Die Überschuldung von Entwicklungsländern scheint ein abgeschlossenes Kapitel der 1990er zu sein. Doch heute droht eine neue öffentliche Schuldenkrise im globalen Süden. Das EU-Parlament ruft zum Handeln auf, schreckt aber selbst vor wirksamen Maßnahmen zurück.
Es scheint noch nicht allzu lange her. In den 1990er Jahren nahm die öffentliche Überschuldung von Entwicklungsländern ein so desaströses Ausmaß an, dass die internationalen Finanzeinrichtungen zahlreichen Ländern die Schulden erließen. Man wollte eine Katastrophe abwenden und den Staaten eine minimale Chance auf wirtschaftliche Entwicklung geben. Durchaus mit Erfolg, denn der Negativtrend stabilisierte sich.
Doch heute droht sich das Szenario zu wiederholen, wenn auch unter anderen Bedingungen. „Es ist fünf vor zwölf. Wir stehen kurz vor einer neuen öffentlichen Schuldenkrise“, warnt Antonio Gambini vom Belgischen Zentrum für Entwicklungskooperation (CNCD). Die letzten Zahlen bestätigen: Es sieht für viele Entwicklungsländer nicht gut aus. Während vor fünf Jahren noch 13 Staaten zahlungsunfähig waren, sind es laut dem Internationalen Währungsfond (IWF) heute fast doppelt so viele. In Ländern wie Sambia, Mosambik, Gambia oder Ghana machen die öffentliche Schulden über die Hälfte des Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.
Der EU-Parlamentarier Charles Goerens (DP) bestätigt im Gespräch mit REPORTER: « Die Lage ist ernst. » Goerens hat sich für das Europäische Parlament damit auseinandergesetzt, wie man eine neue Schuldenkrise abwenden kann. Sein Bericht über die angespannte Lage wurde Mitte April in Straßburg angenommen.
Komplexe Ursachen
Gründe für die laut Goerens „exzessive Verschuldung“ gibt es viele. Manche Ursachen erinnern an die 1990er Jahre. Die mit der Finanzkrise einhergehende globale Konjunkturschwäche hat zudem zu einem Abwärtstrend der Rohstoffpreise wie Erdöl oder Mineralien geführt, die die Entwicklungsländer traditionell exportieren. In Sambia zum Beispiel, wo die Kupferproduktion einen Großteil des BIPs ausmacht, haben sich die öffentlichen Schulden zwischen 2008 und 2017 fast verdreifacht. Auch die voranschreitende Liberalisierung der Märkte und der Handel zwischen ungleichen Partnern schaden den Entwicklungsländern, ergänzt Antonio Gambini.
China investiert zum Beispiel in Infrastrukturen – fordert aber als Gegenleistung volle Rechte für die Ausbeutung von Rohstoffen und beraubt die Länder damit ihrer Haupteinkommensquelle.“Charles Goerens
Neue Finanzierungsmodelle tragen ebenfalls dazu bei, dass die Schuldenberge von Entwicklungsländern stetig wachsen. So geht der Trend immer mehr in Richtung öffentlich-private Partnerschaften. Auf diesem Wege soll die Privatwirtschaft in die internationale Entwicklungskooperation eingebunden werden – zum Beispiel bei der Finanzierung von Infrastrukturen. Zwar verfügen private Investoren oft über größere finanzielle Mittel, doch sie verfolgen rein privatwirtschaftliche Interessen. Im Falle einer Zahlungsunfähigkeit stellen sie also kaum das Wohl der Bevölkerung über die Eintreibung ihrer Schulden. Manche Gläubiger fordern ihre Anleihen gar in Form von sogenannten Geierfonds zurück. Sie kaufen die wertlosen Anleihen von Schuldnerländern zu Spottpreisen auf und fordern von diesen die volle Rückzahlung – für zahlungsunfähige Entwicklungsländer ein Genickbruch.
China ist ein neuer Akteur
Die Europäische Union greift auf solche und ähnliche Mechanismen zurück. Über Instrumente wie das sogenannte Blending, das etwa im EU-Afrika-Treuhandfonds seine Anwendung findet, übernimmt die EU eine Teilbürgschaft für Privatinvestitionen. „Sie kann zum Beispiel 30 Prozent der Schulden garantieren“, erklärt Charles Goerens. Und warnt dennoch: „Dann übernimmt der jeweilige Staat immer noch 70 Prozent.“
Ferner nimmt die Zahl an Kreditgebern immer weiter zu. Öffentliche Kreditgeber werden von privaten Investoren verdrängt und neue Akteure wie die Großmacht China kommen hinzu. Letztere lassen sich zum Beispiel oft auf Tauschgeschäfte ein, die für die Entwicklungsländer auf lange Sicht verheerend sein können, betont der DP-Europaabgeordnete: „China investiert zum Beispiel in Infrastrukturen – fordert aber als Gegenleistung volle Rechte für die Ausbeutung von Rohstoffen und beraubt die Länder damit ihrer Haupteinkommensquelle.“
Doch auch dubiose Kredite und eine ungenügende Risikoeinschätzung heizen die drohende Schuldenkrise an. Ein dramatisches Beispiel ist der ostafrikanische Staat Mosambik: Hier wurde massiv in unbekannte Gesellschaften investiert – im Glauben, dass mit den Geldern Fischereiprojekte unterstützt würden. Doch es stellte sich heraus dass es sich um verdeckte Schulden handelte. Die Regierung Mosambiks kaufte mit Geld Waffen ein, „und das auch noch zu einem viel zu hohen Preis“, bedauert Charles Goerens.
