Kein Referendum ist auch keine Lösung: Die Infragestellung des längst zugesagten Verfassungsreferendums gefährdet die Glaubwürdigkeit der gesamten politischen Klasse. Ein Kommentar.

Jeder, der für die neue Verfassung ist, müsste eigentlich gegen ein Referendum sein. Mein Kollege hat schon Recht, wenn er den kühlen Pragmatismus der Realpolitik für seine Ablehnung eines Verfassungsreferendums bemüht. Man könnte es sich in der Tat leicht machen. Um die Verfassungsreform nicht zu gefährden, sagen wir das Referendum darüber einfach ab. Sonst noch Fragen?

Diese durchaus attraktive Argumentation des Kohl’schen Mottos „Was zählt, ist, was hinten rauskommt“ ist allerdings in mindestens einem Punkt problematisch. Man würde damit zwar die langwierige Verfassungsreform vor einer eventuellen Ablehnung durch das Volk retten. Der Preis wäre jedoch nicht gerade gering: der Verlust der Glaubwürdigkeit der gesamten politischen Klasse.

Ein Plädoyer für Glaubwürdigkeit

Ein kurzer Blick zurück zeigt: Nicht nur die Regierungsparteien, und nicht nur die CSV, sondern ohne Ausnahme alle im Parlament vertretenen Parteien haben sich früher oder später für ein Referendum über die Verfassungsreform ausgesprochen und damit politisch verpflichtet. Dass sich manche Parteien (vor allem CSV und LSAP) mit dieser Position lange schwer taten und sie längst nicht alle ihrer Mitglieder teilen, gehört zwar auch zur Wahrheit. Doch um das zugesagte Referendum jetzt noch abzusagen, müssten heute alle Parteien und viele luxemburgische Spitzenpolitiker schlicht Wortbruch begehen. Auch wenn dies in der Politik nicht ungewöhnlich wäre, sollte man es in diesem Fall dennoch vermeiden.

Sich an das eigene Versprechen zu halten, wäre nämlich kein Selbstzweck. Vielmehr ist das, was die Parteien früher zur Pro-Referendum-Position bewegte, heute immer noch gültig. „Ich glaube, dass es im 21. Jahrhundert normal sein sollte, dass neben dem Parlament auch die Bürger über ein neues Grundgesetz abstimmen dürfen“, sagt der Vorsitzende des Verfassungsausschusses im Parlament, Alex Bodry. Und er hat Recht. Man kann nicht in Sonntagsreden und Parteiprogrammen immer von „mehr Demokratie“, „Partizipation“ und „Dialog mit den Bürgern“ sprechen und dann, wenn es ernst wird, plötzlich das Gegenteil behaupten. Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie vom faktenfreien Diskurs von Populisten bedroht wird, sollte man die eigene Glaubwürdigkeit nicht einfach so preisgeben.

Demokratie ist kein Wunschkonzert

Das Problem ist freilich: Diese Regierung hatte ihre Chance zur Förderung der direkten Demokratie, und hat sie gehörig in den Sand gesetzt. Damit ist nicht das Ergebnis des dreifachen Referendums vom Juni 2015 gemeint – dessen Bewertung liegt im Auge des Betrachters. Es geht vielmehr um die objektiv halbherzige Vorbereitung und die dilettantische Durchführung der Debatte. Man wollte das Volk befragen, ohne es ernst zu nehmen. Man wollte mehr Demokratie, aber nur wenn das Ergebnis stimmt.

Jetzt schreckt man vor diesem Instrument zurück, weil man befürchtet, dass es bei einem Verfassungsreferendum ähnlich ausgehen könnte. Das Signal einer solchen Entscheidung wäre verheerend für die Zukunft der direkten Demokratie in Luxemburg: Wir wollen unser eigenes Volk nicht befragen, weil es eventuell nicht so abstimmt, wie wir es gerne hätten. Wer so argumentiert, hat das Prinzip der (direkten) Demokratie entweder nicht verstanden, den Mut zu dessen Umsetzung verloren oder hat es von Beginn an nicht aus Überzeugung, sondern aus anderen politisch-taktischen Erwägungen unterstützt.

