Prekäre Wohnverhältnisse sind nicht selten ein Grund für einen Schulabbruch. Die psychosozialen Dienste der Schulen wollen dem entgegenwirken. Doch um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, fordern sie mehr Anerkennung und politische Unterstützung für alternative Wohnmodelle.

„Ich muss mit der Schule aufhören und arbeiten gehen, um meine Miete bezahlen zu können. Nach Hause kann ich nicht zurück.“ Solche Sätze hört Anouk Reuter immer öfter. Sie ist Sozialarbeiterin im psychosozialen Dienst des „Lycée technique du Centre“ (LTC). Gut ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbringt sie mittlerweile mit der Suche nach alternativen Wohnmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, die nicht mehr zu Hause wohnen können. Sie hört zu, klärt auf, schreibt Anträge und vermittelt.

In der Wohnungsnot sieht sie einen nicht zu unterschätzenden und im Prinzip vermeidbaren Grund für den Abbruch einer Schullaufbahn. Eine schlechte Wohnsituation wird in dem aktuellen Bericht zu Schulabbrüchen zwar nicht ausdrücklich als Grund aufgeführt, doch Anouk Reuter ist überzeugt: „Prekäre Wohnverhältnisse bringen oft weitere Probleme mit sich. Wer sich zu Hause nicht wohl fühlt, der kann sich auch schwer auf die Schule konzentrieren.“

Anouk Reuter und ihre Kolleginnen und Kollegen versuchen zwar, einem verfrühten Schulabbruch so gut wie möglich entgegenzuwirken. Doch die Wohnungskrise im Land verschärft sich – trotz Bemühungen wie dem „Pacte du Logment II“ und der Reform des Mietgesetzes. Und dies hat direkte Auswirkungen auf ihre Arbeit. Gegen den Mangel an Wohnraum sind auch die psychosozialen Dienste der weiterführenden Schulen machtlos. Von überfüllten Auffangstrukturen, langen Wartelisten, fehlenden Alternativen und teils komplizierten Prozeduren ist die Rede.

Die Wohnungskrise und ihre Folgen

Es gibt viele Gründe, warum das Wohnen bei den Eltern nicht mehr möglich ist: Streitereien unter Familienmitgliedern. Patchwork-Familien, in denen eines der Kinder seinen Platz nicht findet. Beengte Wohnverhältnisse, in denen sich mehrere Kinder unterschiedlichen Alters ein Zimmer teilen müssen und ungestörtes Lernen unmöglich ist. Junge Erwachsene mit Flüchtlingsstatus, deren Eltern in das Heimatland zurückkehren, die selbst jedoch in Luxemburg bleiben und ihre Schule abschließen möchten.

Die subventionierten Angebote, die wir haben, sind zwar gut, doch es gibt schlicht viel zu wenig erschwinglichen und an die spezifischen Bedürfnisse von Schülern angepassten Wohnraum.“Anouk Reuter, Sozialarbeiterin

Oder häusliche Gewalt. Wie etwa bei der 20-Jährigen Schülerin Maya*, die Reporter.lu ihre Geschichte erzählte. Jahrelang teilte sich die 20-jährige Schülerin mit ihrer Schwester und ihrem Vater eine kleine Wohnung in der Hauptstadt. Viel zu lange ertrugen die beiden jungen Frauen die Launen, den Zorn und die Gewaltausbrüche des Vaters. Als die Schwester auszog, wusste Maya, dass auch sie nicht mehr mit ihrem Vater unter einem Dach leben konnte. „Ich war allein, hatte ständig Angst“, erzählt sie. „Ich musste sofort raus.“

Nach einigen Wochen, die sie bei einer Freundin verbrachte, konnte sie ins „Meederchershaus“ für Opfer von häuslicher Gewalt einziehen. Ihre Situation wurde von den zuständigen Behörden schnell als Härtefall eingestuft. Als ein Platz frei wurde, bekam Maya ihn zugeteilt. Sie wohnte über ein Jahr lang in der Einrichtung, deutlich länger als die ursprünglich für Notfallstrukturen vorgesehenen drei Monate. Doch genau das rettete sie.

