Gleicher Lohn für gleiche Arbeit? In Brüssel gilt dieses Prinzip nicht. Neben hoch bezahlten Beamten greift die EU-Kommission vermehrt auf Arbeitskräfte zurück, die über externe Firmen beschäftigt werden. Die schlechten Arbeitsbedingungen der sogenannten „Intramuros“ sind kaum bekannt.
In den Brüsseler Institutionen ist es einfach, die EU-Angestellten von externen Mitarbeitern zu unterscheiden. Man braucht nur darauf zu achten, wer jeden Tag aufs Neue Taschen oder Rucksäcke öffnen und dem Sicherheitspersonal zur Inspektion vorzeigen muss. Anders als die EU-Bediensteten werden externe Mitarbeiter bei der morgendlichen Kontrolle nämlich nicht einfach durchgewunken. Für sie bleiben die Sicherheitsschranken erst einmal geschlossen. Und dies, obwohl sie jeden Tag und seit Jahren im gleichen EU-Gebäude arbeiten und das Sicherheitspersonal sie bereits beim Namen kennt.
Laut Recherchen von REPORTER sind diese Menschen kein Einzelfall. Sie arbeiten über externe Firmen für die verschiedenen EU-Institutionen, etwa als Interim-Experten oder als sogenannte „Intramuros“-Angestellte. Es sind besonders die Arbeitsverhältnisse der Intramuros (Latein für: innerhalb der Mauern), die aufhorchen lassen. Auf den ersten Blick unterscheidet sie wenig von gewöhnlichen Angestellten der EU-Institutionen. Sie sind Teil der gleichen Teams und arbeiten in den Büros der EU-Institutionen an EU-Projekten.
Es handelt es sich ganz klar um Sozialdumping.“Nicolas Mavraganis, Vizepräsident der „Union Syndicale Fédérale“
Doch all jene Vorteile, von denen sowohl die Beamten als auch die Vertragsbediensteten profitieren, die direkt für die EU arbeiten, werden den Intramuros nicht zuteil. Keine zusätzlichen Urlaubstage, keine Sprachkurse, keine Steuerfreiheit und eben kein Durchwinken bei der morgendlichen Kontrolle.
Der Grund: Die Intramuros werden nicht von den EU-Institutionen selbst eingestellt. Die Arbeitsverträge dieser externen Mitarbeiter laufen über externe Firmen, die sogenannte Rahmenverträge mit der Kommission abschließen. Diese externe Firmen fungieren anschließend als Arbeitgeber der Intramuros – und legen deren Arbeitsverhältnisse fest.
Arbeitnehmer zweiter Klasse
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte im September 2017 in seiner Rede zur Lage der Union noch, es dürfe in der EU keine Arbeitnehmer zweiter Klasse geben. Genau das ist aber in seinem eigenen Haus der Fall.
Die EU-Kommission greift regelmäßig auf diese Praktiken zurück. Die externen Firmen findet die Kommission mithilfe öffentlicher Ausschreibungen. In den Vereinbarungen wird bereits bis ins Detail festgeschrieben, welche Profile die Kommission benötigt. Die Firmen werden gebeten, jeweils mehrere Lebensläufe zu präsentieren. Letztlich sucht sich die Kommission dann selbst den Wunschkandidaten aus. Es ist eine Rekrutierung über Umwege. Verlierer des Systems sind die Intramuros.
Die Beschäftigungsklassen der EU
- EU-Beamte: Sie haben einen unbefristeten Arbeitsvertrag in der Verwaltung der EU mit diversen exklusiven Vergünstigungen.
- Vertragsbedienstete: Sie haben als „contract agents“ nur eine befristete Stelle und dürfen in der Regel maximal sechs Jahre in der Verwaltung der EU arbeiten. Zudem beziehen sie in der Regel niedrigere Gehälter als die EU-Beamten.
- Interim-Arbeiter: Sie werden für eine kurze und begrenzte Dauer über Zeitarbeitsfirmen eingestellt.
- Intramuros: Sie werden über externe Firmen eingestellt. Der Auftrag der Firmen ist klar: Sie sollen den EU-Institutionen ihre Arbeitnehmer zur Verfügung stellen. Die EU schließt mit diesen Firmen entsprechende Rahmenverträge ab – der Zuschlag erfolgt nach einer öffentlichen Ausschreibung jeweils für vier Jahre. Intramuros arbeiten während ihrer Arbeitszeit in den EU-Gebäuden meist im selben Team wie die EU-Beamten.