Demokratie ist kein Wunschkonzert. Entweder man ist prinzipiell für ein Referendum in wichtigen Fragen oder dagegen. Entweder man traut dem Volk die Beantwortung von politischen Grundsatzfragen zu oder nicht. Entweder oder.

Partizipation? Jetzt erst recht!

Man erinnere sich: Die Dreierkoalition wollte laut ihrem Koalitionsprogramm die Demokratie und die Partizipation am politischen Entscheidungsprozess stärken. Nach dem ersten Rückschlag hört man diese Überzeugung heute so gut wie gar nicht mehr. Das letzte Referendum war ein Fehler, heißt es seitens quasi aller führender Koalitionspolitiker. Jetzt zeigt sich: So richtig überzeugt von dem Motto „Mehr Demokratie“ war bei Blau-Rot-Grün eigentlich keiner. Es war nur ein Mittel zum Zweck.

Ausgehend von der gleichen Diagnose könnte man allerdings auch das Motto „Jetzt erst recht“ vertreten. Jetzt erst recht sollte die Politik dafür eintreten, die Bürger nicht nur am Ende zu befragen, sondern sie am ganzen politischen Prozess und schon im frühestmöglichen Stadium von richtungsweisenden Entscheidungen zu beteiligen. Die aktuelle Koalition könnte so doch noch das umsetzen oder zumindest damit beginnen, was sie der Öffentlichkeit 2013 im Koalitionsprogramm versprochen hatte: einen breiten Konsultationsprozess, und nicht nur die überstürzt wirkende, punktuelle Veranstaltung von „Bürgerforen“ und der Hinweis auf eine nur sehr bedingt partizipative Webseite.

Alte Argumente rosten nicht

Anders als von vielen Referendumsgegnern und -skeptikern behauptet, ist es für all das nicht zu spät. Wenn man bedenkt, dass das Parlament schon – je nach Rechnung – fast 20 Jahre an der aktuellen Verfassungsreform arbeitet, kommt es jetzt auf ein, zwei Jahre mehr auch nicht an. Und man sieht – Beispiel Notstandsartikel – dass die Politik im Zweifelsfall auch die Verfassung punktuell anpassen und bei akutem Bedarf der großen Reform vorgreifen kann. Ähnliches würde übrigens auch im Fall des Scheiterns der Verfassung per Referendum geschehen. Es wäre zwar peinlich, aber nicht das Ende der Welt.

Andererseits spricht derzeit nichts außer der diffusen Angst der etablierten Politik gegen einen positiven Ausgang eines Verfassungsreferendums. Wie 2015 wird es entscheidend auf die Vorbereitung und das Engagement der Befürworter ankommen. Prinzipiell ist es jedenfalls immer noch so, wie es der Historiker Michel Pauly einst formulierte: „Es wäre nicht nur logisch und demokratisch unbedingt angebracht – hinzu kommt der grundlegende pädagogische Effekt, dass die Bürger bei einem Referendum fast gezwungen sind, sich mit der Reform auseinanderzusetzen. Wann, wenn nicht bei einer grundlegenden Verfassungsreform, sollte das Volk direkt beteiligt werden?“

Unabhängig davon gilt nach wie vor: Das Volk hat in einer Demokratie das Recht darauf, mitzubestimmen. Strittig ist nur, in welchem Maße. Denn bei Wahlen kommt wohl auch kein Politiker auf die Idee, dass man dieses Instrument aus schlechter Erfahrung beim nächsten Mal lieber sein lassen sollte. Im Prinzip ist ein Referendum auch nur eine Wahl. Wenn man den Bürgern also zutraut, dass sie mündig und intelligent genug sind, um alle fünf Jahre ihre Abgeordneten zu wählen, dann sollten sie es eigentlich auch sein, um über ein neues Grundgesetz abzustimmen. Oder wie es der politische Theoretiker John Dryzek ausdrückt: „Wenn Demokratie etwas Gutes ist, dann müsste mehr Demokratie doch eigentlich noch besser sein…“