Luxemburgs Politik fehle ein moralischer Kompass und ein wahrhaftiges Staatsbewusstsein, sagt Erna Hennicot-Schoepges. Die ehemalige Ministerin sieht die Demokratie in einer grundlegenden Krise. Ein Gespräch über Berufspolitiker, Visionslosigkeit und den Machtverlust der CSV.
Interview: Christoph Bumb
Frau Hennicot-Schoepges, Sie haben einmal gesagt, man sollte in die Politik gehen wie man in eine Religion eintritt. Und zwar in dem Sinn, dass man Politik aus Überzeugung machen sollte. Heißt das, dass man auch nie so richtig aufhört, Politiker zu sein?
Ja, durchaus. Ich meinte mit dieser Aussage aber etwas anderes. Politik sollte mehr Berufung als Beruf sein. Der Berufspolitiker ist eines der größten Probleme der heutigen Demokratie. Ich kann mich noch gut erinnern: Als das feste Gehalt von Abgeordneten 1979 eingeführt wurde, sagte der frühere CSV-Minister Jean Wolter: „Das ist das Ende des Parlamentarismus, wie wir ihn kennen.“ Vorher gab es für Abgeordnete nur eine geringfügige Aufwandsentschädigung. Wir haben damit einen ganz neuen Berufsstand geschaffen. Und damit den Anreiz, sich aus finanziellen Gründen in der Politik zu engagieren. Heute ist das Parlament kaum noch repräsentativ für die Gesellschaft. Es gibt kaum noch Ärzte, Bauern oder Arbeiter in der Abgeordnetenkammer, die allein wegen ihrer Biografie die Probleme der Bürger kennen. Das ist nicht nur in Luxemburg so. Diese Entwicklung gehört zur generellen Krise der Demokratie in den meisten westlichen Ländern.
Heißt das zwangsläufig, dass Politiker heute aus den falschen Gründen ein Amt anstreben?
Das ist so auch nicht richtig. Es gibt immer noch Politiker, die für ihre Überzeugungen kämpfen. Dann gibt es aber auch das Phänomen, dass man sich als Gewählter zu sehr einer Partei oder einer parlamentarischen Mehrheit verpflichtet fühlt. Das gab es früher, in meiner Generation, auch schon. Doch heute stört mich dann doch, dass die Mehrheit im Parlament vor allem ein Fanclub der Regierung ist. Es fehlen Politiker, die bereit sind, Tacheles zu reden und für ihre Überzeugungen auch mal den Bruch mit dem üblichen politischen „Small talk“ wagen.
Die Ära Juncker hat die Partei und das Land eindeutig vorangebracht. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass am Ende dieser Ära wichtige Dossiers nicht mehr angepackt wurden.“
Aus welcher Überzeugung sind Sie in die Politik gegangen?
Es gab nicht nur einen Grund. Mein Bruder war schon ein engagierter Politiker. Durch ihn wurde ich politisch sozialisiert. Da ich als junge Frau bei „RTL Radio“ Musiksendungen moderierte, hatte ich zudem einen gewissen Bekanntheitsgrad. So ist die CSV 1974 erstmals an mich herangetreten, ob ich denn nicht bei Wahlen kandidieren wolle. Meine innere Überzeugung galt einerseits der Aufwertung des Berufs der Kulturschaffenden, und besonders der Musiker. Andererseits war es die Stellung der Frau. In meiner Generation waren wir Frauen noch überaus abhängig von unseren Ehegatten. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Wir mussten unsere Männer noch fragen, wenn wir ein Bankkonto eröffnen oder einen Job annehmen wollten. Alles das stand damals im Gesetz. Politik war für mich ein Weg, um diese Dinge zu ändern.
Warum in der CSV und nicht in einer anderen Partei?
Das lag einerseits in der Familie. Zum anderen war ich damals schon eine überzeugte Katholikin. Politik war bis zu einem gewissen Grad auch ein christliches Engagement.
Sie sagen damals waren Sie eine überzeugte Katholikin. Heute nicht mehr?
Es war eine andere Zeit. Die Welt hat sich gewandelt. Und doch bin ich im Prinzip immer noch davon überzeugt, dass christliche Werte in der Politik nichts Schlechtes sind. Im Gegenteil. Der Gedanke des Teilens, seine Mitmenschen so zu behandeln, wie man selbst gerne behandelt werden will, die Wahrung der Schöpfung, also der Natur in allen ihren Facetten: All das sind Prinzipien, die man zwar auch ohne Gottesglauben hochhalten kann. Doch meine Generation war diesen Überzeugungen doch sehr verbunden.

Ist dieser moralische Unterbau der Politik heute denn nicht mehr erkennbar?