Nachfrage wächst, Angebot bleibt knapp

Anouk Reuter spricht in Bezug auf die Notfallstrukturen von einem Teufelskreis. Viele seien überfüllt, da es den Menschen schlicht an Alternativen fehle. Selbst wenn sie nicht mehr auf die Betreuung in Notfallstrukturen angewiesen und in der Lage wären, autonom zu leben, sei der freie Markt schon aus finanziellen Gründen meist keine Option. „Die subventionierten Angebote, die wir haben, sind zwar gut, doch es gibt schlicht viel zu wenig erschwinglichen und an die spezifischen Bedürfnisse von Schülern und Schülerinnen angepassten Wohnraum“, beurteilt sie die aktuelle Situation.

Das Bildungsministerium ist sich der steigenden Not durchaus bewusst. „Die Zahl der Menschen, die einen Beihilfeantrag stellen, steigt von Jahr zu Jahr an“, heißt es im Tätigkeitsbericht von 2020. Insgesamt 6.847 Hilfsanträge jeglicher Art gingen im Jahr 2020 ein. Das sind knapp 200 mehr als noch im Vorjahr. Allein 476 davon waren Anfragen von jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren für einen Platz in Strukturen für betreutes Wohnen.

„Unterhaltsstipendium“ gegen den Schulabbruch

Seit 1987 bezuschusst das Bildungsministerium Schüler aus einkommensschwachen Familien. Die Hilfszahlungen wurden über die Jahre immer wieder den sich verändernden Bedürfnissen angepasst, teilt das Bildungsministerium auf Nachfrage von Reporter.lu mit. Mit dem Gesetz vom 22. Juni 2017 zur Organisation der „Maison de l’orientation“ wurde dann der Terminus „Subvention du maintien scolaire“ eingeführt. Es handelt sich hierbei um eine Art monatliches „Unterhaltsstipendium“, das Lebenshaltungskosten, Miete und Schulgebühren decken soll, um gezielt einem Schulabbruch aufgrund der Wohnsituation entgegenzuwirken.

Diese finanzielle Unterstützung beläuft sich im Monat durchschnittlich auf etwa 600 bis 730 Euro zuzüglich Kindergeld und ist nach Angaben des Bildungsministeriums auf höchstens 1.500 Euro begrenzt. Sie richtet sich an erwachsene Schüler und Schülerinnen, die sich, wie es im Aktivitätsbericht heißt, „in einer psychosozialen Notlage befinden und nicht mehr zu Hause wohnen können“. Im Schuljahr 2019/2020 profitierten 278 Schüler und Schülerinnen von diesen Hilfszahlungen, die sich insgesamt auf knapp 1,4 Millionen Euro beliefen.

Der Beweis der „psychosozialen Notlage“

Doch was ist eine „psychosoziale Notlage“? Längst nicht alle Schüler, die von zu Hause ausziehen und eine alternative Wohnmöglichkeit suchen, erfüllen die Kriterien des „Office national de l’enfance“. „Wir erstellen gemeinsam mit dem Schüler oder der Schülerin ein Dossier mit einer Beschreibung der aktuellen Situation und versuchen so, ihre psychosoziale Notlage zu beweisen“, erklärt Anouk Reuter die Arbeit der psychosozialen Dienste.

Für sie ist dieses Vorgehen an sich bereits fraglich: „Es ist erniedrigend, sein Leid detailgetreu zu offenbaren, um ein Zimmer zu bekommen“, sagt die Sozialarbeiterin. Sie vertritt die Meinung, dass ein Wohnproblem an sich schon eine Notlage darstellt, und weist auf die emotionale Komplexität hin, mit der die Betroffenen meist ohnehin schon konfrontiert seien. „Die einzelnen Situationen einzuschätzen, sollte unsere Aufgabe sein“, sagt sie. Eine alternative Wohnmöglichkeit zur Familie sollte ihrer Meinung nach nicht nur für absolute Härtefälle zur Verfügung stehen.

Wir versuchen jene aufzufangen, die durch das Netz fallen. Wir ziehen aber auch jene an, die uns eigentlich nicht bräuchten.“Georges Andrade, Direktor der Wunnengshëllef

Auch wenn im Jahr 2020 nur zehn Anträge für das „Unterhaltsstipendium“ abgelehnt wurden, heißt das noch lange nicht, dass auch allen Antragstellern eine vom Office national de l’enfance (ONE) verwaltete Unterkunft zur Verfügung gestellt werden kann. „Es reicht nicht, Geld zu verteilen“, sagt Anouk Reuter, die sich eine klare politische Strategie wünscht, um dem Mangel an alternativen Wohnmöglichkeiten entgegenzuwirken.

