Die hindu-nationalistische Politik von Premier Narendra Modi wirft einen Schatten auf den traditionell stark ausgebildeten indischen Pluralismus. Anti-muslimische Stimmungen nehmen seit Jahren zu. Eine Reportage von Marian Brehmer.
Eine Szene im Schlafwagen eines indischen Nachtzugs auf dem Weg in die muslimische Pilgerstadt Ajmer. Der Waggon ist ein buntes Potpourri an Menschen und Geräuschen. Tobende Kinder, beleibte Frauen in Saris, Geschäftsmänner und eine Gruppe wandernder Hindus.
Mittendrin, auf einer der blau gepolsterten Liegen, sitzen zwei ältere Herren, deren weißer Rauschebart sie unverkennbar als Muslime identifiziert. Plötzlich ziehen die beiden aus ihren Taschen weiße Gebetskappen hervor und nehmen, ohne sich vom Fleck zu rühren, eine konzentrierte Haltung an. Dann schließen sie die Augen, murmeln eine Sure vor sich hin, krümmen ihre Rücken und legen die Hände auf die Oberschenkel.
Das muslimische Ritualgebet, sitzend in einem schaukelnden Zug, irgendwo zwischen den indischen Bundesstaaten Gujarat und Rajasthan: Für einen Moment scheinen die Männer in ihrer Ausrichtung nach Mekka dem Treiben um sie herum entflohen. Niemand von den anderen Passagieren schaut auf, niemand wundert sich über die improvisierte Abendandacht.
Modi, ein Premierminister für alle Inder?
Indien ist mit 195 Millionen Muslimen nach Indonesien das Land mit der weltweit höchsten muslimischen Bevölkerung. Laut einem Bericht des “Pew Research Centers” aus diesem Jahr wird Indien 2060, also in weniger als zwei Generationen, mit über 300 Millionen die meisten Muslime auf der Erde beherbergen.
Während Indiens Muslime auf dem Subkontinent die mit Abstand am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe sind, scheinen sie zurzeit auch die deutlich verletzlichste von Indiens Minderheiten zu sein. Als Indiens Präsident Narendra Modi von der Indischen Volkspartei (BJP) 2014 sein Amt als Premierminister Indiens antrat, hatten viele von Indiens Muslimen — traditionell Wähler der Kongresspartei — ein ungutes Gefühl. Da waren zum Einen Modis unrühmliche Verstrickungen in die anti-muslimischen Progrome in Gujarat im Jahr 2002, zum Anderen seine Zugehörigkeit zu einer Partei, die sich seit Jahrzehnten eine hindu-nationalistische Politik auf die Fahnen geschrieben hat.
Modi bemühte sich damals, die Sorgen der Muslime zu zerstreuen, indem er ihnen nach dem Erringen der absoluten Mehrheit bei den Wahlen versprach, ein Premierminister aller Inder sein zu wollen. Doch wie sieht es fünf Jahre später aus, nachdem Modi im vergangenen Mai in seinem Amt bestätigt wurde?
Strukturelle Diskriminierung von Muslimen
Fest steht: In den Jahren von Modis erster Legislaturperiode hat es in Indien einen deutlichen Anstieg an anti-muslimischer Gewalt gegeben. Das wohl beunruhigendste Indiz sind die rund 40 Lynchmorde an Muslimen, vor allem in Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Verzehr von Rindfleisch. Sie zeugen von einem kulturellen Klima, das sich aus einem Überlegenheitsgefühl der Hindus nährt und in dem es zumindest einfacher geworden ist, Minderheiten anzugreifen. Viele der Vorfälle blieben ungeahndet.
Hinzu kommt die weniger schlagzeilentaugliche strukturelle Diskriminierung der Muslime, sei es im Bildungswesen, auf dem Wohnungsmarkt oder in der Gesundheitsversorgung. Diese hat es schon immer gegeben, wurde aber unter der BJP-Führung weiter zementiert. All dies hat bei Muslimen in vielen Regionen in den letzten Jahren den Eindruck verstärkt, in ihrem Land nicht mehr gewollt und bestenfalls nur noch geduldet zu sein. Besonders in Nordindien fühlen sich Muslime in ihren angestammten Wohngegenden häufig nicht mehr sicher.
