Was kann ein Parlamentspräsident bewirken? Was macht Mars Di Bartolomeo in Berlin? Ein Gespräch über deutsch-luxemburgische Beziehungen, den Umgang mit Populisten und die Verantwortung der Sozialdemokratie für ihre eigene Krise.
Sehen und gesehen werden: Im Berliner Kult-Restaurant „Borchardt“ treffen sich normalerweise die Schönen und Reichen. Wir sind mit Mars Di Bartolomeo verabredet. Im beschatteten Innenhof des Promi-Hotspots unweit der Prachtmeile Unter den Linden streift er seine Krawatte ab und bestellt einen Latte Macchiato. „Berlin ist eine wundervolle Stadt“, sagt er noch und macht es sich gemütlich.
Der Präsident der luxemburgischen Abgeordnetenkammer war über das Wochenende zu politischen Unterredungen in der Hauptstadt. Mit Bundestagspräsident und Ex-Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sprach er über die Zukunft der EU und die deutsch-luxemburgischen Beziehungen. Mit REPORTER auch über mehr.
Zu Themen der politischen Aktualität in der Heimat wollte er nichts sagen. Das war seine Bedingung für das spontan abgemachte Interview, an die er sich selbst schließlich auch fast durchgehend hielt.
REPORTER: Zwei Parlamentspräsidenten treffen sich zum „Meinungsaustausch“ und halten später in einem Kommuniqué fest, dass man für „gemeinsame Antworten“ auf „gemeinsame Probleme“ einsteht. Mit Verlaub: Was bringen solche offiziellen Besuche eigentlich?
Mars Di Bartolomeo: Vor einigen Jahren hätte ich die Frage vielleicht auch noch so ähnlich gestellt. Heute weiß ich, dass solche Treffen durchaus sinnvoll sind. Besonders auf der interparlamentarischen Ebene lassen sich Dinge oft viel informeller und ohne diplomatische Zurückhaltung ansprechen. Dieser Austausch führt auch dazu, dass man die eigenen Ansichten in Frage stellt und Probleme durch eine andere Brille betrachtet. Mit jedem Treffen lässt sich der eigene Horizont erweitern. Allein deshalb lohnt es sich.
Wird aus diesen informellen Einsichten denn auch konkrete Politik?
Das kommt schon einmal vor. Wir haben es zum Beispiel mehrmals geschafft, uns gemeinsam mit einer Reihe von Parlamentspräsidenten hinter einer pro-europäischen Haltung zu versammeln. Und selbst bei jenen Vertretern, die eine skeptische bis kritische Haltung zur EU haben, erfährt man in diesem Rahmen oft mehr über deren Beweggründe und Interessen als bei bilateralen Treffen von Regierungen. Wir nehmen die Ergebnisse solcher Treffen ja auch mit nach Hause und erörtern sie mit unseren Abgeordneten. Politik findet nicht nur auf der höchsten Regierungsebene statt. Auch als Vertreter von ganzen Parlamenten können wir dazu beitragen, dass wir gemeinsame Lösungen finden und ein Auseinanderdriften der EU verhindern.
Wir haben es zwar geschafft, die sozialen Errungenschaften in Luxemburg zu verteidigen. Doch auch wir haben den Geist der Austeritätspolitik auf EU-Ebene letztlich mitgetragen.“
Was heißt das jetzt konkret? Welche gemeinsamen Lösungen sind mit Deutschland und Wolfgang Schäuble möglich?
Mit seinem Vorgänger Norbert Lammert hatte ich ein sehr gutes und enges Verhältnis. Wolfgang Schäuble kannte ich bisher nicht sehr gut. Das Treffen heute (am vergangenen Freitag, Anm. d. Red.) dauerte gut eine Stunde. Wir haben uns über viele Themen im Detail und aus dem Bauch heraus ausgetauscht. Wir waren uns einig, dass etwa die Debatte über die Asylpolitik in Deutschland und Europa zum Teil surreale Züge angenommen hat. Wolfgang Schäuble ist ein Mann mit enormer Erfahrung und großem Wissen. Es ist kein Geheimnis, dass er die Bundeskanzlerin im sogenannten Asylstreit zwischen CDU und CSU unterstützt. Gleichzeitig sind wir uns der Herausforderung bewusst, dass man die Bürger bei jeglichen politischen Lösungen mitnehmen muss. Beides gehört zusammen. Für mich ist bei dem Gespräch klar geworden: Unsere deutschen Freunde sind trotz allen kontroversen Debatten ein verlässlicher Partner, wenn es um konstruktive Lösungen in Europa geht.
Vielleicht noch etwas konkreter?