Nein, eben nicht. Und es ist genau dieser Mangel, den insbesondere meine Partei thematisieren muss. Die CSV, ja die ganze christdemokratische Parteienfamilie muss sich auf ihre christlichen, und damit meine ich, ihre sozialen Wurzeln besinnen. Dafür müssen neue Antworten, eine neue Sprache und neue Begriffe her. Die junge Generation hat nämlich immer noch Überzeugungen. Die Jugendlichen sind jetzt auf die Straße gegangen für eine gute Sache, nämlich einen glaubwürdigen Klimaschutz. Man sollte sie dafür nicht kritisieren oder lächerlich machen, wie es manche Vertreter meiner Generation in negativen Kommentaren versucht haben. Man sollte dieses Engagement begrüßen. Die moralische Begründung von Politik nimmt zwar ab. Und es fehlt auch an Vorbildern in der Gesellschaft. Doch die Menschen dürfen mit Recht erwarten, dass sich die Politik stärker mit ihren Sorgen und Überzeugungen auseinandersetzt.
Sie haben Ihre Partei angesprochen. Liegt vielleicht genau darin das Problem der CSV: Dass sie sich langsamer als andere Parteien an den gesellschaftlichen Wandel angepasst hat und noch keine neuen Antworten auf Fragen unserer Zeit parat hat?
Ich verstehe diese Frage nicht ganz. Die Gesellschaft hat sich zwar gewandelt. Doch die CSV hat sich diesem Wandel nie verweigert. Auch andere Parteien fühlen sich einer sozialen, solidarischen Politik verpflichtet. Die CSV bleibt jedoch jene Partei, die die Solidarität zwischen den Menschen als höchstes Gut in der Politik betrachtet. Man sollte nicht vergessen: Die CSV ist immer noch bei weitem die größte Partei. Und damit meine ich vor allem ihre rund 10.000 Mitglieder und ihre feste Verankerung in der luxemburgischen Gesellschaft.
Als Politiker muss man auch zwischen den Wahlen nah bei den Leuten sein und ein Ohr für sie haben. Die Menschen haben da ein ganz sensibles Gespür dafür.“
Und doch ist diese große Partei seit über fünf Jahren nicht mehr in der Regierung. Was sind dann die Gründe für den Machtverlust der CSV?
Der Wahlausgang war für die ganze CSV natürlich enttäuschend. Zu den Gründen gehört, dass ihre Kampagne nicht viel ausgesagt hat. Man konnte schlicht nicht glaubhaft vermitteln, warum man die CSV wählen soll. Ein weiteres Problem ist, dass manche denken, dass man mit bestimmten Vorschlägen erst unter die Leute geht, wenn Wahlen anstehen. Hätte man das eigene Programm früher geschärft und im Dialog mit den Bürgern vorbereitet, wäre es vielleicht besser gelaufen. Dass es auch anders geht, zeigen ja die vielen Erfolge der CSV bei den Gemeindewahlen ein Jahr zuvor. Als Politiker muss man auch zwischen den Wahlen nah bei den Leuten sein und ein Ohr für sie haben. Die Menschen haben da ein ganz sensibles Gespür dafür.
Gibt es nicht auch strukturelle Gründe? Spätestens die Wahlen im vergangenen Jahr haben ja bestätigt, dass die CSV nicht mehr unbedingt gebraucht wird, um das Land stabil zu regieren …
Die Diagnose in Ihrer Frage stimmt, zumindest wenn man den Ist-Zustand betrachtet. Ich frage mich aber, wie die Bilanz dieser Regierung langfristig aussehen wird. Mir fehlt bei der aktuellen Koalition ein wirkliches Staatsbewusstsein. Dass man nicht nur fünf Jahre regiert und das eigene Programm durchzieht, sondern auch eine längerfristige Vision hat. Ich denke da besonders an die Renten- und Gesundheitspolitik. Sind unsere Sozialsysteme wirklich so aufgestellt, dass sie auch noch in 20, 30 Jahren ihren Zweck erfüllen? Wie ist das Land aufgestellt, wenn die Dynamik des Finanzsektors eines Tages einbricht? Die Regierung ist sich diesen Herausforderungen wohl bewusst. Aber sie regiert dennoch auf kurze Sicht. Dieser Eindruck hat sich in den vergangenen Monaten bestätigt.