- Extramuros: Sie werden genau wie Intramuros über externe Firmen eingestellt. Im Gegensatz zu den Intramuros arbeiten Extramuros auf dem Gelände der Auftragnehmer und nicht in den EU-Gebäuden. Sie arbeiten an EU-Projekten.
Das häufige Zurückgreifen auf Intramuros-Angestellte durch die EU-Institutionen bestätigt Nicolas Mavraganis, Vizepräsident des Gewerkschaftsverbandes für EU-Beamte „Union Syndicale Fédérale (USF)“. „Ich habe schon oft beobachtet, dass drei bis vier verschiedene Profile – etwa ein Beamter, ein Vertragsagent und ein Intramuros – innerhalb der gleichen Einheit die gleiche Arbeit leisten. Und das, obwohl ihre Arbeits- und Vertragsbedingungen unterschiedlicher nicht sein könnten“, so Mavraganis im Gespräch mit REPORTER. Der Gewerkschafter spricht auch Gehaltsunterschiede offen an, die im Fall der Intramuros keineswegs an Qualifikation, Leistung und Arbeitsaufwand angepasst sind. Er selbst arbeitet in Luxemburg als EU-Beamter.
Mavraganis kennt das System und er weiß, was daran problematisch ist. Er nimmt kein Blatt vor den Mund: „Es handelt es sich ganz klar um Sozialdumping“. Das wahre Ausmaß der Outsourcing-Praktiken sei vielen unbekannt. Zudem hätten sich die Praktiken in den vergangenen Jahren eindeutig verschlimmert. Unter dem Sparzwang der EU-Institutionen und einer abgeänderten Vorgehensweise in öffentlichen Ausschreibungen sei nicht auszuschließen, dass die EU heute für ihre Rahmenverträge externe Firmen mit dem günstigsten Angebot für ihre Dienstleistung vorziehen würde. Was natürlich bedeute, dass der externe Mitarbeiter dabei ein niedrigeres Gehalt bezieht.
Arbeitsverträge mit zweifelhaften Klauseln
Im Alltag eines Journalisten in Brüssel ist es keine Seltenheit, Intramuros anzutreffen, die von privaten Firmen im Auftrag der EU eingestellt wurden. Einige von ihnen waren bereit unter Wahrung ihrer Anonymität mit REPORTER über ihre Situation und Details ihres Arbeitsvertrags zu sprechen.
Marie*, eine junge und hoch qualifizierte Frau, erzählt uns etwa, wieso sie überhaupt auf ein zweifelhaftes Angebot einer externen Firma einging, um einen Job in einer EU-Institution zu ergattern. Sie schildert, wie sie damals als Praktikantin bei der EU über eine interne E-Mail auf eine offene Stelle in ihrer Generaldirektion aufmerksam wurde. Im Stellenangebot wurde ein qualifizierter und diplomierter Arbeitnehmer für die Auswertung einer EU-Datenbank gesucht, die Rekrutierung sollte über eine externe Firma abgewickelt werden.
Es war ein ewiges Hin und Her, um den Vertrag vorher einsehen zu können. Mir wurde immer wieder gesagt, man müsse den Vertrag noch vorbereiten.“Eine Intramuros-Angestellte
Das Vorstellungsgespräch führte die EU-Abteilungsleiterin – von einer externen Firma war keine Spur. Nur der Papierkram lief über die Firma, für die Marie heute de facto arbeitet. Ansonsten hat sie mit dieser reichlich wenig zu tun. Sie untersteht direkt der Chefin ihrer Einheit, einer langjährigen Beamtin der EU-Kommission.
Marie berichtet, wie sie von Anfang an jeden Schritt ihres eigentlichen Arbeitgebers zu hinterfragen begann. Angefangen beim Arbeitsvertrag, den die junge Frau erst am Morgen ihres ersten Arbeitstages unterschreiben sollte. „Es war ein ewiges Hin und Her, um den Vertrag vorher einsehen zu können. Mir wurde immer wieder gesagt, man müsse den Vertrag noch vorbereiten“, erinnert sich Marie. Dabei stellte sich heraus, dass es sich um einen Standardarbeitsvertrag für alle Intramuros der Firma handelte, bei dem nur an zwei Stellen Maries Namen eingesetzt werden musste.
Bis zuletzt fehlte zudem ein separates Dokument mit allen Vertragsbedingungen, dem man mit der Unterschrift des Arbeitsvertrags automatisch zustimmte. Und die Firma machte Druck: Erst sollte Marie den ihr vorgelegten Arbeitsvertrag unterschreiben, danach wäre Zeit, etwaige Fragen zu besprechen.