Das Koalitionsabkommen stellt eine „Vergrößerung des Angebots an Wohnraum für Jugendliche und die Entwicklung bezahlbarer alternativer und inklusiver Wohnkonzepte, die sich speziell an Jugendliche richten“ in Aussicht. Eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema beschäftigt, gibt es nach Angaben des Ministeriums aber auch drei Jahre nach den Wahlen nicht.

Alternativen zu Alternativen

Allerdings sind im gleichen Zeitraum neue Initiativen entstanden. Einige Organisationen und Gemeinden bieten Unterkünfte für junge Menschen, die nicht mehr bei ihren Familien bleiben können, zu moderaten Preisen an. Beispiele hierfür sind etwa die Nordstadjugend in Ettelbrück oder die Diva-Residenz in Esch. Auch im Stadtviertel Arboria in Differdingen gibt es Wohnungen und Studios, die gezielt jungen Menschen zwischen 18 und 27 Jahren zur Verfügung gestellt werden.

Der größte Anbieter für Jugendwohnungen bleibt aber der Verein Wunnengshëllef. „Wir versuchen jene aufzufangen, die durch das Netz fallen und die Kriterien des Office national de l’enfance nicht erfüllen“, sagt ihr Direktor Georges Andrade im Gespräch mit Reporter.lu. Auch für ihn ist die Mission seiner Einrichtung klar: Die Vermeidung möglichst vieler Schulabbrüche durch prekäre Wohnverhältnisse.

Solange die Gesetzgebung für alternative Wohnprojekte nicht vereinfacht wird, werden der Mangel an erschwinglichem Wohnraum und damit die Notlagen von vor allem jungen Menschen weiter wachsen.“Georges Andrade, Wunnengshëllef

Die Wunnengshëllef wird auch vom Bildungsministerium subventioniert, untersteht aber nicht dem ONE, sondern der Abteilung für Jugend. „Der Ansatz ist ein anderer“, erklärt Georges Andrade. Während das ONE eher der Ansprechpartner für Notfälle sei, setze die Wunnengshëllef mit ihrem Jugendprogramm vor allem auch auf Prävention.

100 Anfragen bekommt der Verein etwa jährlich von jungen Erwachsenen, die eines der 60 Zimmer in den von ihnen verwalteten Wohngemeinschaften bekommen möchten. Georges Andrade schätzt, dass etwa 20 bis 30 tatsächlich auch Jahr für Jahr vermittelt werden können. „Wir entwickeln uns weiter und wachsen seit Jahren“, sagt er.

Hürden für Wohngemeinschaften

Dennoch: Das Angebot könne nie groß genug sein, da mit den angebotenen Lösungen auch die Nachfrage wachse. „Wir haben heute die Möglichkeit, jungen Menschen ein Zimmer zu vermitteln, die wir vor ein paar Jahren aufgrund der Priorisierung härterer Fälle noch hätten ablehnen müssen“, so Georges Andrade. Auch für ihn stellen nicht die Hilfsstrukturen an sich, sondern die Knappheit an alternativen Wohnmöglichkeiten auf einem homogenen Wohnungsmarkt das Hauptproblem dar: „Wir ziehen viele Leute an, die uns eigentlich nicht bräuchten.“

„Solange die Gesetzgebung für alternative Wohnprojekte nicht vereinfacht wird, werden der Mangel an erschwinglichem Wohnraum und damit die Notlagen von vor allem jungen Menschen weiter wachsen“, meint Georges Andrade. Er erinnert in diesem Zusammenhang an die vor gut einem Jahr entfachte Diskussion in Esch/Alzette, wo die Gemeinde per allgemeinem Bebauungsplan Wohngemeinschaften quasi unmöglich machen sollte. Aus Angst vor Missbrauch wollte der Escher Bürgermeister Georges Mischo (CSV) Wohngemeinschaften in Zukunft noch stärker reglementieren und zumindest in Einfamilienhäusern verbieten.

Maya zieht übrigens gerade nach Amsterdam in eine Studenten-WG. In ein paar Wochen wird sie dort mit ihrem Englischstudium beginnen. Sie ist erleichtert und freut sich, denn sie weiß, es hätte auch ganz anders kommen können.

* Name wurde von der Redaktion geändert


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