Seit mehr als einem Monat zieht es viele Libanesen auf die Straßen. Dabei begann alles mit dem Protest gegen eine geplante „Whatsapp-Steuer“. Ein Gespräch mit Politikwissenschaftler Christoph Dinkelaker, der die neue „Zedernrevolution“ im Libanon vor Ort erlebt hat.

Interview: Marian Brehmer

Herr Dinkelaker, warum sind die Menschen im Libanon gerade in diesem Herbst auf die Straßen gegangen?

Im Oktober gab es zwei konkrete Auslöser. Zum Einen hatte eine Hitzewelle im Herbst zu verheerenden Waldbränden geführt. Der libanesische Staat wollte jedoch kein Geld für die Wartung von Löschflugzeugen bereitstellen. Dies hat vielen Libanesen die komplette Unfähigkeit ihrer Regierung vor Augen geführt. Nur drei Tage nach dieser Erfahrung hat ein Minister eine „Whatsapp-Steuer“ vorgeschlagen. Angesichts der horrend teuren Mobilfunkpreise im Land fühlte sich das Volk vor den Kopf gestoßen. Zur Erklärung: Wenn man im Libanon nicht gerade reich ist, dann kann man sich nur die Telefonie über Whatsapp leisten. Das war eine Dreistigkeit, die aus der Perspektive der meisten Libanesen nicht mehr zu überbieten war. An diesem Punkt sagten die Menschen „Jetzt reicht es uns“.

Welche politischen und wirtschaftlichen Hintergründe hat diese Empörung?

Die Wirtschaftslage ist seit Jahren beunruhigend. Schon lange wird von einem großen Wirtschaftscrash ausgegangen. Parallel dazu sind die Benzinpreise und Lebenshaltungskosten konstant gestiegen. Die Stimmung war in diesem Jahr so schlecht und depressiv, aber auch so frustriert und aggressiv wie ich sie noch nie im Libanon erlebt hatte.

Was sind die Hauptforderungen der Demonstrierenden?

Es geht in erster Linie um den Rücktritt der gesamten politischen Elite und anschließend die Einsetzung einer Technokratenregierung. Ein Protestslogan, den man immer wieder hört, ist: „Wir meinen alle!“. Es hat sich seit dem Bürgerkrieg vor über dreißig Jahren ein politischer Klüngel aus Warlords und Wirtschaftsmagnaten gebildet. Viele von ihnen haben sich beim Wiederaufbau Beiruts nach dem Bürgerkrieg bereichert.

Statt eine Person zu stürzen, wollen die Libanesen das gesamte System verändern.“

Diese Elite bestimmt faktisch über die Geschicke des Libanon und hat sich sowohl finanziell als auch in ihrem ganzen Gehabe weit von der Bevölkerung entfernt. Dagegen stellen sich nun die Menschen. Darüber hinaus fordern viele der Demonstranten eine Auflösung des konfessionellen Proporzsystems. Dieses besagt, dass man an manche Posten nur mit einer bestimmten Religionszugehörigkeit herankommt. Diese Regelung, so das Gefühl vieler Leute, hat die Bevölkerung gespalten.

Gerne werden Vergleiche mit dem „Arabischen Frühling“ von 2011/12 herangezogen. Wo sehen Sie Unterschiede und Parallelen?

In den Ländern des Arabischen Frühlings gab es stark negative Symbolfiguren wie etwa Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten oder Assad in Syrien. Im Libanon jedoch gibt es eine Riege von mehreren älteren Männern, die seit Jahren die Macht besitzen. Einige von ihnen haben gar keine offiziellen politischen Positionen inne. Sie sind trotzdem bei wichtigen Entscheidungen beteiligt, etwa wenn es um die Regierungsbildung, um die Vergabe hoher Posten oder um die Aufteilung finanzieller Töpfe unter den Ministerien geht. Es gibt also nicht einen Diktator, sondern eine Gruppe von als korrupt angesehenen Führungsfiguren. Statt eine Person zu stürzen, wollen die Libanesen das gesamte System verändern. Hinzu kommt, dass die Proteste im Vergleich zu Ägypten oder Syrien bisher viel friedlicher verlaufen sind. Die Armee spielt eine insgesamt eher passive Rolle. Insgesamt sind innerhalb eines Monats nur zwei Menschen aufgrund von Auseinandersetzungen ums Leben gekommen, was vergleichsweise wenig ist.

Im Vergleich zu anderen Aufständen in der Region verlaufen die Proteste gegen das politische System im Libanon bisher äußerst friedlich. (Foto: Shutterstock.com)

Wie unterschiedlich haben die verschiedenen Gruppen auf die Proteste reagiert?

An den ersten drei Tagen waren in allen Landesteilen Hunderttausende auf den Straßen. Dabei war es egal ob sie einen sunnitischen, schiitischen, christlichen oder drusischen Hintergrund hatten. Allerdings gab es auch brenzlige Momente, etwa nachdem die schiitische Hisbollah-Partei mit ihrem Anführer Hassan Nasrallah die Menschen dazu aufrief, sich von den Protesten zurückzuziehen. Die Proteste, so wurde behauptet, seien einfach nur eine westliche Verschwörung. Danach gingen Anhänger der Hisbollah und der schiitischen Amal-Bewegung auf friedlich Demonstrierende los und zerstörten Protestcamps. Ich selbst wurde dabei mit einem Schlagring am Auge getroffen, die Wunde musste genäht werden.