Aus 8.000 Euro werden 2.000 Euro
In Brüssel ist ein solches Vorgehen keine Seltenheit. Die belgische Hauptstadt ist ein Haifischbecken in dem hunderte junger, studierter Arbeitnehmer um die heiß begehrten EU-Jobs kämpfen. Ihre oft mit Naivität gekoppelten Ambitionen nutzen Firmen wie im Fall von Marie schamlos aus. Dennoch: Was sich im Privatsektor vielleicht noch durch den Konkurrenzdruck rechtfertigen ließe, müsste für vorbildliche EU-Institutionen mit generell hohen arbeitsrechtlichen Anforderungen an die Mitgliedstaaten und Privatfirmen eigentlich ein klares Tabu sein.
Es versteht sich von selbst: Marie wird nicht von der EU selbst bezahlt – sie ist keine EU-Beamtin oder Vertragsbedienstete. Die Vergütung für die von ihr geleisteten Arbeit fließt zunächst an ihren Arbeitgeber, der nur einen Bruchteil an sie weiter überweist. Wie viel die EU-Kommission der externen Firma für Maries Profil zahlt, wollte sie auf Nachfrage hin nicht preisgeben. Klar ist jedoch: Ihr Bruttogehalt beträgt ein Drittel des Gehalts, das ein EU-Beamter mit gleicher Qualifikation verdient – laut offizieller Gehältertabelle.
Ich weiß, wie prekär die Lage von den externen Angestellten in vielen Fällen ist. Doch ich kann nichts tun.“Eine Budgetverantwortliche der EU-Kommission
Andere Firma, gleiches Spiel. Gesucht wurde dieses Mal ein Projektmanager, der Experten bei der Kommunikationsarbeit helfen sollte. Die Beschreibung des Intramuros-Posten klang nicht einmal so schlecht: ein facettenreicher Job mit reichlich Verantwortung. Das ganze für ein Bruttogehalt von 2.000 Euro. Zum Vergleich: Das Nettogehalt entspricht dann etwa jenem der EU-Praktikanten.
Als Praktikant hatte ein Kandidat bereits einen guten Draht zu festen Mitarbeitern. Auf Anfrage hin gestattete ihm ein kommissionsinterner Beamte einen Blick auf das Budget. Das Resultat: Für sein Profil zahlt die EU-Kommission monatlich rund 8.000 Euro an eine externe Firma.
Auch nach Abziehen der Steuern und Sozialkosten, die für den Arbeitgeber anfallen, bleibt der externen Firma also eine bedeutende Marge, die sie selbst sozusagen als Mittelsmann zwischen der EU-Institution und dem Intramuros kassiert. REPORTER-Recherchen ergaben, dass ein derart disproportionierter Unterschied zwischen dem von der Firma bezogenen Entgelt für das Zurverfügungstellen des Intramuros und dem Bruttogehalt des Intramuros kein Einzelfall ist.
Kommission fühlt sich nicht verantwortlich
Warum stellt die Kommission nicht einfach mehr Beamte oder Vertragsbedienstete ein? Eine zuständige Beamtin winkt ab. Dies laufe über ein anderes Budget, müsste offiziell angefragt werden und eine separate Finanzkontrolle durchlaufen. Für die meisten Einheiten ist dieses Vorgehen angesichts der Sparmaßnahmen keine Option mehr. Die Intramuros dagegen sind Mitarbeiter, die schnell zu Hand sind und sich ohne Umstände auswechseln lassen. Passen sie nicht ins Team oder bringen nicht die gewünschte Leistung, können sie schnell ersetzt werden.
Das Einstellen von Intramuros funktioniert wohl auch deswegen so leicht, weil die Vertragsvergabe nicht zentral geregelt ist: Die Verträge würden aus unterschiedlichen Budgets finanziert und von den vielen Abteilungen innerhalb der EU verwaltet, erläutert die Kommission auf Nachfrage. Das erklärt nicht zuletzt, wieso die Kommission kaum einen Überblick über die Praktiken hat. Auf Nachfrage von REPORTER, waren die Kommissionssprecher nicht in der Lage, konkrete Zahlen zu liefern.
