemie sind.“ Natürlich bleibe ein gewisses Unsicherheitsgefühl bestehen, da niemand wisse, wie sich die Pandemie und vor allem die Varianten entwickeln, räumt der Kinderarzt ein. Doch der Wunsch nach Normalität sei bei den allermeisten Eltern stärker als die Angst vor einer Infektion ihrer Kinder.
Die Mär der infektionsfreien Schule
Auch Claude Meisch will am liebsten nur noch nach vorne blicken. Auf der Pressekonferenz zum Schulbeginn kündigte er Reformen und Gesetzentwürfe an, mit denen er das Schulsystem in den verbleibenden zwei Jahren der Legislaturperiode verbessern möchte. Dem Pandemiegeschehen wies er dabei eine Nebenrolle zu, wohlwissend dass das Virus schnell auch wieder die Oberhand über die Lage in den Bildungseinrichtungen gewinnen könnte. Auch das gehört zu den Erfahrungswerten in dieser Krise.
Denn, wenn es einen Satz gibt, der Bildungsminister Claude Meisch durch die ganze Pandemie verfolgt, dann ist es jener vom 28. Juni 2020. In einem „RTL“-Interview zog der Bildungsminister damals Bilanz der ersten drei Monate Pandemiebekämpfung in der Schule. Seine ebenso gewagte, wie später vielzitierte Schlussfolgerung: „In der Regel steckt man sich nicht in der Schule an.“ Rund zwei Monate später räumte ein Bericht des Bildungs- und Gesundheitsministeriums mit der Mär der infektionsfreien Schule auf.
Aus einer ganzheitlichen Sicht auf das Kindeswohl können wir die Lockerungen, wie das Wegfallen der Masken, nur begrüßen.“Dr. Serge Allard, Kinderarzt
Gleichzeitig nuancierte dieser Bericht den Grund für das niedrige Infektionsrisiko in den Bildungseinrichtungen. Die Schule sei nicht per se ein Ort, an dem die Ansteckungsgefahr geringer sei, so die Studie, sondern: „Ce risque de transmission intra-scolaire faible ne peut pas être dissocié des mesures strictes de santé publique mises en place.“ Somit stellt die Studie die Infektionen in ein direktes Verhältnis zu allen ergriffenen Corona-Maßnahmen.
Besonders zu Beginn der Pandemie reagierte das Bildungsministerium auf das Infektionsgeschehen mit strikten Einschränkungen. Der erste Schritt in der Pandemiebekämpfung war dabei sowohl der einfachste als auch der einschneidendste: Die Schulen blieben vom 16. März bis zum 3. Mai 2020 komplett geschlossen. In dieser Zeit fand ausschließlich Distanzunterricht statt. Es folgte ein vorsichtiges Herantasten an den regulären Unterricht. Von den A- und B-Gruppen bis zum Stufenplan war das Ziel des Bildungsministeriums dabei stets, den Schulbetrieb auch bei positiven Fällen so lange wie möglich offen zu halten.
Minister unter Rechtfertigungsdruck
Im Rückblick stellen die „Rentrée“ 2020 und der folgende Herbst eine Zäsur für die Pandemie-Maßnahmen des Bildungsministeriums dar. Die Politik wurde seitdem zunehmend vom Geschehen überrascht. Besonders im Oktober und November 2020 stiegen die Infektionen in Luxemburg wieder deutlich an – und dies nicht zuletzt in den Schulen.
Für Kritik sorgt damals vor allem die Kommunikation des Ministeriums. Sowohl Elternvereinigungen als auch Lehrergewerkschaften kritisierten das Stufenmodell scharf und forderten den Minister auf, Fälle in den Schulen transparenter mitzuteilen. Statt der vom Minister versprochenen „normalen Rentrée“ beschrieb die Lehrergewerkschaft SEW die Situation in den Schulen als „albtraum-ähnliches Chaos, das keinen normalen Unterricht mehr erlaube“.
Auch ein eigener Bericht des Bildungsministeriums zur Infektionslage in den Schulen wurde öffentlich kritisiert. Der Tenor der Kritik: Der Minister versuche das Infektionsgeschehen in den Schulen zu beschönigen. Doch auch dieser Bericht kam nicht umhin, die Aussagen des Ministers zur Infektionsgefahr zu nuancieren. Darin wurde nämlich konstatiert, dass die Ansteckungen in den Schulen zum Teil über jenen in der Gesamtbevölkerung lägen.