Das Außergewöhnliche ist, dass sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Konfessionen und sozialen Klassen zusammenfanden.“

Dabei war zum einzigen Mal während der Proteste ein Parteisymbol zu sehen, die Hisbollah-Flagge. Es gab spürbare Angst. Schließlich ist die Hisbollah im Libanon als einziger nichtstaatlicher Akteur bewaffnet. Sie ist sogar stärker als die Armee, wie sie 2009 bei der Besetzung West-Beiruts demonstriert hatte. Zum Glück ebbte diese Gewalt ab. Viele Schiiten gehen weiterhin auf die Straße, nehmen an Sit-ins teil und sehen die Rhetorik von Hassan Nasrallah inzwischen kritischer.

Lässt sich also so etwas wie Solidarität über alle Konfessionsgrenzen hinweg beobachten?

Gerade in Beirut gab es eine spürbare überkonfessionelle Solidarität. Zu Beginn der Proteste wollte man symbolisch und faktisch an den großen Plätzen und Straßen das Leben lahm legen.  Das Außergewöhnliche ist, dass sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Konfessionen und sozialen Klassen zusammenfanden und mutig Slogans skandierten, die bisher Tabu waren. Dabei gab es sehr explizite Kritik und die Verfluchung großer politischer Namen, sei es der Präsident, der Außenminister oder der Parlamentspräsident. Letzterer hatte dann erfolglos mit Schlägertrupps versucht, diese Kritik verstummen zu lassen. Selbst der Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah wurde bei den Protesten immer wieder kritisiert.

Der Rücktritt von Premier Hariri war ein Erfolg, aber er ist aus Sicht vieler Libanesen nur ein Anfang.“

Doch es blieb nicht bei Slogans. Es entstanden zunehmend Zelte in den Straßen, in denen ein echter Dialog geführt wurde: Was wollen wir eigentlich für eine Regierung? Wie können wir den Konfessionalismus überwinden? Universitäten verlegten ihre Seminare nach draußen. Zuletzt gingen auch immer mehr Schülerinnen und Schüler demonstrieren.

Angesichts des kompliziertem Mosaiks an ethnischen und religiösen Gruppen kommt im Libanon manchmal die Gefahr eines Bürgerkriegs zur Sprache. Teilen Sie diese Sorge? 

Ich halte diese Wahrscheinlichkeit für sehr gering, denn die Demonstrierenden sind bisher extrem vorbildlich. Mit Ausnahme der ersten beiden Tage gab es praktisch keine Fälle von Vandalismus. Die Proteste sind äußerst kreativ. Zudem gibt es eine sehr produktive Kommunikation mit der Armee, die sich insgesamt zurückhält. Daher halte ich die Gefahr eines Bürgerkrieges im Moment für sehr gering.

Wie schätzen Sie die Ausdauer der Demonstrierenden ein?

Manchmal möchte man denken, den Demonstrationen sollte nun langsam die Luft ausgehen. Doch dann tauchen wieder neue Protestideen auf. Dies wird begünstigt durch die Reaktionen der Politiker. So hat etwa Präsident Michel Aoun die Proteste klein geredet und als Gefahr für die Wirtschaft bezeichnet. Er meinte, dass die Leute, denen es hier nicht gefalle, doch einfach auswandern sollten. Das hat zu neuer Wut geführt, die abermals Tausende Menschen auf die Straßen getrieben hat. Insgesamt hat sich die Stimmung im Land spürbar verändert: Die Menschen sind sehr viel freundlicher und offener zueinander. Alle sind wie berauscht zu sehen, wie sich der Umgang verändert hat und wie viel Energie sich aus den Protesten ziehen lässt.

Ist mit dem Abgang von Premier Saad Hariri nun wirklicher Wandel in Sicht?

Der Rücktritt war natürlich ein glücklicher Moment für viele. Gleichzeitig ist aber allen klar, dass dies wenig bringt, solange sich nicht auch die anderen führenden Köpfe zurückziehen. Auf die politische Korruption muss eine Regierung folgen, deren Mitglieder aufgrund ihres Könnens Minister werden, nicht aufgrund von Beziehungen. Der Rücktritt Hariris war ein Erfolg, aber er ist aus Sicht vieler Libanesen nur ein Anfang.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen Europas auf die Proteste?

Ich denke, dass die europäischen Akteure gut daran tun, nicht sichtbar in den Protesten aktiv zu werden. Das würde nur den Verschwörungstheorien der Hisbollah, dass die Bewegung eine von außen gesteuerte Revolution sei, Aufschwung geben. Tatsächlich steht jedoch fest, dass diese Proteste von den Libanesen selbst getragen werden. Es handelt sich dabei also um eine billige Verleumdung.


Zur Person: Christoph Dinkelaker ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler und arbeitete 2011-14 für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Jerusalem. Als Geschäftsführer von „Al Sharq Reisen“ organisiert Dinkelaker regelmäßig politische Studienreisen in verschiedene Länder der Islamischen Welt. In regelmäßigen Abständen lebt er in Beirut und hat dabei die libanesische Protestbewegung begleitet.