Wir können von der Kommission keine Hilfe erwarten. Wir sind nicht deren Angestellte. Wieso sollte sie uns also beschützen?“Ein bei der EU-Kommission arbeitender Intramuros-Angestellter
Die Rekrutierung der Intramuros läuft über die unterschiedlichen Abteilungen der EU-Kommission. Sie haben jeweils ihren eigenen Haushalt, der auch die Rekrutierung dieser provisorischen und externen Arbeitskräfte abdecken soll. Dies bestätigt eine EU-Budgetverantwortliche im Gespräch mit REPORTER. Sie bedauert, dass den jeweiligen Budgetverwaltern oft die Hände gebunden sind. „Ich weiß, wie prekär die Lage der externen Angestellten in vielen Fällen ist. Doch ich kann nichts tun“, sagt sie.
Das liegt unter anderem daran, dass es den externen Mitarbeitern ihrer Einheit eigentlich nicht erlaubt ist, mit Außenstehenden – und dazu gehört auch die Kommission – über ihren Vertrag oder ihr Gehalt zu sprechen. Selbst Budgetverwalter, die diese Intramuros für bestimmte EU-Einheiten einstellen, kennen das tatsächlich vom Intramuros bezogene Gehalt und andere Vertragsklauseln nicht.
Das wissen auch die Intramuros: „Meine Teamchefin in der Kommission weiß von meinem Arbeitsvertrag gar nichts, dabei unterstehe ich in der Praxis bloß ihr. Ich kann innerhalb der EU mit niemandem über mein Gehalt reden, mich an niemanden wenden. Meine Firma blockiert alles“, so ein Familienvater. Er arbeitet bereits seit mehreren Jahren als Intramuros, ohne je das Gehalt zu beziehen, das ihm eigentlich gemäß seiner Qualifikationen und Arbeitsleistung zustehen könnte.
Vermittlungsfirmen profitieren von der Praxis
Der Umweg über externe Firmen sei die einzige Möglichkeit, dem Arbeitsaufwand innerhalb der Abteilung gerecht zu werden, sagt die für die Rekrutierung der Intramuros zuständige EU-Beamtin. Gerade in den kleinen Direktionen wurde der finanzielle Spielraum in den vergangenen Jahren immer enger.
Die einzelnen Einheiten haben zwar eine Rekrutierungsfreiheit für Intramuros, sind aber an die Rahmenverträge gebunden, die die Generaldirektion mit den jeweiligen Arbeitgebern der Intramuros ausgearbeitet hat. Alle Versuche der EU-Beamtin, Intramuros zu helfen und ihnen eine finanzielle Anerkennung für die geleistete Arbeit zu geben, scheiterten bislang.
So berichtet sie, wie sie das Profil eines externen Mitarbeiters im Rahmen eines erneuerten Arbeitsverhältnisses bewusst hochstufte. Kommissionsinterne Richtlinien geben nämlich die Vergütung gemäß Profil und Titel an, die einfachste Unterscheidung ist dabei die eines „Junior“ oder „Senior“-Profils. Der Logik zufolge hätte die Anpassung des Profils für den Intramuros mit einem höheren Gehalt einhergehen müssen – immerhin wurde jetzt offiziell mehr von ihm verlangt. Dem sollte allerdings nicht so sein.
Als die Budgetverwalterin den Intramuros Wochen später auf seine doch nun sichtlich verbesserte finanzielle Situation ansprach, fiel dieser aus allen Wolken. Eine Gehaltserhöhung hatte er von seinem Arbeitgeber nicht erhalten. Die Mehrausgaben seitens der Kommission kassierte die externe Firma als Überschuss.
Die Kommission schaut weg
Die EU-Kommission hätte durchaus die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Etwa indem sie Ausschreibungen und Verträge anders formulieren würde und unter anderem eine Mindestgehaltsklausel für den Arbeitnehmer festlegen würde. Ein Betroffener bringt das Arbeitsverhältnis zwischen den Intramuros und den EU-Institutionen auf den Punkt: „Wir können von der Kommission keine Hilfe erwarten. Wir sind nicht deren Angestellte. Wieso sollte sie uns also beschützen?“
Auch inhaltlich nutzten die Firmen die Grauzonen der belgischen Gesetze geschickt aus: von der Berechnung der Arbeitszeit über Klauseln zur Kündigungsfrist bis hin zu fragwürdigen Forderungen hinsichtlich der Krankheitstage.

Kritisch äußert sich diesbezüglich auch Spyros Pappas, der zwischen 1995 und 2001 als Generaldirektor verschiedener Abteilungen in der EU-Kommission gearbeitet hat. Als Brüsseler Insider sind ihm die internen Rekrutierungsabläufe zweifelsohne bekannt.
