Mehr als vier Stunden redeten die Abgeordneten über das Armutsrisiko in Luxemburg. Die Regierung weigerte sich dabei, das Problem überhaupt als solches anzuerkennen. Das ist angesichts der Faktenlage nicht nur enttäuschend, sondern letztlich unverantwortlich. Ein Kommentar.
Das Parlament hat eine neue Tradition eingeführt: Vor einem Jahr stellten Déi Gréng einen Antrag, um über das Armutsrisiko von jungen Arbeitnehmern in Luxemburg zu diskutieren. Fast genau ein Jahr später ist es die CSV, die eine Debatte zum Armutsrisiko im Parlament herbeiführte. In beiden Fällen zeigte sich, wie wenig Verständnis die Regierung für das Problem an sich hat.
„Bereits eine Person in Armut ist eine Person zuviel“, sagten fast alle Abgeordnete der Regierungsparteien. Trotzdem redeten sie am Problem vorbei. Gerne wird von Politikern nämlich das Armutsrisiko mit der absoluten Armut gleichgesetzt. Doch jemand der von Armut bedroht ist, muss mit etwa 2.000 Euro über die Runden kommen. Das ist nicht zwingend ein Arbeitsloser oder ein Obdachloser.
Zudem stützt Familienministerin Corinne Cahen (DP) sich auf falsche Prämissen: Armut könne durch Arbeit bekämpft werden. Nach dem klassischen wirtschaftsliberalen Motto: „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ Doch genau hier liegt das Problem. Das Konzept des Armutsrisikos bezieht sich eben auf Menschen, die zwar arbeiten, aber dennoch am Ende des Monats nicht viel zum Leben übrig haben.
Außerdem hält die Regierung an homöopathischen Lösungen fest. Der kostenlose öffentliche Nahverkehr und die irgendwann eintreffende Indexierung des Kindergeldes werden als erfolgreiche Mittel der Armutsbekämpfung verkauft.
Am Problem vorbeireden
18,3 Prozent. Fast jeder Abgeordnete begann seine Rede mit dieser Zahl. Es entspricht dem Armutsrisiko in Luxemburg für das Jahr 2018. Corinne Cahen nennt die Zahl nicht „da die Vorredner schon darauf eingingen.“ Sie scheint sie jedoch nicht verinnerlicht zu haben. In der anschließenden Rede spricht sie kurz vom Wohnungsmarkt und Arbeitslosigkeit. Danach geht es um den REVIS, Obdachlose, Alleinerziehende und Betreuung von Extremfällen. 18,3 Prozent. Das sind nicht nur die von der Ministerin genannten Gruppen. Es zieht sich durch die ganze Gesellschaft.
Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen. Laut Eurostat fallen 13,5 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Luxemburg unter das Armutsrisiko. Max Hahn, Parteikollege der Ministerin, stellte fest, dass drei von vier Betroffenen Vollzeit arbeiten. 85 Prozent sind zudem fest angestellt. Seine Schlussfolgerung aus diesen Zahlen: Die Regierung hat bereits reagiert mit der Mindestlohnerhöhung. Nach weiteren Sozialtransfers liegt auch nach Erhöhung der Mindestlohn genau auf der Armutsrisikogrenze. Arbeit ist also kein Garant mehr gegen Armut. Die Politik hat damit ein neues Stadium der Relativierung erreicht.
Die ewige Relativierung
Paul Galles (CSV) bemühte sich, die verschiedenen Indikatoren der Armut und des Armutsrisikos vorzustellen. Es war ein Versuch, den anderen Parteien die Möglichkeit wegzunehmen, die Zahlen anzufechten. Gelungen ist es ihm nicht. Max Hahn konnte bei der Anfechtung der Zahlen auf Unterstützung der Sozialisten hoffen. Tess Burton (LSAP) nannte in ihrer Rede mehrere Gesetzesänderungen und Projekte, wie die Mindestlohnerhöhung, den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und andere neue Sachleistungen. Sie stellen beide fest: All dies sei in dieser Statistik nicht berücksichtigt worden.
Das stimmt. Allerdings wäre eine Besserung durch die neuen Sozialleistungen nur möglich, wenn sonstige Lebenskosten gleichgeblieben wären. Jedoch ist 2019 der Kauf- und Mietpreis von Wohnungen im Vergleich zum Vorjahr um mehr als zehn Prozent gestiegen. Das Spiel könnte die Regierung also ewig weiter spielen – in der Wissenschaft gibt es fast nie ganz aktuelle Zahlen.
Die nächste Debatte kommt bestimmt
Eigentlich müssten die Statistiken aufrütteln. Es ist nicht die erste Debatte über das Armutsrisiko. Zudem ist Luxemburg im europäischen Vergleich stets bei den Letzten. Der Anteil der sogenannten „working-poor“ ist der Zweithöchste in ganz Europa. Stattdessen stimmte das Parlament für eine Entschließung, die die Regierung dazu auffordert, das Koalitionsprogramm umzusetzen. Sie solle „aufpassen“, verschiedene Reformen „fortsetzen“ und „sich anstrengen“.
Paul Galles traf es auf den Punkt: „Alles was sie sagten, kenne ich bereits. Trotzdem ist das Armutsrisiko so hoch. Werden also nach dieser Debatte sofort Maßnahmen ergriffen, um das Risiko zu bekämpfen?“ Corinne Cahen weicht aus und verwies auf das Koalitionsprogramm. Die Steuerreform und die Wiedereinführung des Indexes für das Kindergeld sollen es richten. Mit anderen Worten: Dieses Jahr passiert nichts mehr. Was bleibt ist die Frage, welche Partei das nächste Jahr eine neue Debatte über die desaströsen Zahlen des Armutsrisikos beantragen wird.
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