Nach dem Kontrollverlust bei den Corona-Protesten in der Vorwoche ist die Polizei an diesem Samstag besser vorbereitet. Dennoch kommt es zu Krawallen und Festnahmen. Schon nach kurzer Zeit entartet der Protest in Tumulte. Eine große Frage bleibt: Wie geht es jetzt weiter?
Glacis, kurz vor 14 Uhr. Auf dem Vorplatz vor dem Toilettenhäuschen versammelt sich häufchenweise der Corona-Protest des Landes. In der Mitte steht der vertraute Lautsprecherwagen des Maßnahmengegners Peter Freitag. Zeitweise sieht es danach aus, als ob das vollmundig versprochene „Rassemblement national“ an diesem Samstag ausfallen wird. Höchstens 100 Protestierende befinden sich zu diesem Zeitpunkt im zuvor von Politik und Polizei festgelegten Demonstrationsbereich.
Im Vergleich deutlich beeindruckender: die Präsenz der Ordnungskräfte. Wie angekündigt, hat die Polizei ihr Aufgebot im Vergleich zur Vorwoche deutlich verstärkt. Der Zugang zum gegenüberliegenden Stadtpark wird durch ein Dutzend Beamte in schwerer Schutzausrüstung gesichert. Auf der Kinnekswiss stehen weitere Polizisten auf Abruf bereit.
Gemischte Menge, aufgeladene Stimmung
Auf dem Glacisfeld selbst übt sich die Staatsgewalt in Zurückhaltung. Rund 20 bis 30 Polizisten stehen an den Flanken der Demonstration bereit, die Truppführer halten vor Protestbeginn immer wieder Rücksprache mit den Organisatoren, der Polizeihelikopter kreist über dem Ort des Geschehens.
Mit etwas Verspätung beginnt der Protest. Mittlerweile halten sich rund 200 Menschen auf dem Glacis-Vorplatz auf. Das Publikum ist gemischt. Punks stehen neben Rentnerinnen im Pelzmantel. Fanatische Impfgegner samt schrillem Bauchplakat neben ökologisch-bewussten Kleinfamilien. Leicht versprengt dazwischen: Gelbwesten, Jugendliche in Jogginghosen, Männer um die 50. Es wird Luxemburgisch, Französisch, Deutsch und Portugiesisch geredet. Auf ihren Plakaten warnen die Protestler vor dem „liberticide“, der vermeintlich verpflichtenden Kinderimpfung oder verkünden trotzig auf einer schwarzen Banderole: „Uns kriegt ihr nie“.

Verschiedene Redner ergreifen das Mikrofon und verleihen den Plakaten verbalen Ausdruck. Jean-Marie Jacoby, der zum Aktivist gewandelte Journalist der „Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek“, behauptet, der festgelegte Protestkorridor sei verfassungswidrig. Peter Freitag lässt sich darüber aus, dass es absurd sei, von gesunden Menschen zu verlangen, sich testen zu lassen, um arbeiten zu gehen. Den Protestlern rät er, sich im Januar einfach krank zu melden. Ein weiterer Redner fordert die Menschen zum politischen Handeln auf. Explizit dankt er der „ADR“, die als einzige Partei die Interessen der Demonstranten im Parlament vertrete.
Protest und tumultartige Krawalle
Die Reden werden immer wieder von der Menge unterbrochen, die „Liberté, Liberté“ skandiert. Nahezu unbemerkt hat sich der Protest vergrößert. Auf der Verkehrsinsel hin zum Stadtpark stehen mittlerweile zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene. Sie tragen Kapuzenpullis und zum Teil Sturmhauben. Einige stellen sich bewusst auf den Zebrastreifen, um den Verkehr zu behindern. Die Polizei drängt sie zunächst zurück.
Schnell stellt sich das Gefühl ein, dass viele Teilnehmer nicht gekommen sind, um sich Reden anzuhören. Jemand zündet die erste Rauchbombe. Die ersten Böller werden in Richtung Polizisten geworfen. Zug um Zug entartet der Protest. Während der anfängliche Teil der Demonstranten noch der Rede eines Corona-Skeptikers aus Trier zu folgen versucht, stürmt der hintere Teil die Kreuzung.

Obwohl noch über das Mikro versucht wird, die Demonstranten zu beruhigen, ist der Protest mit diesem ersten Vorstoß außer Kontrolle geraten. Die folgenden zweieinhalb Stunden sind geprägt von Flaschen- und Böllerwürfen sowie bewussten Provokationen einiger Demonstranten. Die Polizei setzt weiter auf Deeskalation und riegelt zunächst die Avenue de la Porte Neuve mit rund 20 Mann ab. Nach einiger Zeit gelingt einigen Demonstranten jedoch der Durchbruch. Doch etwa hundert Meter weiter warten ein weiteres Polizeiaufgebot und der Wasserwerfer der belgischen Polizeikollegen, der auch wiederholt eingesetzt wird. Es kommt zu ersten Festnahmen.
Kritik, Unverständnis und Dosenbier
Der Protest wird zunehmend lautstarker und radikaler. Die restliche Menge verlagert sich vom Glacis in die eigentlich gesperrte Zone. Darunter auch Familien mit Kindern, die es vorziehen, der Eskalation zuzusehen anstatt nach Hause zu gehen. Überhaupt verlassen nur wenige Menschen die Protestaktion. Die meisten scheinen sich schnell mit ihrer neuen Rolle als Krawalltouristen anzufreunden. Einige trinken Wein aus Pappbechern, die anderen Bier aus der Dose. Für durchaus skurrile musikalische Begleitung sorgt ein Dudelsack-Spieler, der die Avenue de la Porte Neuve auf und ab zieht.
Ein pensionierter Mathematiklehrer, Anfang 70, stört sich an der Vorgehensweise der Polizei: „Ich finde es unfassbar, dass die Polizei mit einem Wasserwerfer auf die Demonstranten losgeht.“ Er selbst betont, bisher bei fast jedem Protest dabei gewesen zu sein und das obwohl er selbst geimpft sei. Seine Begründung: Die Regierung gehe mit ihren Maßnahmen einfach zu weit. Die Menschen müssten Herr über ihre eigenen Körper bleiben.