Die Intramuros arbeiten für das Gemeinschaftsinteresse. Es wäre nur fair, wenn die Kommission sie direkt unter Vertrag nähme.“Spyros Pappas, früherer EU-Spitzenbeamte
Dass die Institutionen jegliche Verantwortung über die Intramuros von sich weisen, sei „scheinheilig“, sagt der heutige Anwalt im Gespräch mit REPORTER. Besonders die Vertraulichkeitsklausel, die im Arbeitsvertrag der meisten Intramuros steht und ihnen jedes Offenlegen ihrer Situation gegenüber der EU-Kommission verbietet, sei kontraproduktiv. „Die Intramuros arbeiten für das Gemeinschaftsinteresse. Es wäre nur fair, wenn die Kommission sie direkt unter Vertrag nähme“, so Spyros Pappas. Dennoch betont er, dass die Betroffenen so immerhin die Möglichkeit hätten, leicht und ohne die sonst üblichen Einstellungsprüfungen in der Kommission Fuß zu fassen.
Andererseits geben mehrere Quellen zu bedenken, dass ein Intramuros-Vertrag alles andere als ein Freifahrtschein für eine zukünftige Festanstellung bei der Kommission ist. Viele Betroffene sitzen jahrelang ohne Aussicht auf berufliche Entwicklung oder Gehaltserhöhung regelrecht fest. Wie prekär die Arbeitsverhältnisse der Intramuros sind, offenbart übrigens auch ihr Spitzname: In der Branche werden sie als „Kleenex-Personal“ bezeichnet – frei nach der Wegwerfkultur eines Papier-Taschentuchs.
Der Sparzwang der EU verschlimmert die Lage
Je tiefer das Gehalt der Angestellten, desto höher die Marge und somit der Verdienst für die Firma, die die Verträge mit der Kommission abschließt. Doch die Abwärtsspirale beginnt nicht erst bei den Firmen, betont der Gewerkschafter Nicolas Mavraganis: Der Druck komme von oben, denn die Mitgliedsstaaten wollten nicht zu tief in die Tasche greifen. Demnach müsse die EU-Kommission sparen.
Während die EU noch bis vor Kurzem in ihren öffentlichen Ausschreibungen eine Vergütung festschrieb, bittet sie externe Firmen heute, ihr einen Preisvorschlag zu unterbreiten. Dies berge natürlich das Risiko, dass der Auftrag an die Firma mit dem günstigsten Angebot für den Job gehe, warnt Mavraganis.
Fest steht: Die Kommission hob bei der Vorstellung des neuen EU-Budgets im Mai dieses Jahres hervor, dass sie die Zahl der internen Mitarbeiter seit 2013 um fünf Prozent reduziert habe. Zugleich betonte sie, dass die Arbeitslast angestiegen sei. Wie lässt sich das vereinbaren? „Der Griff zu den viel günstigeren Intramuros liegt nahe“, meint der Vizepräsident der „Union Syndicale Fédérale“.
Der Kommission fehlt der Überblick
Es fällt auf, dass die EU-Kommission keinen Überblick über die Anzahl der Intramuros hat, die sich tagtäglich in ihren Büros tummeln. Dies wird nicht zuletzt dadurch ersichtlich, dass die sie es nicht schaffte, REPORTER handfeste Informationen bezüglich der Rahmenverträge zu liefern. Auf wiederholte Nachfrage hieß es nach vierwöchigem Hinhalten, dass man seitens der Kommission nicht über die vollständige Liste aller Rahmenverträge verfüge. So könne man auch die aktuelle Anzahl an Intramuros-Dienstleister nicht errechnen.
Die Kommunikationsstelle verwies schließlich auf das EU-Finanztransparenzsystem, das die zugeteilten Ausschreibungen und deren finanziellen Rahmen auflistet. In diesem Fall ist es alles andere als transparent, denn es lassen sich keine Rückschlüsse bezüglich der genauen Anzahl der heute in EU-Gebäuden arbeitenden Intramuos ziehen.
