Die Beteiligung der Bürger bei Wahlen zum Europäischen Parlament sinkt europaweit. Auch in Luxemburg werden die Europawahlen traditionell stiefmütterlich behandelt. Die etablierten Parteien tragen dafür einen Teil der Verantwortung. Ein Kommentar.

Was wäre, wenn es in Luxemburg keine Wahlpflicht gäbe? Mit ziemlicher Sicherheit würde die Beteiligung bei Europawahlen nicht wie vor fünf Jahren bei 85 Prozent liegen. Denn die Wahlen zum Europäischen Parlament gelten weder für die Bürger noch für die Parteien als Priorität.

Es handelt sich um ein grundsätzliches Paradox: Das Europäische Parlament gewinnt immer mehr an Macht und Kompetenzen, doch die Wahlbeteiligung und damit die demokratische Legitimation der EU-Institution geht europaweit zurück. Seit 1979, als die europäische Volksvertretung erstmals gewählt wurde, sank die Quote von knapp 62 Prozent auf 42 Prozent in 2014. In 20 von 28 Staaten lag die Wahlbeteiligung vor fünf Jahren bei unter 50 Prozent. In Ländern wie Tschechien (18 Prozent) oder der Slowakei (13 Prozent) ist die Lage am dramatischsten.

Dass eine niedrige Wahlbeteiligung dabei populistischen Parteien in die Hände spielt, ist nicht nur eine Vermutung. Bei einer Wahlbeteiligung von 42 Prozent wurde 2014 in Frankreich der „Front National“ mit fast 25 Prozent die stärkste Partei. Mindestens zehn Prozent der aktuellen EU-Abgeordneten lassen sich rechtsextremen oder rechtspopulistischen Bewegungen zuordnen. Laut ersten Umfragen dürften diese Parteien auch in diesem Jahr zu den Wahlgewinnern gehören.

Die zunehmende Macht des Europäischen Parlaments

Nicht jedem Wähler, der am 26. Mai an die Wahlurne tritt, ist wohl bewusst, wie wichtig seine Stimme bei dieser Wahl ist. Das Europäische Parlament beschließt gemeinsam mit dem Rat der EU die für alle Mitgliedstaaten geltenden Gesetze. Bis auf wenige Ausnahmen (etwa die Außen- oder Steuerpolitik) ist das Parlament mittlerweile für alle Politikfelder zuständig. Vor allem aber kann keine Richtlinie oder Verordnung ohne die Zustimmung des EU-Parlaments verabschiedet werden.

Die Stimme jedes einzelnen EU-Bürgers hat also durchaus eine Bedeutung. Auch wenn Luxemburg nur sechs, also weniger als ein Prozent der EU-Parlamentarier entsendet, sollte man die Bedeutung dieser Wahl nicht unterschätzen. Auch wenn im Großherzogtum keine Gefahr von Rechts droht, lohnt sich der Gang zur Wahlurne. Wer sich an nationalen Parlamentswahlen beteiligt, weil er mitbestimmen will, in welche Richtung sich die Politik seines Landes bewegt, kann dies aus den gleichen Gründen auf EU-Ebene tun.

Zu diesen Gründen gehören an erster Stelle die zunehmenden Kompetenzen der EU-Politik. Mittlerweile bezieht sich die Mehrheit der Gesetze, mit denen sich die Abgeordnetenkammer auseinandersetzt, auf Regelwerke, die zuvor vom Europäischen Parlament verabschiedet wurden. Die EU-Parlamentarier sind in der luxemburgischen Debatte zwar nicht so präsent wie die Abgeordneten der „Chamber“, doch ihre Arbeit hat oft spürbarere Konsequenzen für die nationale Gesetzgebung als das, was am Krautmarkt debattiert wird.

Luxemburgs mangelnde Wertschätzung der Europapolitik

Warum werden die Europawahlen so unterschätzt? Neben jenen Kräften, die die EU am liebsten ganz abschaffen würden, tragen auch die etablierten pro-europäischen Parteien eine Verantwortung. Man merkt ihnen förmlich an, dass sie selbst keine allzu große Begeisterung verspüren, um in den Wahlkampf zu ziehen. Europawahlen sind für Luxemburgs Parteien eine Pflichtübung. Das Hauptaugenmerk gilt den nationalen Wahlen.

Der europapolitische Diskurs bewegt sich denn auch traditionell an der äußersten Oberfläche. Die Programme der Parteien gehen meist nicht über Allgemeinplätze hinaus. Oder sie sind offensichtliche Fortsetzungen nationaler Programmpunkte, die mit einem europäisch-visionären Touch versehen wurden. Dass sich alle in Luxemburg antretenden Parteien besonders in der Europapolitik nur in Nuancen unterscheiden, erschwert zudem eine kontroverse Debatte.

Viel wichtiger erscheint auch für weite Teile der Öffentlichkeit die Frage, welche Köpfe die Parteien ins Rennen schicken. Die Parteien hieven regelmäßig nationale Amtsträger auf die Listen für die Europawahlen, die im Erfolgsfall ihr Mandat nicht unbedingt annehmen. Den Wählern soll es recht sein. Ihre mangelnde Wertschätzung der Europawahlen können sie dank Wahlpflicht ohnehin nicht in einer dramatisch sinkenden Wahlbeteiligung ausdrücken.

Obwohl: Selbst mit Wahlpflicht kann sich Luxemburg dieser Entwicklung nicht ganz entziehen. Die Beteiligung war bei den Nationalwahlen im vergangenen Oktober mit 90 Prozent fast fünf Prozent höher als bei den Europawahlen 2014. Ebenso gaben bei den Europawahlen deutlich mehr Wähler weiße oder ungültige Wahlzettel ab. Effektiv beteiligten sich 2014 nur 77 Prozent der zur Wahl verpflichteten Bürger mit einer gültigen Stimme. Der Weg zu den 13 Prozent der Slowakei ist zwar noch weit, doch ein gewisser Trend ist erkennbar.