Alle Jahre wieder hält der Premierminister im Parlament die „Rede zur Lage der Nation“. Für den aktuellen Amtsinhaber könnte es an diesem Dienstag die letzte dieser Art sein. Eine Analyse über das gefühlte Ende einer kurzen Ära.

Als Xavier Bettel am 2. April 2014 seine erste „Rede zur Lage der Nation“ hielt, war er nicht nur vier Jahre jünger, sondern auch um einiges reformfreudiger. Voller Tatendrang und Optimismus legte er das Programm der Regierung dar. Die Koalition aus DP, LSAP und déi gréng wollte das Land aus der Lethargie der späten Juncker-Ära führen. Sie war unzertrennlich und hatte den Anspruch auch über den nächsten Wahltermin hinauszudenken. Nach vier Jahren ernüchternder Regierungspolitik ist von diesem Elan der Erneuerung jedoch nicht mehr viel übriggeblieben.

Die Rede zum „Etat de la Nation“ ist für eine Regierung jedes Jahr aufs Neue die Gelegenheit, ihre Arbeit in ein gutes Licht zu stellen. So wird es auch dieses Jahr sein, wenn Xavier Bettel am Dienstag zum fünften Mal in seiner Amtszeit diese parlamentarische Pflichtübung vollzieht. Angesichts der kommenden Parlamentswahlen und einer möglichen Abwahl von Blau-Rot-Grün könnte es allerdings auch Bettels letzter „Etat de la Nation“ im Amt des Staatsministers sein.

Große politische Akzente sind von Bettels Regierung ohnehin nicht mehr zu erwarten. Selbst wenn der Premier in seiner Rede neue Initiativen ankündigen wird, ist die Zeit schlicht zu knapp, um bis zum Oktober noch irgendwelche größeren Reformen umzusetzen. Wenn Bettel am Dienstag also Sätze sagen wird wie „Wir wollen…“, „Wir müssen…“, „Wir werden…“ handelt es sich dabei mehr denn je um Absichtserklärungen. Alles, was jetzt noch kommt, sind Wahlkampfversprechen oder heiße Eisen, die man lieber einer nächsten Regierung überlassen will.

Ein wahres Fest für die Phrasendrescher

Zu erwarten sind denn auch eher die längst bekannten politischen Phrasen. Vor allem für Bettels Redenschreiber ist der Termin nämlich der Höhepunkt des Jahres. Auch dieses Mal werden alle Register der regierungspolitischen PR gezogen und das Maximum an wohlklingenden Sätzen in der Rede untergebracht. Davon konnte man sich schon in den vergangenen Jahren überzeugen. Aber für Bettels engste Mitarbeiter im Staatsministerium gilt letztlich das gleiche wie für ihren politischen Vorgesetzten: Auch für sie könnte es in dieser Form das letzte Mal sein.

Fest steht: Diese Koalition hat in der Tat einiges erreicht. Fest steht aber auch: Ihr sind die Visionen für die Zukunft ausgegangen. »

Ohne der Schreibkunst von Bettels Stab vorzugreifen, lassen sich die rhetorischen Highlights schon erahnen: Auch im Jahre 2018 befindet sich das Land auf einem guten Weg. Die Herausforderungen sind groß, die Kinder unsere Zukunft und die Wirtschaft kein Selbstzweck. Nach wie vor muss die Politik Verantwortung übernehmen, nachhaltig haushalten, in Köpfe investieren und kann trotz allem mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Oder um es mit Xavier Bettel Anno 2017 zu sagen: „Lëtzebuerg geet et gutt, wann et de Mënschen zu Lëtzebuerg gutt geet.“

Die breit gestreuten Floskeln sollten dennoch nicht den Blick auf die Inhalte versperren. Man darf, sollte hier aber lieber nicht allzu gespannt sein. Bettel wird betonen, wie seine Regierung das Land erneuert hat, wie sie die Lähmung der letzten CSV-LSAP-Koalition beendete, die Staatsfinanzen wieder ins Gleichgewicht brachte, das Wachstum wieder ankurbelte, die Arbeitslosigkeit senkte, den Finanzplatz säuberte, die Wirtschaft diversifizierte, die Gesellschaft modernisierte und vieles mehr. Eine weitergehende, womöglich selbstkritische Analyse der Lage des Landes ist wie in den vergangenen Jahren nicht zu erwarten.

Finanzpolitik als politische PR

Demut und Selbstkritik sind in der Regel nicht die Sache von Spitzenpolitikern. Xavier Bettel macht da keine Ausnahme. Alles, was gut ist, wird er sich, seiner Partei oder seiner Koalition zuschreiben. Überall, wo es keine allzu rosige Bilanz gibt, wird sich dagegen schon ein anderer Schuldiger finden. Während die positiven makroökonomischen Zahlen seit Wochen als alleinige Leistung von Blau-Rot-Grün verkauft werden, wird die Verantwortung für die Misserfolge stets ausgelagert. Nach dem Motto: „Die Arbeitslosigkeit sinkt? Das waren wir. Die Preise am Wohnungsmarkt steigen weiter? Das waren die anderen.“

Blau-Rot-Grün hat die „Schuldenspirale“ nicht wirklich gebrochen. Die nackten Zahlen werden Bettel jedoch nicht davon abhalten, ebendies erneut zu behaupten. »

Der selbstgerechte Diskurs wird sich nicht zuletzt in der Finanz- und Haushaltspolitik zeigen. 2013 wurde im Wahlkampf noch ein düsteres Schreckensszenario beschworen, wonach Luxemburg aufgrund ansteigender Staatsschulden vor dem Abgrund stehe. Alles war schlecht, die CSV prinzipiell an allem schuld und das Land bedurfte eines mutigen liberalen Retters, der die Finanzen des Staates mit harter Hand wieder ins Lot bringt.