Das Problem ist den Kommissionsvertretern seit langem bekannt. Spätestens seit der Veröffentlichung des Managementplans der Generaldirektion für Kommunikation (DG COMM) von 2018 können auch Politiker auf höchster Ebene ihre Unkenntnis über die Missstände rund um die Einstellungspolitik nicht mehr glaubwürdig bekunden. In diesem Bericht heißt es: „Die Generaldirektion hat einen hohen Anteil an Fremddienstleistern, insbesondere in den Abteilungen für Audiovisuelles und Webdienste. Da diese Teams Dienste für die gesamte Kommission leisten, ist es notwendig eine Outsourcing-Strategie für die Generaldirektion auszuarbeiten, um die Probleme bezüglich der hohen Anzahl an Intramuros-Dienstleistern zu regeln.“ **
Es ist skandalös, dass die Kommission ihre Vertragspartner und Mitgliedsstaaten für unfaire Arbeitsbedingungen an den Pranger stellt und solche Praktiken selbst anwendet.“Wolf Kinz, EU-Parlamentarier
Der deutsche Abgeordnete Wolf Klinz (ALDE), der im Wirtschafts- und Währungs- sowie im Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments sitzt, findet die Praktiken befremdlich. Besonders entrüstet ist der Liberale, dass sich das EU-Parlament bis dato nicht des Ausmaßes des Problems bewusst war. Klinz ist überrascht, dass die Tatsachen im Haushaltskontrollausschuss des Parlaments bisher nicht als Missstände signalisiert wurden. Dass für bestimmte, zeitlich begrenzte Dienste externe Firmen beauftragt würden, wäre eine Sache. Dass die Kommission im großen Stil auf Intramuros zurückgreift, findet der Abgeordnete allerdings „schockierend“.
Zudem kritisiert Wolf Klinz die mangelnde Transparenz: „Es kann nicht sein, dass die Kommission keinen Überblick über die Zahlen hat. Eine zentrale Stelle, und zwar in diesem Fall die Generaldirektion für Humanressources, müsste klare Richtlinien erarbeiten, nach denen sich alle richten müssen.“ Der Abgeordnete urteilt: „Es ist skandalös, dass die Kommission ihre Vertragspartner und Mitgliedsstaaten für unfaire Arbeitsbedingungen an den Pranger stellt und solche Praktiken selbst anwendet.“
Auch der deutsche EU-Parlamentarier Sven Giegold (Grüne) und Berichterstatter für Transparenz, Rechenschaftspflicht und Integrität in den EU-Institutionen sieht in diesen Outsourcing-Praktiken eine Form von Doppelmoral. Im Gespräch mit REPORTER erinnert er an die vielen Privilegien, die feste EU-Mitarbeiter genießen. Der Abgeordnete sieht einen klaren Widerspruch. „Auf der einen Seite verteilt die Kommission Privilegien an ihre Beamten und stellt diese nicht infrage. Auf der anderen Seite sieht man aber dann, dass sich Drittfirmen bedienen, damit Menschen mit prekären Vertragsverhältnissen die gleiche Arbeit wie sie leisten“, moniert Giegold.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
Der Gewerkschaftler Mavraganis betont, die Kommission erwarte einen Arbeitsumfang, der vom eigenen Personal nicht zu bewältigen sei. Wie es die einzelnen Generaldirektionen anstellen, die Arbeit zu meistern, wolle in der Chefetage niemand so genau wissen. Nach dem Motto: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Mavraganis kennt die Ausreden der Kommission. Sie würde meist sehr spezifische Profile suchen, die man nicht so leicht ausfindig machen könne, so das Argument. In Anbetracht der häufigen Einstellung von Junior-Profilen mit nur wenig Berufserfahrung hält diese oft genannte Begründung allerdings nicht stand. REPORTER-Informationen zufolge werden häufig ehemalige EU-Praktikanten als spätere Intramuros verpflichtet. Sie sind meist mehrsprachig, haben oft mehrere Uni-Abschlüsse. Trotzdem seien sie leicht zu manipulieren und akzeptierten oft jedes Gehalt, um in Brüssel bleiben zu können, bestätigt auch Mavraganis.
Viele der heutigen Intramuros sind junge, diplomierte und hoch qualifizierte Arbeitnehmer. Meist sind sie auch stolze EU-Verfechter, die einst davon träumten, einen Fuß in die Tür einer EU-Institution zu bekommen und dort ihren Beitrag zum Projekt eines geeinten Europas zu leisten. Ihre Hoffnung, irgendwann fest als EU-Beamter angestellt zu werden, haben viele inzwischen aufgegeben.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.
** Originalversion des Managementplans der Generaldirektion für Kommunikation (DG COMM) von 2018 in Englisch: „The Directorate-General for Communication has a high proportion of external service providers, in its audio-visual and web-related departments in particular. As these teams offer services to the whole Commission, it has become necessary to develop an Outsourcing Strategy for the Directorate-General for Communication to frame and address current issues linked to these high numbers of intramuros contractors.“