Es ist eine Lesart, die auch ein Busfahrer aus Belvaux vertritt: „Ich finde die ganzen Maßnahmen übertrieben. Ich finde, man soll jene schützen, die wirklich von Corona betroffen sind, also die Alten und die Vorerkrankten. Die anderen soll man in Ruhe lassen“, so der Mitte-30-Jährige. Neben dem Protest gegen die Corona-Maßnahmen hat der Mann an diesem Nachmittag noch ein weiteres Anliegen: Er verteilt Flyer für ein Referendum über die Verfassungsreform. Zum ersten Mal, wie er sagt.
Erst nach und nach gewinnt die Polizei wieder die Oberhand. Gegen 17 Uhr löst sich die Demo nahezu komplett auf. Rund 50 Demonstranten gelingt es jedoch, in die Innenstadt zu gelangen. Die Polizei spricht zu diesem Zeitpunkt weiterhin von einer angespannten Lage.
Ein „Erfolg“ mit Beigeschmack
Doch auch das ist eine Wahrheit an diesem Samstag: Die Innenstadt ist gut besucht. Die wenigsten Menschen haben sich offenbar von der Demonstration einschüchtern lassen. In der Grand-Rue angekommen, wirken die zumeist jungen Demonstranten dann doch etwas verloren. Was auch mit der Begrüßung durch einige Passanten zu tun haben mag. Ein älterer Herr hat einen unmissverständlichen Ratschlag für einen Demonstranten: „Schumm dech.“
Sicherlich ein ungewohntes Bild im Stadtkern: Polizisten in schwerer Ausrüstung riegeln Straßen ab und schließen kurzzeitig den Weihnachtsmarkt. Und dennoch: Szenen wie am Samstag der Vorwoche wiederholen sich nicht. Gegen 19.30 Uhr verkündet die Polizei auf Twitter: „La situation au Centre-Ville s’est calmée.“

Die Bilanz des Tages: 19 Personen wurden in Gewahrsam genommen, zumeist wegen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung. Ein Polizist wurde mit einem Böller beworfen, doch niemand wurde verletzt. Wie die Polizei am Sonntag mitteilte, wurden gegen fünf Personen Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, illegalem Waffenbesitz sowie Aggressionen oder Drohungen.
„Aktionsplan“ gegen Polarisierung
Nach zwei sehr unterschiedlichen Samstagen in der Hauptstadt steht eine zentrale Frage im Raum: Wie soll es nun weitergehen? Eine Frage, die sich sowohl die Einsatzleitung der Polizei als auch die Protestierenden selbst stellen werden. Bei der Polizei dürfte der Einsatz vom Samstag als Erfolg gewertet werden. Doch gleichzeitig zeigten die Geschehnisse, dass eine Eskalation der Sicherheitslage nur mit massiver Polizeipräsenz verhindert werden konnte.
Auch Premierminister Xavier Bettel (DP) bedankte sich per Facebook-Post bei der Ordnungsmacht, die verhindert habe, „dass Hass und Gewalt sich ungestört in Luxemburg ausbreiten können“. Dafür erforderlich war jedoch ein hoher Material- und Personaleinsatz, samt wesentlicher Unterstützung durch belgische Kollegen. Fraglich ist, wie lange so ein Aufwand nachhaltig gewährleistet werden kann.
Die Regierung arbeitet ihrerseits an einem „Aktionsplan“, um das Problem dauerhaft in den Griff zu bekommen. „Die Regierung nimmt das Phänomen der Polarisierung und Radikalisierung eines Teils der Gesellschaft ernst“, so das weitere Statement des Premiers am Sonntag.
Die Gegner der Corona-Maßnahmen müssen sich indes die Frage gefallen lassen, ob sie von nun an Woche für Woche einem gewaltbereiten Mob das Feld überlassen wollen. Zumal sie selbst festgestellt haben dürften, dass es nahezu unmöglich sein dürfte, eine derart heterogene Gruppe von Protestierenden hinter einer Sache zu vereinen.
Denn auch das hat dieser Samstag gezeigt: Das Ziel der der Demonstrationen ist kein einheitliches. Entsprechend volatil ist ihr Mobilisierungspotenzial. Waren am vorherigen Samstag noch mehrere Tausend Protestierende auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs und sorgten punktuell für Chaos, so geht die Polizei für diesen Samstag von nurmehr rund 500 Demonstranten aus.