Seit die indische Regierung Kaschmir den Sonderstatus aberkannt hat, brodelt es wieder in der Region. Jahrzehntelang bestimmt der Konflikt um das Tal schon das Leben der Kaschmiris. Ein Reportage aus dem indischen Kaschmir.
Man könnte fast meinen, irgendwo in den Alpen zu sein, so sehr erinnern Berg, Wiesen und Wasser an eine Schweizer Alm. Ein paar Mal müssen Bächlein überquert werden, weiße Blumen sprießen an ihren Rändern. Dann blockiert ein umgefallener Baumstamm den Weg und fordert zum Klettern auf. Eine Idylle, fast zu schön um wahr zu sein.
„Wenn es das Paradies auf Erden geben sollte, dann ist es hier, hier, hier” — diesen berühmten Vers, den der indische Dichter Amir Chusro über Kaschmir schrieb, rezitieren die Bewohner des Kaschmirtals besonders gerne. Doch Kaschmir ist nicht nur ein Paradies, sondern auch jene Region, die seit Jahrzehnten Zankapfel der beiden Erzfeinde Indien und Pakistan ist. In zwei der drei Kriege, welche die Nachbarn gegeneinander führten, ging es um Kaschmir. Heute wird ein Teil Kaschmirs von Pakistan regiert, während der größere Rest zu Indien gehört. Beide Länder jedoch beanspruchen die Region gänzlich für sich.
Auch bei einem Spaziergang bei Gulmarg taucht die politische Realität plötzlich auf, wie es in Kaschmir oft der Fall ist: Ich treffe auf Hamid und Arif, gerade sechzehn, lässig gekleidete Teenager in Kapuzenpullis, auf einem Ausflug in die Berge ohne die Eltern. Für das Foto mit der Handykamera zieht Arif seine Kapuze über, setzt sich eine getönte Sonnenbrille auf die Nase und streckt die Hand wie ein Rapper von sich.
Nach einigen Minuten des Austauschs driftet das Gespräch in die Politik ab, es geht um die Lage im Kaschmirtal und den Unmut der Kaschmiris über die indische Regierung. Bald erzählt Hamid von Straßenkämpfen in seiner Heimatstadt Sopur, die einige Dutzend Kilometer entfernt liegt von der „Line of Control”, jener UN-Waffenstillstandslinie, die Kaschmir seit 1949 in einen indischen und einen pakistanischen Teil unterteilt. Schon mehrfach haben er und seine Freunde Steine auf die indischen Soldaten geworfen. Das ging lange gut. Doch eines Tages antwortete das Militär mit Kugeln und erschoss dabei Hamids Bruder Mudassir.
„Kaschmirische Intifada”
Hamid nennt seinen Bruder jetzt „Schahid“, den Märtyrer. Ein großartiger Fußballspieler sei er gewesen, wurde sogar auf ein Turnier nach New York eingeladen. Auch Hamid wurde beim Steineschleudern angeschossen. Er krempelt die Hose hoch und zeigt stolz auf die Schusswunde an seinem Bein.
Hamids Bruder ist einer von Tausenden Kaschmiris, die in den letzten drei Jahrzehnten in der „kaschmirischen Intifada“, das heißt in Kämpfen mit dem indischen Militär, ums Leben gekommen sind. Seit den 1990er Jahren ist Kaschmir Schauplatz eines Guerillakrieges zwischen Separatisten und dem indischen Militär, in dessen Zuge Kaschmir zu einer der am stärksten militarisierten Zonen der Welt verwandelt wurde.
Die Wurzeln der verfahrenen Situation in Kaschmir sind in der unruhigen Übergangsphase nach der indischen Unabhängigkeit von 1947 zu suchen: Damals waren lokale Regenten aufgefordert, ihre Hoheitsgebiete der indischen Union anzuschließen. Ursprünglich wollte Prinz Hari Singh, dessen Dynastie der Dogris Kaschmir 100 Jahre regiert hatte, Unabhängigkeit für die Region erlangen. Doch als pakistanische Stammeskämpfer damals versuchten, Kaschmir einzunehmen, ließ er sich auf einen Anschluss an den neu gegründeten Staat Indien ein. Mit der Eingliederung Kaschmirs im Oktober 1947 wurde durch Artikel 370 der indischen Verfassung gleichzeitig Kaschmirs Sonderstatus innerhalb der indischen Union festgelegt.
