Seit Jahresbeginn regieren die Nationalisten auf Korsika mit absoluter Mehrheit und fordern von Paris die Selbstbestimmung. „A Francia fora“ („Frankreich hinaus“) lautet ihr Wahlspruch. Doch Paris will davon nichts wissen. Ein Besuch auf der Insel.
Langsam erhebt sich die Sonne über Ajaccio und taucht die Häuser der korsischen Hauptstadt in ein warmes Licht. Im Bistro La Casa Bonaparte treffen sich die Korsen zum morgendlichen Kaffee. Hier, gleich neben Napoleons Geburtshaus, wo sich Stammgäste im Sommer über die Touristenmassen beschweren, animiert seit drei Monaten ein anderes Thema die Gespräche: Korsikas Regionalregierung. „Die Autonomie war noch nie so nahe“, ruft ein Rentner. Ein Geschichtslehrer vom Nebentisch mischt sich ein. „Hör doch auf“, ruft er. Dann dreht er sich zu seiner Begleitung und flüstert: „Diese Nationalisten. Und dabei haben viele nicht einmal korsische Vorfahren.“ Der Wirt kommt hinzu. „Lasst ihnen eine Chance“, sagt er, „immerhin bieten sie Paris die Stirn.“
Mit 56% der Stimmen haben die Nationalisten die Regionalwahl auf Korsika im vergangenen Dezember gewonnen. Die Allianz von Autonomisten und Separatisten hat damit nicht nur die absolute Mehrheit im korsischen Parlament inne, sondern, dank eines neuen Sonderstatus, auch mehr Macht als alle ihre Vorgänger. Denn mit Ende 2017 wurden die bisherigen zwei Départements der Insel aufgelöst und ihre Kompetenzen auf die neue „einheitliche Gebietskörperschaft“ übertragen.
In der nördlichen Küstenstadt Bastia ließen sich der Autonomistenchef Gilles Simeoni und der Separatistenführer Jean-Guy Talamoni feiern. Auf den Straßen schwenkten zahlreiche Menschen die korsische Fahne: der Mohrenkopf auf weißem Grund. Einzig die geringe Wahlbeteiligung von 52% verlieh dem Sieg einen bitteren Beigeschmack. Unterdessen blickte Paris besorgt auf die Mittelmeerinsel. „Könnte Korsika Kataloniens Beispiel folgen?“, grübelten Experten, Historiker und Journalisten.
Aufstieg der Nationalisten
Autonomiebestrebungen sind auf Korsika nichts Neues. Die Insel, die dreimal so groß ist wie Luxemburg, aber nur halb so viele Einwohner hat, gehört erst seit 1768 zu Frankreich. Davor war sie jahrhundertelang Teil von Pisa und Genua.1755 erkämpften sich die Korsen sogar kurz die Unabhängigkeit. Doch international anerkannt wurde das unabhängige Korsika nicht und nur 13 Jahre später annektierten es die Franzosen.
Die Nationalisten und ihre Anhänger heben das noch heute gerne hervor: „Wir wurden einfach eingenommen“, ärgert sich Jean-Pierre Raviola. Der 63-Jährige geht am Marktplatz Ajaccios spazieren. Er habe sich nie als Franzose gefühlt. „Ich hoffe, eines Tages in einem unabhängigen Korsika zu leben“, sagt er.
Für das nationalistische Bündnis steht die Unabhängigkeit jedoch derzeit nicht an der Tagesordnung. Die stimmenstärkeren und gemäßigteren Autonomisten wollen ein weitgehend selbstbestimmtes Korsika innerhalb Frankreichs. Die radikaleren Separatisten wünschen sich in frühestens zehn Jahren ein Referendum.
Die Jugend hat ein verklärt romantisches Bild vom bewaffneten Konflikt, weil sie die Jahre der schlimmsten Gewalt nicht erlebt hat.Antoine Albertini, Journalist
Der politische Aufstieg der Nationalisten begann 2014. Damals bildete der Autonomistenchef Gilles Simeoni eine ungewöhnliche Allianz mit Konservativen und Linken und gewann so die Gemeinderatswahl in Bastia. Er löste damit eine linke Familie ab, die die Stadt seit 1968 regierte. „Simeoni hat den Macronismus erfunden, noch bevor Emmanuel Macron Minister wurde“, schmunzelt Antoine Albertini, der stellvertretende Chefredakteur von Corse-Matin, der einzigen Tageszeitung der Insel.
2015 siegten die Nationalisten erstmals bei einer Regionalwahl. Im ersten Durchgang traten Autonomisten und Separatisten noch mit getrennten Listen an. Für die zweite Runde schlossen sie sich unter Simeonis Führung im Bündnis Pè a Corsica zusammen. Sie erzielten 35% der Stimmen. Gilles Simeoni wurde als Präsident des Exekutivrats, der korsischen Mini-Regierung, vereidigt, der Separatist Jean-Guy Talamoni als Präsident des korsischen Parlaments. Beide hielten ihre Antrittsrede auf Korsisch.
