Am 2. Oktober zelebrierte Indien Gandhis 150. Geburtstag. Ein Besuch in Gandhis sozialem Laboratorium in Ahmedabad zeigt jedoch, dass die Kernprobleme aus dem Leben des weltweit bekannten Unabhängigkeitskämpfers wenig an Aktualität verloren haben.
Regungslos sitzt der Vater der Nation auf der Wiese, die Augen zur Meditation geschlossen. Der Strom von Besuchern scheint ihn nicht zu stören, auch nicht, als eine Horde quirliger Grundschulkinder ihn so eng umzingelt, dass nur noch sein kahler Kopf auszumachen ist. Zwei Mädchen haben auf dem Schoße der Bronzestatue Gandhis Platz genommen, während ein frech dreinblickender Junge sich auf der Glatze des Mahatmas abstützt. Eine Lehrerin im bunten Sari sortiert ihre Schützlinge zum Gruppenfoto. « Wer ist dieser Mann hier? », fragt sie noch einmal. „Bapujiii!“, rufen die Schüler im Chor, „unser verehrter Vater!“. So wird Gandhi in Indien bis heute genannt.
Jeden Tag besuchen Hunderte Familien, Tagestouristen und Schulklassen den Sabarmati-Aschram im Norden von Ahmedabad, der Hauptstadt des westindischen Bundesstaats Gujarat. Der Aschram beherbergt heute ein Museum, in dem der Werdegang Gandhis nachgezeichnet wird — vom schüchternen Jurastudenten im britischen Exil zum pazifistischen Anführer des indischen Kampfes für die Unabhängigkeit.
Hier am Ufer des Sabarmati-Flusses gründete Mohandas Karamchand Gandhi im Jahr 1917 eine Kommune, die für dreizehn Jahre zum Laboratorium seiner spirituellen, gesellschaftlichen und politischen Ideale wurde. In der Aschram-Lebensgemeinschaft säte Gandhi jene Samen, die 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens aufgehen sollten. Im Jahr 1930 brach Gandhi von hier mit Aschrambewohnern zu seinem berühmten Salzmarsch auf.
Ideale, Inspiration und Plattitüden
Die Grundlage Gandhis sozialer Experimente war seine Satyagraha-Philosophie, wörtlich übersetzt das „Festhalten an der Wahrheit“. „Wahrheit“ bedeutete für Gandhi weit mehr als nur eine lügenfreie Sprache, sondern ein kontinuierliches Streben nach einem Ideal, der vollständige Einklang von Gedanke, Wort und Tat. Auch heute scheinen das für viele Inder hohe, aber nach wie vor erstrebenswerte Ideale. Die Werte des passiven Ungehorsams und gewaltlosen Widerstands, auf denen der indische Unabhängigkeitskampf basierte, entsprangen aus diesem Verständnis von Wahrheit.
Gandhis Philosophie inspirierte das Handeln großer Freiheitskämpfer wie Martin Luther King und Nelson Mandela und veranlasste Albert Einstein, den Mahatma mit diesen Worten zu charakterisieren: « Zukünftige Generationen werden kaum glauben können, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie er, jemals auf Erden gewandert ist.“

Mahatma Gandhi hat nach wie vor eine ungebrochene Präsenz im Bewusstsein der Inder. „Die große Seele“ blickt von Geldscheinen und Bürowänden oder überschaut als Statue den Marktplatz jeder mittelgroßen indischen Stadt. Dass Gandhi-Zitate gerne in Reden von Politikern hervorgekramt werden, jedoch kaum jemand heute seine Prinzipien wirklich begreift und zu leben versucht, ist in Indien fast schon eine Plattitüde. Zu seinem 150. Geburtstag ließ die Regierungspartei BJP (Indische Einheitspartei), ein Promotionsvideo drehen, das die aktuelle Politik als Fortsetzung von Gandhis Traum darstellen ließ.
Teil des kollektiven Gedächtnisses
„Um ein besseres Leben zu führen, müssen die Menschen von heute die Gedanken Gandhis wieder verstehen lernen“, sagt Lata Parmar, die an der Gujarat Vidayapit Universität in Ahmedabad einen Master in Gandhischer Philosophie absolviert hat. Nun arbeitet sie als Sprecherin des Sabarmati-Aschrams.
Parmar sitzt auf dem Fußboden des Hriday Kunj, dem bescheidenen Wohnhaus, in dem Gandhi während seiner Aschramzeit lebte und Besucher empfing. Vor ihr liegt ein portables Spinnrad, das in einen Holzkoffer integriert ist. Gandhi habe immer ein Exemplar bei sich geführt, erklärt Parmar, auch als er 1931 zur Round-Table-Konferenz mit den britischen Kolonialherren nach London reiste.
Letztlich ist Gandhi nur ein Gedanke. Jeder versteht etwas anderes darunter. »Madhusudan Agrawal, Freiwilliger im Sabarmati-Aschram
Vor den Augen der Museumsbesucher zieht Parmar den gerade entstehenden Baumwollfaden in die Höhe, so wie es einst Gandhi vormachte. „Bitte nicht berühren!“, ermahnt sie eine Gruppe von Versicherungsbeamten, die noch schnell ein Selfie mit Gandhis Original-Spinnrad aufnehmen wollen.