Neuer Zündstoff in fragiler Region
Am 5. August ließ die Regierung von Narendra Modi nun genau diesen Artikel per Dekret annullieren. Artikel 370 räumte Kaschmir weitreichende Autonomierechte ein. Neben dem Recht der Kaschmiris auf eine eigene Flagge gab Artikel 370 den Kaschmiris die Befugnis, außerhalb der indischen Verfassung eigene Gesetze zu beschließen, außer in Sachen Verteidigung, Kommunikation und Außenpolitik. Außerdem beinhaltete der Paragraph ein Verbot für Nicht-Kaschmiris, im Staat Wohneigentum zu erwerben.
Bereits während des polarisierenden BJP-Wahlkampfs vor den Präsidentschaftswahlen im Mai, der sich oftmals gegen Indiens muslimische Minderheit richtete, hatte Modi angekündigt, Kaschmirs Sonderstatus aufheben zu wollen — ein Versprechen, das bei seiner treuen Hinduwählerschaft gut ankam und nun eingelöst wurde.
Fortan sollen Jammu und Kaschmir nun von Delhi aus als Unionsterritorium regiert werden. Unmittelbar nach dem Dekret verhängten die indischen Behörden eine großflächige Abriegelung Kaschmirs. Die Militärpräsenz in der ohnehin stark militarisierten Hauptstadt Srinagar wurde erhöht, Ausnahmezustand verhängt. Alle Kommunikationslinien wurden gekappt, örtliche Politiker verhaftet oder unter Hausarrest gestellt.
Modi hat einen strategischen Fehler begangen. Er hat seine letzte Karte gespielt.“Pakistans Premier Imran Khan
Modis Entscheidung führte zu neuem Zündstoff in der ohnehin angespannten Situation zwischen Indien und Pakistan: Bei mehreren Schusswechseln an der „Line of Control” kamen auf beiden Seiten in den letzten Tagen Soldaten ums Leben. Pakistan feierte seinen 72. Unabhängigkeitstag am 14. August deshalb symbolisch in Muzaffarabad, der Hauptstadt von „Azad Kaschmir” (Freies Kaschmir), wie Islamabad den von Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs nennt. Dabei sagte Premier Imran Khan: „Modi hat einen strategischen Fehler begangen. Er hat seine letzte Karte gespielt. Nun haben sie das Kaschmir-Thema international gemacht.”
Im Zuge einer diplomatischen Offensive führte Pakistan nun eine Sondersitzung des UN-Weltsicherheitsrats herbei, um Indiens „illegale Handlungen” anzuprangern. Die indische Seite wehrte sich ihrerseits gegen das, was man als Einmischung in nationale Belange sieht. Von Imran Khan kam die Versicherung: „Wir werden uns an jedes internationale Forum wenden (…). Wir werden zum Internationalen Gerichtshof gehen.” Außerdem warnte Pakistans Premier vor der „Nazi-inspirierten” hindunationalistischen Ideologie, welcher Modi bereits seit Kindesbeinen anhänge.
Indiens langfristiger Plan
Modi scheint mit seiner Kaschmir-Strategie einen langfristigen Plan zu verfolgen, von dem er sich nicht so leicht abbringen lassen wird. Zunächst einmal passt die Umkrempelung des einzigen indischen Bundesstaates mit einer muslimischen Minderheit in die Vision eines Hindu-Indiens, in dem Muslime in letzter Konsequenz nur noch geduldet werden. Nicht-Kaschmiris zu erlauben, in Kaschmir Grund und Immobilien zu erwerben, wird zu einer langsamen Besiedelung Kaschmirs durch Inder aus anderen Landesteilen führen — darauf hoffen auch die Hindus, die einst im Zuge von religiös-politischen Spannungen Kaschmir verlassen mussten.
Letztlich wäre Modi aber nicht Modi, wenn hinter dieser Entscheidung nicht massive wirtschaftliche Pläne stecken würden. Indiens Regierungschef präsentiert Kaschmir gerne als „failed state” und verspricht eine Verbesserung der Infrastruktur und Erhöhung der Lebensqualität für Kaschmiris. Zu befürchten ist jedoch die Zerstörung einer bisher relativ unangetasteten Region mit idyllischer Natur und einer intakten lokalen Ökonomie, die hauptsächlich auf Tourismus, Kunsthandwerk, Gartenbau und Weidewirtschaft beruht.
„Wir wollen weder zu Indien gehören, noch zu Pakistan. Wir wollen Azadi!”, rief Hamid, der Steinewerfer, beim Spaziergang in Gulmarg. „Azadi” bedeutet „Freiheit” auf Kaschmiri und ist —vielfach an Mauern und Häuserwände geschmiert — zum Schlachtruf für den Traum von der Unabhängigkeit von Indien geworden. Doch nach Jahrzehnten der quasi-imperialen Politik aus Neu Delhi scheint Kaschmir weiter von Freiheit entfernt als je zuvor.