Mehr Transparenz und Verantwortung
Der Abgeordnete im EU-Parlament erinnert an das Recht auf wirtschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung, das 1986 von den Vereinten Nationen zum Menschenrecht erklärt wurde. „Es steht also ganz klar über der Eintreibung von Schulden.“ Welche Auswirkungen die massive Verschuldung der Entwicklungsländer haben kann, habe die Ebola-Epidemie von 2014 gezeigt. „Die Länder, die am meisten unter der Schuldenkrise der 1990er gelitten haben, sind nach wenigen Wochen zusammengebrochen. Es fehlte an allen nötigen Infrastrukturen.“ Für Goerens ist es untragbar, dass elementare Menschenrechte, wie das Recht auf Gesundheit oder das Recht auf Bildung und Ausbildung, nicht garantiert werden können, weil die Staaten überschuldet sind.
Will man die Krise noch abwenden, so müsse schnell gehandelt werden, sagt Charles Goerens. Sein Bericht über die Verbesserung der Schuldenfähigkeit von Entwicklungsländern ist unter dem Strich eine Forderung nach mehr Verantwortung, Transparenz und Weitsicht bei der Vergabe von Krediten. Die Aufnahme eines Darlehens wäre demnach nur bei langfristigen und sinnvollen Investitionen gutzuheißen, die zur Entwicklung eines Staates beitragen. „Wenn ich 2020 die letzte Rate für eine Schule abbezahle, dann muss diese auch 2040 noch ihren Zweck erfüllen “, so Goerens.
Das Parlament stellt eine ganze Reihe an Forderungen an die EU-Mitglieder. Sie sollen sich zum Beispiel an die UN-Resolution von 2015 für die Schaffung eines Insolvenzverfahrens für Staaten einsetzen. Zusätzlich sollen sie sich bei Kreditvergaben an gewisse Prinzipien halten, wie sie etwa die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung festhielt. Neben einer EU-weiten Gesetzgebung gegen Geierfonds lautet eine weitere Forderung: mehr Steuertransparenz. Das betrifft nicht nur die Entwicklungsländer, sondern bezieht sich auch auf die fragwürdigen Steuerpraktiken in manchen EU-Mitgliedsstaaten, auch in Luxemburg.
Denn – und da sind sich Goerens und Gambini einig – den Entwicklungsländern wäre mit konsequenten Steuerreinnahmen, einer angemessenen Besteuerung von multinationalen Konzernen und der Bekämpfung von Korruption und Steuerflucht mehr geholfen als mit der Gewährung von Krediten. Letztere dürften nie das erste Mittel der Wahl sein, um Entwicklungsländern zu helfen, unterstreicht Charles Goerens. Wenn sämtliche Mitgliedsstaaten, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe bereit stellen würden, stünden über 25 Milliarden mehr zur Förderung von Projekten und Programmen zur Verfügung.
Der verflixte Artikel 36
Der Goerens-Bericht macht deutlich, dass es nicht reicht, die Schuldner an den Pranger zu stellen. Die EU soll auch Gläubiger zur Verantwortung ziehen. „Die Prinzipien des Rechtstaats müssen angewendet werden“, sagt Charles Goerens. Für ihn ist die Einbeziehung der Parlamente der Dreh-und Angelpunkt für eine effektive Verbesserung der Schuldenfähigkeit von Entwicklungsländern. „Wenn ein Staat ein Darlehen aufnehmen will, dann darf das nur mit dem Zuspruch des Parlaments geschehen. Nur so kann der Wille des Volkes respektiert werden“, betont der DP-Politiker. Wäre das nicht der Fall, so dürfte der Schuldner im Falle einer Zahlungsunfähigkeit kein Recht darauf haben, sein Geld zurückzuverlangen.
Die EU und die nationalen Regierungen reden nur ungerne über öffentliche Schulden.“Antonio Gambini
Doch genau in dieser Forderung, dem Absatz 36 des Goerens-Berichtes, liegt die Crux. Denn der Artikel wurde in Straßburg bloß in abgeschwächter Form angenommen. Das Recht auf Schuldenerstattung soll jetzt nur dann verweigert werden, wenn die Aufnahme des Kredites gesetzeswidrig war. Es ist eine kleine Änderung, doch sie zeigt, dass auch das Europäische Parlament davor zurückschreckt, allzu aggressive Forderungen zu stellen.
Ob und inwiefern die Vorschläge des EU-Parlaments umgesetzt werden, hängt ohnehin von der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten ab. Doch diese werden wohl kaum jubeln. Antonio Gambini bestätigt: „Die EU und die nationalen Regierungen reden nur ungerne über öffentliche Schulden.“ Bereits die EU-Resolution zur Schaffung eines Insolvenzverfahrens für Staaten wurde 2015 von einigen Mitgliedsstaaten abgelehnt – eine Tatsache, die der Goerens-Bericht ausdrücklich kritisiert. Und auch die Transparenz in Steuerfragen gehört wohl kaum zu den Lieblingsthemen so mancher EU-Staaten.