Nach einem stark polarisierenden Wahlkampf mit dem Thema Sicherheit im Zentrum, Pakistan als Feindbild und rassistischen Aussagen von BJP-Politikern (bangladeschisch-muslimische Flüchtlinge glichen „Termiten“) sehen Kritiker Modis Partei auf einer mehr oder weniger offenen Mission: den Säkularismus, einst festgeschrieben von Indiens erstem Staatsmann Nehru, langsam aber sicher aus der Verfassung zu streichen und einen Hindutva-Staat zu errichten.
Säkularismus-Tradition als Hoffnungsschimmer
Am Schrein von Ajmer ist von solchen Ängsten und Bedrängnis wenig zu spüren. Wie jeden Abend hat sich auch heute eine große Zuschauermenge um die Qawwali-Musiker geschart, die ekstatisch klatschend die Hymnen großer Sufi-Dichter in den von Räucherstäbchenduft erfüllten Nachthimmel schmettern. Im Publikum sitzen Männer und Frauen gemischt — Muslime, aber auch Hindus und Sikhs. Hier ist einer jener Orte in Indien, die symbolisch für den jahrhundertelangen Geist des fruchtbaren Zusammenlebens der Religionen auf dem indischen Subkontinent stehen.

Blickt man in die Geschichte des Subkontinents, so lassen sich viele Ausprägungen dieses Geistes finden. Indien bedeutete über Jahrhunderte Inklusion statt Ablehnung, Zusammenfluss statt Spaltung. Natürlich mangelt es in der Geschichte des Subkontinents ebenso wenig an Episoden von Eroberung und Blutvergießen. Doch trotz aller negativen Entwicklungen kann man die Hoffnung aufrechterhalten, dass diese urindische Haltung an vielen Orten weiterleben wird, so wie sie auch Stürme und Angriffe in der Vergangenheit überlebt hat.
Hat sich das gesellschaftliche Klima zwar insgesamt zugespitzt, so hat es in den letzten fünf Jahren zumindest keine der großen Unruhen oder Pogrome gegeben, die Indien in unregelmäßigen Abständen immer wieder erschüttern. Relativ gemessen an den indischen Bevölkerungsdimensionen sind diese ein hässliches Übel, sollte aber nicht zu vorschnellen großen Schlussfolgerungen führen.
Verantwortung der Massenmedien
Auch wenn die Zeichen nicht gut stehen und westliche Kommentatoren Indiens Pluralismus abschreiben, darf man nicht vergessen: Indien ist äußerst divers und zudem widerstandsfähig. Hinzu kommt, dass tatsächlich nur rund ein Drittel der Inder für Modi gestimmt haben. Dass Modi trotzdem die absolute Mehrheit erringen konnte, liegt am Wahlsystem und an der Zersplitterung der indischen Parteienlandschaft.
Ein Schlüssel zur Friedensstiftung liegt in der gesellschaftlichen Verantwortung der indischen Massenmedien. Diese vermitteln schon seit Jahren den Eindruck, das Land befinde sich in einem stetigen Kampf der Kulturen. Der Einfluss einer solchen selektiven Berichterstattung und Stimmungsmache auf das indische Volk ist nicht zu unterschätzen. Beispiele des guten Zusammenlebens, wie etwa beim gemeinsamen Feiern von religiösen Festen, bleiben eher unterbelichtet.
Doch es gibt auch andere Stimmen. Der renommierte Historiker und Politologe Ramachandra Guha schrieb kürzlich in einem Leitartikel für den indischen “Telegraph”, die Verpflichtung der indischen Verfassung gegenüber dem Pluralismus sei trotz aller Anlässe zur Sorge nach wie vor intakt. Er warnte aber auch: “Indien ist noch kein hinduistisches Pakistan, aber ist näher daran eins zu sein als es seit seiner Gründung je war.”