Politik braucht Macher. Wenn man ständig zögert und niemandem auf die Füße treten will, kommt man nicht weit.“
Hat dieses kurzsichtige Regieren nicht eine gewisse Tradition? Auch der CSV wurde immer vorgeworfen, dass sie in Wahlzyklen regiert und vor allem gegen Ende der Juncker-Ära große Reformbaustellen anhäufte…
Das ist sicher richtig. Wir hatten 2013 in manchen Bereichen einen großen Rückstand. Das liegt auch nicht unbedingt an Parteien. Ich persönlich habe in meiner Regierungszeit und in meinen Ressorts immer versucht, Dinge voranzubringen. Aber nicht jeder funktioniert so. Politik braucht Macher. Wenn man ständig zögert und niemandem auf die Füße treten will, kommt man nicht weit. Die Ära Juncker hat die Partei und das Land eindeutig vorangebracht. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass am Ende dieser Ära wichtige Dossiers nicht mehr angepackt wurden.

Sehen Sie die CSV denn heute besser aufgestellt als noch vor den Wahlen?
Ich kann nicht für die heutige CSV sprechen. Ich bin zwar noch in manchen Gremien der Partei und besuche als Mitglied auch die Kongresse. Ich war auch auf dem Kongress, auf dem der neue Parteivorsitzende gewählt wurde. Da gab es das bemerkenswerte Phänomen, dass sich viele Mitglieder in der Tat erst entschieden haben, als die beiden Anwärter ihre Reden gehalten haben. Ein Kandidat hat eine inhaltliche Rede gehalten, die im Saal ankam, und konnte sich dann auch knapp durchsetzen. Beim jüngsten Kongress für die Europawahlen habe ich dann eine sehr große Geschlossenheit der Partei gespürt. Die CSV hat mehr Ressourcen als sie vielleicht manchmal selbst meint.
Mit Jean-Claude Juncker geht zum Ende des Jahres ein Mann in den politischen Ruhestand, der wie kein zweiter das Land in den vergangenen 30 Jahren geprägt hat. Damit wird gewissermaßen ein Epochenwechsel in der CSV, aber auch in der ganzen luxemburgischen Politik vollzogen. Wie groß schätzen Sie diese Zäsur ein?
Ich habe Jean-Claude Juncker als jungen Hoffnungsträger kennengelernt. Er war genau jener Politiker, der Überzeugungen hatte, Tacheles redete und nicht davor zurückschreckte, sich mit den Parteioberen anzulegen. Auch als Minister und Regierungschef hat er die Politik maßgeblich geprägt. Man sollte den Einfluss einer einzelnen Person aber auch nicht überschätzen. Der Erfolg war eine Teamleistung. Und das Team ändert sich von Zeit zu Zeit. Auch ich musste ja 2004 als Ministerin gehen, um den Jüngeren in der Partei Platz zu machen, wie man es mir damals erklärte. Dieses Schicksal ereilt früher oder später jeden von uns. (schmunzelt)
Ich war immer der Meinung, dass Politik nicht nur Geld verteilen soll, sondern eine langfristige Vision verfolgen muss.“
Sie wären gerne noch länger Ministerin geblieben?
Ja, und zwar weil ich noch einiges bewegen wollte. Es gibt durchaus Dinge, die mich im Rückblick frustrieren. Zum Beispiel, dass mit dem neuen Gesetz die Autonomie der Universität verloren gegangen ist. Wenn die Regierung will, das die Uni ein bestimmtes Projekt macht, dann wird es auch so gemacht – das war und ist nicht der Sinn einer eigenen Universität. Dass wir 15 Jahre gebraucht haben, um die unterschiedlichen Forschungszentren zusammenzulegen, gehört auch zu meinen Frustrationen. Ein weiteres Beispiel ist der Neubau des Nationalarchivs. Als ich die Regierung 2004 verließ, lag ein fertiges Projekt auf dem Tisch, doch es wurde nicht umgesetzt. Diese und andere Dossiers schneller zum Erfolg zu bringen, waren sicher Gründe, warum ich gerne noch Ministerin geblieben wäre.
Sie waren in Ihrer Karriere unter anderem Bau-, Bildungs- und Kulturministerin. Wie schätzen Sie die aktuellen Akzente in diesen Ressorts ein?
Also, als „Has been“ alles zu kritisieren, ist immer so eine Sache. (lacht) Ich war immer der Meinung, dass Politik nicht nur Geld verteilen soll, sondern eine langfristige Vision verfolgen muss. Nehmen wir das Beispiel der Kulturpolitik. Es geht nicht nur darum, Ausstellungen einzuweihen oder Bändchen durchzuschneiden. Kulturpolitik soll eine weitsichtige Investition in das Erbe des Landes sein. Kulturförderung und Infrastrukturpolitik müssen dabei Hand in Hand gehen. Auch hier geht es um das Staatsbewusstsein. Der Anspruch der Politik darf nicht nur sein, Parteiprogramme umzusetzen, um in fünf Jahren hoffentlich wiedergewählt zu werden. Es geht doch immer darum, das Land langfristig zu prägen und lebenswert zu gestalten.