Das charkha, mit dem Gandhi gegen das Baumwollmonopol der Briten protestierte, avancierte zum Symbol der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Das Holzrad verkörperte Autonomie und Selbstversorgung, das Recht des indischen Volkes, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Im industrialisierten Indien des 21. Jahrhunderts jedoch scheint das charkha nurmehr ein museales Erinnerungsstück im kollektiven Gedächtnis.
Gandhis Lehre neu entdecken
„Das charkha war nur ein Werkzeug. Daran sollten wir Gandhi nicht festmachen. Wir leben in einer anderen Zeit. Statt dessen müssen wir die Essenz von Gandhis Lehre neu entdecken“, sagt Madhusudan Agrawal, der gegenüber vom Gandhi-Aschram in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt. Der 38-Jährige ist in eine kurta gekleidet, das traditionell indische Kniehemd, und hat die Ausstrahlung eines Intellektuellen. „Gandhi hat mich gelehrt, meine eigene Wahrheit zu suchen.“
Agrawals Biografie ist wie die moderne Version von „Satyagraha“. Agrawal ging in den Vereinigten Staaten auf eine Filmschule. Nach seiner Rückkehr reiste er monatelang über den indischen Subkontinent um inspirierende Projekte und Persönlichkeiten, die sich einem besseren Indien widmen, zu dokumentieren — immer bemüht, selbst „Wahrheit“ zu erfahren. Dabei stieß Agrawal auch auf den Sabarmati-Aschram und wurde zum Langzeit-Freiwilligen in den diversen NGOs, die sich dort angesiedelt haben. Dutzende Aktivisten verschreiben sich dort — inspiriert von Gandhis Werten — Themen wie Sanitärversorgung oder den Rechten von Frauen und Unberührbaren.
„Letztlich ist Gandhi nur ein Gedanke. Jeder versteht etwas anderes darunter. Mich berührt vor allem seine Liebe, seine Kapazität, in jedem das Gute zu sehen“, sagt Agrawal. „Wenn wir die Wahrheit des Anderen anerkennen, dann fühlt er sich gehört und verstanden. Natürlich ist Chaos zwischen all den unterschiedlichen Wahrheiten zunächst unvermeidlich. Deshalb muss Wahrheit gleichzeitig immer auch mit Liebe und Verständnis für den Anderen gepaart sein.“
Die Konflikte in der Gegenwart
Dass Indien zur Zeit einen Clash der unterschiedlichen Wahrheiten erlebt, weiß auch Agrawal. Ahmedabad — Schauplatz verheerender hindu-muslimischer Unruhen im Jahr 2002 — steht dabei wie keine andere Stadt für die Narbe des Zwiespalts zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der indischen Gesellschaft. Es ist jene Narbe, die sich seit Indiens turbulenter Staatsgründung und der Abspaltung Pakistans immer wieder in aufflammenden Konflikten zwischen Hindus und Muslimen äußert. Die Bewahrung des Friedens zwischen den religiösen Gemeinschaften war eines der wichtigsten Anliegen Gandhis, der bei interreligiösen Ausschreitungen mehrfach in den Hungerstreik trat.
Auch heute ist das Thema wieder brandaktuell in Indien: Die Politik von Premierminister Narendra Modi hat in den letzten Jahren zunehmend zu einer Stigmatisierung von Muslimen als Bürger zweiter Klasse geführt. Die aktuelle Kaschmir-Krise, die auf die Jahre der indischen Unabhängigkeit zurückgeht, hat diese Entwicklung noch weiter zugespitzt.
Im Sabarmati-Aschram weiß man jedenfalls, dass Gandhis „Experimente mit der Wahrheit“ — so der Titel seiner Autobiografie — nur ein Anfang waren. Die Unruhen in Gujarat 2002 bestätigten für viele dort die Dringlichkeit der Friedensarbeit, die im Aschram weitergeführt wird. Teil davon ist die tagtägliche Morgenandacht in den Räumlichkeiten der Gandhianischen NGO Manav Sadhna, die mit verschiedenen Projekten das Leben von neunhundert Slumkindern im Umkreis des Gandhi-Aschrams verbessern will. Darunter sind Kinder sowohl aus Hindu- als auch aus Muslim-Familien.
Dementsprechend enthält auch die Andacht Gebete aus sieben verschiedenen Glaubenstraditionen, die in Indien vertreten sind. Madhusudan Agrawal, geborener Hindu aber nun in einem Einheitsverständnis verwurzelt, besucht die Andacht regelmäßig. Beim Suchen nach der Wahrheit gehe es nicht darum, Unterschiede zu negieren. „Unterschiede hat es zu Gandhis Zeiten gegeben und auch heute gibt es sie. Heute jedoch brauchen wir mehr denn je Aktivisten, die mit Unterschieden leben können und ihre eigenen inneren Stärken nutzen, um die Welt zu verändern“, sagt Madusudhan. Letztendlich habe Gandhi ja auch nichts anderes getan, festgehalten in seiner berühmten Maxime „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“
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