Über den gesamten Zeitraum, und bis heute, wird dabei die Frage nach der Maskenpflicht während des Unterrichts kontrovers diskutiert. Bei der „Rentrée“ 2020 setzte das Ministerium dabei primär auf die Einschätzung der Sekundarschulleiter. Diese könnten für ihre Schule jederzeit strengere Maßnahmen ergreifen, etwa die Maskenpflicht im Klassenraum. Und sie waren es auch, die die landesweite Maskenpflicht – zumindest in den Sekundarschulen – im vergangenen Winter faktisch einführten. Das Ministerium selbst schrieb das Tragen einer Maske erst ab dem 22. Februar 2021 für alle Schüler ab dem Cycle 2 der Grundschule vor – also mit reichlich Verspätung zur gängigen Praxis vor Ort.
Auch an dieser Stelle ist es ein Bericht des Bildungsministeriums selbst, der die öffentlichen Forderungen im Nachhinein als berechtigt einschätzte. So stellte der Bericht zum Infektionsgeschehen in den Schulen zwischen Januar und April 2021 fest, dass „la généralisation du port obligatoire du masque à partir du cycle 2 semble avoir contribué à détendre à nouveau la situation“.
Andauernde Kritik und ein „warmer Appell“
Ein wiederkehrender Vorwurf gegen die Corona-Politik von Claude Meisch lautet: Der Minister fahre auf Sicht, setze auf das Prinzip Hoffnung und nehme damit implizit eine raschere Verbreitung des Virus in Kauf. Auch jetzt werden wieder Stimmen laut, die die neuen Maßnahmen zum heutigen Schuljahresbeginn nicht nachvollziehen können. So kritisierte etwa der Präsident der Lehrergewerkschaft OBGL/SEW, Patrick Arendt, im „Tageblatt“ die mangelnde Voraussicht des Ministers. Auch die fehlenden Begründungen des Ministers für die Anpassung der Maßnahmen bemängelte der Gewerkschaftler: „Wieso sind sie anders als vergangenes Jahr? Auf welchen Erkenntnissen basiert das?“
Man wird nicht jegliche Verbreitung an Schulen unterbinden können, aber möglichst eine unkontrollierte Ausbreitung.“Christian Drosten, deutscher Virologe
Der Minister verteidigte sich seinerseits mit einem Verweis auf die grundlegend geänderte Gesamtsituation der Pandemie. „Auf der Intensivstation liegen heute zu einem sehr großen Teil erwachsene, ungeimpfte Menschen“, sagte Claude Meisch Anfang der Woche vor der Presse. Die Schutzmaßnahmen in der Schule seien dazu da, diese erwachsenen, ungeimpften Menschen zu schützen – und eben nicht, um die Verbreitung des Virus unter den Schülern zu verhindern. „Seit 18 Monaten verlangen wir unseren Kindern und Jugendlichen sehr viel ab. Ich würde mir nun wünschen, dass die Erwachsenen dieselbe Solidarität an den Tag legten und sich impfen lassen“, so der Bildungsminister.
Ob dieser „warme Appell“ (Claude Meisch) jedoch ausreicht, um eine neue Herbstwelle zu verhindern, sei dahingestellt. Die Durchseuchung der ganzen Bevölkerung, also auch der Schulen, wird dabei so oder so stattfinden. Fraglich und umstritten ist nur, wie schnell und damit wie kontrolliert sie geschehen soll. „Man wird nicht jegliche Verbreitung an Schulen unterbinden können, aber möglichst eine unkontrollierte Ausbreitung“, brachte es der deutsche Virologe Christian Drosten kürzlich auf den Punkt. Eine „Freigabe zur Durchinfektion“ von Kindern dürfe es auf keinen Fall geben.
Fest steht jedenfalls: Kinder können sich mit dem Coronavirus infizieren, offensichtlich auch in der Schule, und so zur Durchseuchung der Bevölkerung beitragen. Sie können an Covid-19 erkranken, und sie können das Virus auf andere Menschen übertragen, offensichtlich auch auf ungeimpfte Menschen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Hospitalisierung höher ist als bei der jüngeren und geimpften Bevölkerung. Und genau mit diesem Faktor steht und fällt auch die neue Strategie der Regierung für die Schulen.