Mittlerweile weiß man, dass das mit der Sanierung des Haushalts nicht ganz so ernst bzw. eher als Mittel zu einem übergeordneten politischen Zweck gemeint war. Wie Bettel bei seiner ersten Rede 2014 vorrechnete, war der Schuldenstand des Staates 2013 nach Finanzkrise und weltweiter Rezession bei elf Milliarden Euro gelandet. Wenn im nächsten Jahr wieder ein Premier die Rede zur Lage der Nation halten wird, werden die Staatsschulden bei knapp 14 Milliarden Euro liegen. Blau-Rot-Grün hat die „Schuldenspirale“ also nicht wirklich gebrochen. Die nackten Zahlen werden Bettel jedoch nicht davon abhalten, ebendies erneut zu behaupten.

Was der Staatsminister nicht sagen wird: Schon 2013 hatte sich die Konjunktur und das Budget des Gesamtstaats von der Finanzkrise erholt. Blau-Rot-Grün musste zwar die Einnahmenausfälle aus der sogenannten „TVA commerce éléctronique“ kompensieren, doch erbte sie auch die positiven budgetären und konjunkturellen Effekte des letzten Konsolidierungsprogramms der Vorgängerregierung. Das eigene, als „Zukunftspak“ verschleierte Programm von Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen fiel demnach weitaus milder aus als angekündigt. Letztlich gab man dann fast genau die Summe, die man dadurch im Staatshaushalt konsolidierte, im Zuge der Steuerreform wieder aus.

Wachstumsdebatte und Demokratieproblem

In der Nachlese von Bettels vergangenen Reden erscheint die Dramaturgie der Legislaturperiode jedenfalls gut geplant. Auch für Blau-Rot-Grün gilt längst der politische Dreisatz: Erst „sparen“, dann wieder verteilen, um am Ende wiedergewählt zu werden. Nicht nur in dieser Hinsicht bewegt sich die Koalition in den bewährten Pfaden luxemburgischer Regierungspolitik. Die politisch-elektorale Rechnung geht denn auch nur auf, wenn die Wirtschaft immer weiter wächst. Wie nachhaltig und sozial verträglich dieses Wachstum dauerhaft sein kann, bleibt hingegen auch für diese Regierung eine abstrakte Frage.

Die drei Parteien, die sich das Einwohnerwahlrecht leidenschaftlich auf die Fahnen geschrieben hatten, wollen davon heute lieber nichts mehr wissen. »

Apropos: Die Rede wäre für den Premier eigentlich die Gelegenheit, auch einmal ansatzweise zu sagen, wo er denn in der von CSV, LSAP und Grünen längst geführten Wachstumsdebatte steht. Bettel versteht sich seit geraumer Zeit offenbar als Regierungsmoderator und Repräsentant des Landes im Ausland. In die Niederungen der innenpolitischen Gestaltung hat er sich schon länger nicht mehr herabgelassen. Bettels Selfie-Album mit den Macrons und Merkels dieser Welt wird zwar immer voller. Bei jenen Themen, die die Bürger des Landes unmittelbar betreffen, überlässt er jedoch bisher seinen Kabinettskollegen weitgehend das Feld.

Ebenso würde man sich ein Wort des Regierungschefs zur nüchternen Bilanz in der Gesellschaftspolitik wünschen. Auch hier wird Bettel aber wohl nur die Erfolge – etwa die „historische“, „im Dialog“ beschlossene Neuordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen – betonen. Dass diese Regierung jedoch ohne Not ein Referendum zum Ausländerwahlrecht vom Zaun brach, dieses haushoch verlor und damit die unterschwellige Spaltung der luxemburgischen Gesellschaft zementierte – hierfür wird Bettel auch in der diesjährigen Rede nicht die Verantwortung übernehmen.

Angesichts der politischen Sprengkraft wird er Luxemburgs weiter ungelöstes Demokratieproblem vermutlich erst gar nicht ansprechen. Während das Land nämlich in diesem Jahr die Marke von 600.000 Einwohnern überschritten hat, steht die akute Frage der politischen Integration von Nicht-Luxemburgern weiter im Raum. Der unausweichliche Wendepunkt, an dem die Luxemburger mit nationalem Wahlrecht in der Minderheit sein werden, rückt näher. Doch die drei Parteien, die sich das Einwohnerwahlrecht bis 2015 noch leidenschaftlich auf die Fahnen geschrieben hatten, wollen davon heute lieber nichts mehr wissen.

Dieser Regierung gehen die Visionen aus

Fest steht: Diese Koalition hat in der Tat einiges erreicht. Fest steht aber auch: Ihr sind die Visionen für die Zukunft ausgegangen. So wird sich Bettels Rede mehr denn je mit der Vergangenheit befassen und das in weiten Zügen abgearbeitete Koalitionsprogramm noch einmal Revue passieren lassen. Im Wahljahr heißt es jedenfalls: Bilanz ziehen und diese Bilanz pauschal in den höchsten Tönen preisen. Das „Wir haben…“ wird das „Wir werden…“ bei weitem übersteigen. Bei viel mehr ist man sich innerhalb der Koalition auch längst nicht mehr einig.

Spricht man jedenfalls mit Koalitionspolitikern über das, was sie nach den Wahlen noch an Reformen anzubieten haben, halten sich die substanziellen Antworten stark in Grenzen. Das Projekt Blau-Rot-Grün scheint bereits nach einer Legislaturperiode an seine gestalterischen Grenzen zu stoßen. Dieses gefühlte Ende der blau-rot-grünen Ära wird sich auch in Bettels Rede bemerkbar machen – unabhängig davon, ob es in der Tat seine letzte Rede dieser Art sein wird.