Mit dem UN-Migrationspakt verlagert sich die Kontroverse der Flüchtlingspolitik auf eine neue Zielscheibe. Die nicht immer sachliche Kritik an dem Pakt sollte man mit nüchternen Fakten kontern. Dazu gehört, dass auch Migranten unveräußerliche Grundrechte haben. Ein Kommentar.
Zwei Bemerkungen vorweg. Der UN-Migrationspakt ist kein Plädoyer für mehr Migration. Und das Abkommen ist nicht bindend. Beides wird inmitten der aktuellen Debatten gerne vergessen. Fast zwei Jahre war es still um den im September 2016 beschlossenen Pakt, den ursprünglich alle 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterstützt haben.
Nun auf einmal wurde der 34-seitige Text zum Streitpunkt und Spielball für Politiker, um so migrationskritische Wähler auf ihre Seite zu bringen. Der Migrationspakt untergrabe die nationale Souveränität, heißt es. Er fördere die Migration, verwische die Grenzen zwischen legaler und illegaler Migration und sei nicht demokratisch legitim zustande gekommen.
Dass die meisten dieser Argumente kaum haltbar sind, wird spätestens dann klar, wenn man sich den Text durchliest. Die Debatten zeigen eher: Ein positiver Migrationsdiskurs wird heute fast unmöglich, weil ihn fast niemand mehr führt. Auch der Migrationspakt ist eine Ansammlung von politischen Diagnosen und pragmatischen Lösungsansätzen. Als Feindbild der Asylkritiker eignet er sich eigentlich nicht.
Es geht um unveräußerliche Menschenrechte
Wenn der Migrationspakt aber eines „verbrochen hat“: Er betont ausdrücklich, dass auch Migranten Rechte haben. Der Pakt will jenen einen minimalen Grad an Schutz garantieren, die aus ihren Heimatstaaten flüchten, jedoch nicht unter die Genfer Konvention fallen.
Sobald die Menschen ihre Heimat verlassen, haben sie keine Rechte mehr. Für Schmuggler werden sie zur Ware, für Grenzposten zum Feind, für Regierungen zum Spielball, für Industrieländer zur Bedrohung.“
Immer wieder werden fundamentale Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten im Text erwähnt. Zu Recht. Denn während die Rechte von (anerkannten) Flüchtlingen durch das UN-Flüchtlingswerk und das Genfer Flüchtlingsabkommen wenigstens zum Teil bestärkt werden, sieht es für alle anderen Migranten anders aus. Zwar gibt es die UN-Wanderarbeiterkonvention, doch diese betrifft nur einen Bruchteil jener, die ihre Heimat verlassen haben oder sich im Transit befinden.
Natürlich könnte man an dieser Stelle auf Dokumente wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verweisen. Doch die Realität sieht anders aus: Verfolgt man die Diskussionen um die in den Köpfen endlos scheinende „Flüchtlingskrise“, dann hört man eines immer wieder: Sobald die Menschen ihre Heimat verlassen, haben sie keine Rechte mehr. Für Schmuggler werden sie zur Ware, für Grenzposten zum Feind, für Regierungen zum Spielball, für Industrieländer zur Bedrohung.
Kein positiver Migrationsdiskurs mehr möglich
Genau deswegen braucht es ein Dokument wie den Migrationspakt. Man kann den Text zwar für einiges kritisieren, sicher aber nicht dafür, dass er kompromisslos an der Einhaltung der Menschenrechte festhält. Doch selbst das, die Erwähnung, dass auch Migranten Menschen sind und Rechte haben kann in der Flüchtlingsdebatte schon als Stein des Anstoßes gelten.
Die Realität ist: Heute kommt der Begriff „Migrant“ fast einem Schimpfwort gleich. Nicht nur in jenen Staaten, die von stolzen flüchtlingsfeindlichen Regierungen wie in den USA oder Ungarn geführt werden, sind Migranten eine gefühlte Bedrohung für die Bevölkerung. Die Politik hat es bisher nicht vermocht, der Angstmacherei einen positiven Migrationsdiskurs entgegenzusetzen.
Dass der Westen ohne Migration gar nicht funktionieren würde, wird dabei gerne vergessen. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen kann kaum eines der Industrieländer ohne Migration seinen Bevölkerungsstand aufrecht halten. Die Rechnung geht auf Dauer also für niemanden auf: Ohne Migration kein Wirtschaftswachstum.
Eine falsche, ja irrsinnige politische Debatte
Doch wie sehr sich der Westen vor einem positiven Migrationsdiskurs sträubt, zeigen nicht zuletzt die rezenten Auswüchse der Debatte um den Pakt. Kritisiert wird etwa, dass dieses rechtlich nicht bindende(!) Dokument die Pressefreiheit einschränke, weil es in einem Kapitel Rassismus und Diskriminierung ablehnt und eine faktenbasierte und ethische Berichterstattung über Migration fordert. Was die Kritiker nicht sagen: Die Unabhängigkeit der freien Presse wird im Pakt ebenso ausdrücklich hervorgehoben.
Die aktuellen Diskussionen um den Migrationspakt zeigen vor allem eines: Wir sind inzwischen so weit, dass allein die Erkenntnis, dass es Migration gibt und braucht, ein Problem ist. Die einzige Frage, die im aktuellen politischen Klima erwünscht zu sein scheint, ist die nach der Einschränkung der Migration. Nicht einmal deren Organisation und Verwaltung scheint vertretbar.
Und genau da liegt das Problem. Denn je mehr die Migrationsdebatte auf dessen Eingrenzung reduziert und je mehr die Migration an sich politisiert wird, desto mehr schwinden auch die Rechte der Migranten. „Empower Migrants“ wie es im Migrationspakt heißt, ist in kaum einem „westlichen“ Staat eine politische Priorität – die Abwehr von Migranten hingegen umso mehr.
An den damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen machen sich alle schuldig, die Migranten um jeden Preis aufhalten wollen, den Grenzschutz so rigoros vorantreiben oder etwa Deals mit autoritären Regimes schließen. Der Migrationspakt kann diese Missbräuche nicht verhindern. Doch wenigstens erinnert er alle Unterzeichner daran, dass Migranten überhaupt Rechte haben. Und ob bindend oder nicht: Allein, wenn sich diese eigentlich selbstverständliche Auffassung im politischen Diskurs wieder durchsetzt, wäre das schon ein Erfolg.