Eigene Sprache als Anliegen
Die korsische Sprache ist eines der großen Anliegen der Nationalisten. Sie wollen sie vor dem Verschwinden bewahren. Am liebsten wäre ihnen dazu, dass Paris sie zur zweiten Amtssprache auf der Insel macht. Unter den älteren Insulanern sprechen bis heute die meisten fließend Korsisch, bei der Jugend sind es nur mehr wenige, obwohl fast alle Schulen Korsischunterricht und viele auch zweisprachige Klassen anbieten.
Im Lycée Fesch, einem prunkvollen Gymnasium am Hafen Ajaccios, unterrichtet Paul-Vincent Mucchielli die Sprache seit knapp zwanzig Jahren. Vor elf Sechzehnjährigen spricht er über ihren Ursprung, ihre Verwandtschaft zum Italienischen und ihre Eigenheiten. Oft werde aber vergessen, welche Vorteile das Korsische bringt, meint Mucchielli. „Dabei kann man damit auch in Italien arbeiten“, sagt er.
Neben der zweiten Amtssprache forderten die Nationalisten nach ihrem Wahlsieg von Paris auch die Freilassung inhaftierter Unabhängigkeitskämpfer und die Einführung eines „Einwohnerstatus“. Damit wollen sie mitunter Millionären vom Festland den Kauf von Ferienvillen auf der Insel erschweren und so der Explosion der Immobilienpreise entgegenwirken.
Eine der größten Herausforderungen für die Lokalregierung ist wohl Korsikas marode Wirtschaft: 20 Prozent der Korsen leben unter der Armutsgrenze, mehr als in jeder anderen Region Metropolfrankreichs. Auch die Arbeitslosenquote ist mit 10,2 Prozent höher als auf dem Festland, der Bildungsgrad geringer. Von den jungen Korsen, die zum Studieren nach Paris, Nizza oder Marseilles gehen, kommen nur wenige zurück. Die Infrastruktur der Insel ist schlecht, das gebirgige Landesinnere dünn besiedelt. Die meisten der 326.000 Insulaner leben an der Küste, vom Tourismus, Beamtenstellen und Subventionen des Staates. Weil die Freiheiten der korsischen Regierung in der Wirtschaftspolitik trotz Sonderstatus begrenzt sind, wünschen sich auch viele Unternehmer die Autonomie.
Zum gemäßigten Nationalismus
„Die Korsen identifizieren sich mit den Themen der Nationalisten“, analysiert der Meinungsforscher Jérôme Fourquet. Als ausschlaggebend für ihren Wahlerfolg sieht Fourquet den Wunsch der Insulaner nach politischer Erneuerung. Jahrzehntelang war Korsika von drei Familien regiert worden, die oft wegen Korruption von sich reden machten.
Auch Gilles Simeoni hat wohl entscheidend zum Wahlsieg beigetragen. Selbst bei Autonomiegegnern genießt der charismatische Fünfzigjährige hohes Ansehen. Sein schelmisches Lächeln brachte ihm den Spitznamen „korsischer Obama“ ein. Manche nennen ihn auch „korsischen Macron“, was aber nicht überall gut ankommt. Frankreichs Staatschef konnte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 auf Korsika nicht punkten: Im ersten Durchgang landete er auf dem dritten Platz, hinter Marine Le Pen und François Fillon.

Simeonis Vater startete Korsikas bewaffneten Kampf für die Autonomie. 1975 besetzte Edmond Simeoni mit rund zwanzig Männern das Weingut eines Algerierfranzosen bei Aleria. Das Kommando prangerte Frankreichs Politik an, die die Ansiedlung von Franzosen aus den ehemaligen Kolonien förderte und ihnen Vorteile gegenüber der korsischen Bauern einräumte. Paris schickte gepanzerte Fahrzeuge, Helikopter und über tausend Polizisten und Gendarmen. Zwei wurden von den Nationalisten erschossen.
Ein Jahr später entstand die Untergrundbewegung Frontu di Liberazione Naziunale Corsu (FLNC). Ihre Mitglieder verübten zahlreiche Anschläge, konzentrierten sich dabei aber meist auf staatliche Gebäude und Ferienhäuser von Festlandfranzosen. 2014 kündigte die FLNC an, die Waffen niederzulegen, was die Nationalisten für viele Korsen vollends wählbar machte.
Ein Mord bleibt ganz Frankreich aber bis heute im Gedächtnis: der am Präfekten Claude Erignac. 1998 erschoss der Nationalist Yvan Colonna Frankreichs höchsten Vertreter auf Korsika und versetzte das Land in Aufruhr. Seitdem findet in Ajaccio jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung statt. Letzten Februar, zum zwanzigsten Jahrestag, war Emmanuel Macron anwesend – als erstes französisches Staatsoberhaupt.
Paris schließt Autonomie weiter aus
In einer feierlichen Zeremonie weihte Macron den Place Erignac ein: an der Straßenecke, an der der Präfekt erschossen wurde. Dort, abseits des belebten Zentrums, steht seitdem ein Olivenbaum. Ein Mann hält davor inne. Den Präfekten habe er gekannt, „ein sympathischer Mensch“, sagt er. „Trotzdem braucht Macron nicht herzukommen und uns Lektionen zu erteilen“, fährt er fort.