Es gibt natürlich auch ganz praktische Fälle. So etwa bei der Frage der politischen Bildung oder bei der Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen. Unser neues Zentrum für politische Bildung geht nicht zuletzt auf Erfahrungen von anderen Ländern zurück, die man auf den unterschiedlichsten Ebenen vermittelt bekam und aus denen man ganz konkrete Politik ableiten kann. Oder das System der Petitionen. Ich werde oft von meinen Gesprächspartnern gefragt, wie unsere Erfahrung in diesem Bereich ist. Es gibt Parlamente, die ein ähnliches System haben wie wir, aber wo eine erfolgreiche Petition nicht zu einer Debatte im Parlament führt. Andere Parlamente, wie etwa hier in Berlin das Abgeordnetenhaus auf Länderebene, gehen dagegen noch weiter und koppeln so ein System an die Volksinitiative. Eine Petition der Bürger kann also so weit gehen, dass daraus ein Gesetzesvorschlag entsteht, über die die Abgeordneten abstimmen müssen.
Wir brauchen Zuwanderung und wir sind immer gut mit dieser Haltung gefahren.“
Wäre das denn ein Weg, den man auch in Luxemburg gehen sollte?
Es gibt für mich nicht die eine Form von Bürgerbeteiligung, auf die man seine Hoffnung setzen sollte. Der Partizipationsansatz muss auf allen Ebenen mit Leben gefüllt werden. Sei es in den Gemeinden, innerhalb der Parteien oder eben auf nationaler Ebene. Die Petitionen sind ein Mittel, und ja, auch die Volksinitiative kann ein sinnvolles Instrument sein. Wir Politiker müssen uns hier auch anpassen und ständig in Frage stellen. Wir sollten offen für neue Wege sein. Man sollte mehr Demokratie wagen, aber gleichzeitig auch bereit sein, nach einer gewissen Zeit Bilanz zu ziehen und zu sagen, was gut und was weniger gut läuft. Es kann nur so funktionieren, nicht auf einen Schlag, sondern durch einen Prozess. Ich denke, dass wir in Luxemburg auf einem guten Weg sind.
Sie haben die Debatte über Migration und Asylpolitik in Deutschland angesprochen. Was erzählen Sie Ihren Gesprächspartnern über die Art und Weise, wie diese Debatte in Luxemburg geführt wird?
Ich sage ihnen zuerst, dass wir in einem Land leben, wo es fast genauso viele Luxemburger wie Nicht-Luxemburger gibt. Und, dass das alles in allem sehr gut so funktioniert. Migration war für uns nie eine Gefahr, auch wenn sie von manchen anfangs vielleicht als solche empfunden wurde. Die Erfahrung zeigt ganz deutlich, dass die Migration unser Land bereichert. Unter einer grundsätzlichen Bedingung: Alle, die zu uns kommen, müssen unsere Verfassung und unsere demokratischen, rechtsstaatlichen Spielregeln anerkennen. Ob man jetzt heute oder morgen perfekt Luxemburgisch spricht, ist zweitrangig. Viel wichtiger ist, dass man unsere gemeinsamen Werte akzeptiert und verinnerlicht. Nur so kann sich jeder dauerhaft als Mitglied unserer Gemeinschaft fühlen und auch selbst als solches anerkannt werden.
Die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft müssen die Debatte führen. Sie ist vielleicht unangenehm, doch wenn wir sie nicht führen, dann übernehmen andere Kräfte mit ihren Parolen die Deutungshoheit.“
Genau dieser Diskurs hat sich ja aber auch in Luxemburg seit dem Referendum 2015 verändert. Oder?
Es wird versucht, ihn zu ändern. Die Wahrheit lautet: Wir brauchen Zuwanderung und wir sind immer gut mit dieser Haltung gefahren. Das ist auch neben unserem Reichtum der Grund, warum rechtsextreme Bewegungen in Luxemburg keine Chance haben. Und doch müssen wir natürlich wachsam bleiben. Exzessive Äußerungen erfordern Widerspruch, egal von wem sie kommen. Wir müssen sagen: ‚Verdammt noch mal, so geht das nicht.‘ Die traditionellen Parteien dürfen nicht den Sprachgebrauch der Populisten übernehmen. Da ist in den vergangenen Jahren schon etwas aufgebrochen. Sei es bei manchen Politikern der CSU in Deutschland oder bei den französischen Konservativen, um nur die beiden Beispiele zu nennen. Die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft müssen die Debatte führen. Sie ist vielleicht unangenehm, doch wenn wir sie nicht führen, dann übernehmen andere Kräfte mit ihren Parolen die Deutungshoheit.

Eine weitere Debatte, die hier in Deutschland geführt wird, ist die sich verschärfende Krise der Sozialdemokratie. Die SPD hat bei den Bundestagswahlen 2017 mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht. Die LSAP lag 2013 mit knapp 20,3 Prozent noch darunter. Was ist für Sie der Grund für den in ganz Europa – mit wenigen Ausnahmen – Abstieg der sozialdemokratischen Parteien?
Sozialdemokratische Parteien haben es schon seit mehreren Jahren schwer. Dafür gibt es viele Gründe, sowohl allgemeine, als auch jeweils national bedingte. Einer davon ist sicher, dass in den europäischen Staaten viel zu lange am Mantra der Spar- und Austeritätspolitik festgehalten wurde. Dass man der Finanz- und Wirtschaftskrise entgegenwirken musste, ist offensichtlich. Doch die Antworten der Politik waren einseitig und überdauerten vielerorts auch die Zeit der Krise. Die Frage des sozialen Fortschritts und damit vor allem der gerechten Verteilung der finanziellen Lasten der Krise geriet komplett in den Hintergrund. Sozialdemokratische Parteien, die damals in der Regierung waren, haben mitgemischt und tragen demnach auch einen Teil der Verantwortung …
Auch in Luxemburg?
Ja, auch bei uns. Wir haben es zwar geschafft, die sozialen Errungenschaften in Luxemburg zu verteidigen. Doch auch wir haben den Geist der Austeritätspolitik auf EU-Ebene letztlich mitgetragen. Europa war im Krisenmodus und verschloss lange die Augen vor massiven sozialen Problemen, die durch diese Politik entstanden sind oder zumindest verschärft wurden. Man muss nur nach Griechenland oder Portugal schauen, um zu erkennen, dass etwas schief gelaufen ist. Ein Problem ist, dass diese Politik nie ausreichend erklärt und begründet wurde. Ein weiteres Problem ist, dass diese Politik insbesondere den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien nur schwer verziehen wird. Jetzt befinden wir uns zwar europaweit in einer besseren Situation. Doch die Folgen dieser Krisenpolitik sind an vielen Stellen noch sichtbar. Die Lage der Sozialdemokratie ist dabei nur ein Beispiel.
Sozialdemokratische Parteien müssen wieder die Stimme jener sein, die in der Gesellschaft Gefahr laufen, abgehängt zu werden. „
Wie lässt sich diese Krise bewältigen? Man hat nicht den Eindruck, dass viele sozialdemokratische Politiker Ihre Sicht der politischen Verantwortung teilen …
Sozialdemokratische Parteien müssen wieder die Stimme jener sein, die in der Gesellschaft Gefahr laufen, abgehängt zu werden. Das galt ursprünglich für die Zeit der Industrialisierung. Das Gleiche gilt aber auch heute in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung. Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, auch heute dafür zu sorgen, dass die arbeitenden Menschen nicht zu den Verlierern des gesellschaftlichen und technologischen Fortschritts gehören. Sozialdemokratie ist für mich gleichbedeutend mit der Schaffung von Gerechtigkeit. Und mit der Schaffung von Perspektiven, mit denen man den Menschen die Angst vor der Veränderung nehmen kann. Dazu gehört auch, dass die positiven Effekte des Fortschritts gerecht verteilt werden müssen. Das muss die Botschaft und das Ziel sozialdemokratischer Politik sein. Genau das wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten aber oft vergessen.
Auch die LSAP hat in ihrer langen Regierungsverantwortung einiges mitgetragen, was mit diesen Idealen nicht unbedingt übereinstimmt. Inwiefern deckt sich Ihre Analyse mit der Bilanz der LSAP in der aktuellen Regierung und mit der Botschaft im laufenden Wahlkampf?
Also, ich bin jetzt der Präsident der Abgeordnetenkammer und vertrete alle im Parlament vertretenen Parteien. Ich kann in dieser Position zu solchen Fragen leider keine Stellung beziehen. Nur so viel: Ich habe in meiner politischen Karriere gelernt, dass man besonnen und Schritt für Schritt vorgehen soll. Man sollte erst das Vergangene in Ruhe analysieren und bewerten, bevor man sich aufgrund dieser Schlüsse auf neue Herausforderungen einlässt.
Gilt das Motto auch in Sachen „Chamberleaks“?
Wir sind dabei, unsere Hausaufgaben bei der Aufarbeitung der Vorkommnisse abzuschließen. Erst wenn diese Hausaufgaben gemacht sind, werden wir alles auf den Tisch legen.
Nach der Enthüllung von „Radio 100,7“ haben Sie zwar Versäumnisse eingeräumt, aber auch schnell an die Verantwortung der Journalisten appeliert. Gibt es für Sie einen Grund, sich persönlich und Ihre erste Reaktion auf die Berichterstattung in Frage zu stellen?
Nein. Wie gesagt: Ich werde in dieser Sache erst wieder kommunizieren, wenn ich alle Elemente unserer Untersuchung beisammen habe. Das wird bald der Fall sein.