Die Korsen hatten sich viel von Macrons Besuch erwartet. Er sollte auch die Verhandlungen über die Autonomie voranbringen. Doch Frankreichs Präsident lehnte fast alle Forderungen ab. Nur einer Erwähnung Korsikas in der französischen Verfassung stimmte er zu. Die soll bei der ohnehin geplanten Verfassungsreform im Frühling umgesetzt werden.
Die absolute Mehrheit der Korsen hat uns ihr Vertrauen ausgesprochen. Wenn Macron unsere Forderungen ablehnt, ist das anti-demokratisch. Jean-Guy Talamoni, Separatistenführer
Mitte März legten die Nationalisten Macrons Regierung einen Entwurf zur Reform vor, der die Autonomie der Insel vorsieht und die Regionalregierung ermächtigt, in vielen Politikbereichen Gesetze zu erlassen. Doch Paris geht der Vorschlag zu weit. Das Wort Autonomie werde im Zusammenhang mit Korsika nicht vorkommen, erklärte Frankreichs Korsika-Beauftragte Jacqueline Gourault. Und auch die neuen Kompetenzen der Regionalregierung dürften eher bescheiden ausfallen.
„Der aktuelle Stand entspricht bei weitem nicht unseren Erwartungen“, bedauert Gilles Simeoni. Seit Macrons Besuch spricht er von „einer verpatzten Gelegenheit“, der Separatistenführer Jean-Guy Talamoni gar von einer „Erniedrigung der Korsen“. Die Partei des 57-Jährigen ist der legale Arm der FLNC. Am Festland schockierte er 2016, als er Frankreich als „befreundetes Nachbarland“ bezeichnete. Heute lehrt er korsische Literatur in Corte, an der einzigen Universität der Insel.
„Dann bricht auf Korsika die Hölle los…“
Das 7.000-Einwohnerstädtchen im gebirgigen Landesinneren gilt als Hochburg der Nationalisten. An vielen Hausmauern prangen Graffiti wie „A Francia fora“, Frankreich hinaus. Talamoni sitzt in einem Café nahe des Campus. „Die absolute Mehrheit der Korsen hat uns ihr Vertrauen ausgesprochen. Wenn Macron unsere Forderungen ablehnt, ist das anti-demokratisch“, sagt er. Sollte die Regionalregierung nun auch bei der Verfassungsreform scheitern, „dann bricht auf Korsika die Hölle los“, ist er sicher.
Bereits Anfang Februar hatten die Nationalisten eine Demonstration in Ajaccio organisiert, um sich gegenüber Paris Gehör zu verschaffen. Nach ihren Angaben kamen 20.000 Menschen, laut Präfektur waren es knapp 6.000.
Bisher zeigten nur einige junge Korsen ihren Unmut über Macrons Besuch. In Corte blockierten elf Studenten drei Tage lang die Rechtsfakultät und traten in Hungerstreik – ein Bruchteil der 4.600 Studierenden. „Doch wir geben nicht klein bei“, sagt Anna-Maria Graziani. Sie ist die Vorsitzende von Ghjuventù indipendentista, einer von drei nationalistischen Gewerkschaften an der Universität.
In einem Veranstaltungszelt legt die 20-Jährige Flyer bereit. Neben ihr richten zwei Mädchen Getränke und Sandwiches. Die Studenten bereiten sich auf eine dreitägige Debatte zum Thema „Unabhängigkeitsbestrebung“ vor. Dazu haben sie Aktivisten aus Katalonien, dem Baskenland und Sardinien eingeladen.
An diesem Abend sollen ehemalige Unabhängigkeitskämpfer vor dem Publikum sprechen. Auf der Bühne bereiten junge Männer die Technik vor. Hinter den Rednerpult hängen sie ein Banner mit einem maskierten Mann, ein Mitglied der FLNC. Darunter steht: „Eroi di l’eternu“ – ewiger Held. „Die Jugend hat ein verklärt romantisches Bild vom bewaffneten Konflikt, weil sie die Jahre der schlimmsten Gewalt nicht erlebt hat“, erklärt der Journalist Antoine Albertini. Vor allem in den 90er Jahren lieferten sich verschiedene Gruppen der zersplitterten FLNC brutale Bandenkriege, bei denen viele Menschen ums Leben kamen.
Von den jungen Korsen wird das gerne vergessen. „Für sie ist es hipp, Nationalist zu sein“, meint Albertini. Er verfolgt seit Jahren den Aufstieg der Nationalisten. „Vor allem die Autonomisten haben mit ihrer Eloquenz viele Korsen überzeugt“, denkt er. Hinter den patriotischen Slogans fehle aber bislang die politische Umsetzung. Ob es den Korsen mit der Autonomie wirklich besser gehen würde? Er lacht: „Das weiß zum heutigen Zeitpunkt wohl keiner.“