Die Corona-Pandemie bedroht, bestimmt und verändert die Welt. Aber vielleicht kam sie auch zur richtigen Zeit. Neben allen negativen Auswirkungen der Krise, ist sie auch eine Chance, um neue Prioritäten zu setzen und über andere Wege zumindest nachzudenken. Ein Essay.
Wir erinnern uns alle. Der Beginn der Pandemie konfrontierte uns mit einer Flut von Informationen, die wir zunächst überhaupt nicht einordnen konnten. Corona hatte die klassischen Medien ebenso wie die sozialen Netzwerke von heute auf morgen befallen. Und das mit einer Besessenheit für Zahlen. Tag für Tag begannen sie zu steigen, die der Infizierten und die der Toten. Zuerst langsam, dann immer schneller. Zuerst weit weg, auf der anderen Seite der Welt. Dann immer näher bei uns, bei unseren Nachbarn. Wir fingen an, uns täglich durch die interaktive Grafik der Johns Hopkins Universität zu klicken. Wir verglichen und rechneten.
Zu den Zahlen kamen die Bilder. Bilder von überfüllten Krankenhäusern und überfordertem Pflegepersonal, von Beatmungsgeräten und zugedeckten Leichen. Wir hörten Virologen, Epidemiologen und Lungenärzten zu, die sonst nur ein Nischendasein in der Öffentlichkeit fristeten. Merkten bald, wie all die Expertenmeinungen auseinander gingen: Das Horrorszenario auf der einen Seite. Die Banalisierung auf der anderen. Und dann noch all die Stimmen dazwischen.
Wir lernen, dass Dinge umkehrbar sind. In diesem Bewusstsein liegt letztlich die große Chance der andauernden Pandemie.“
Verhältnismäßig wenige von uns waren bis heute in direktem Kontakt mit dem Virus, dennoch kann sich niemand diesem öffentlichen Diskurs entziehen. Ob krank oder gesund. Risikogruppe oder nicht. Das Coronavirus hat längst unseren Alltag fest im Griff. Ganz besonders natürlich während des Lockdowns, aber auch nach den Lockerungen, in Erwartung einer zweiten Welle.
Was macht diese diffuse Inbesitznahme mit uns? Welche Spuren hinterlassen die Erfahrungen einer Krise, die längst noch nicht vorüber ist? Und lassen sich bei all der Unsicherheit, dem sanitären Ausnahmezustand und den bereits absehbaren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen vielleicht auch positive Lehren aus der Pandemie ziehen?
Psychische Ausnahmesituation
Fest steht schon heute: Die Pandemie geht bei vielen Menschen an die Psyche. Laut dem Statec soll sich der mentale Zustand jedes/ jeder Dritten im Land wegen der Covid-Krise verschlechtert haben. Eine Studie der Universität hat ergeben, dass die Luxemburger im internationalen Vergleich sogar besonders gestresst, emotional labil, neurotisch und einsam sind. Und das, obwohl der Durchschnitts-Luxemburger laut der Studie kaum existentielle Ängste hat und dem Krisenmanagement seiner Regierung und dem Gesundheitssystem seines Landes völlig vertraut. Ein Paradox.
Diese Widersprüche werden durch Erfahrungsberichte noch verstärkt: „Wir hatten deutlich weniger Anrufe als erwartet“, sagt Mareike Boenigk, verantwortliche Psychologin für die von der Regierung eingerichtete Help-Hotline. „Wir konnten die psychologische Hotline bereits Mitte Juni abstellen, den Menschen geht es besser als gedacht!“
Gleichzeitig erzählen aber auch Psychotherapeuten und Psychologen von heiß laufenden Telefonen in ihren Praxen. „Ich hatte viel mehr Terminanfragen als vor der Pandemie“, sagt die Psychotherapeutin Magali Cahen. Gerade bei ohnehin labilen Menschen verstärke eine Ausnahmesituation wie die Pandemie Angstzustände und Panikattacken. „Der Kontrollverlust ist für viele schwer zu ertragen“, meint die Psychotherapeutin.
Unsicherheiten und Chancen
Ob Studien, Statistiken oder Erfahrungsberichte – deutlich wird vor allem eines: Der Umgang mit der Pandemie ist von Mensch zu Mensch völlig unterschiedlich. Es lassen sich kaum Muster erkennen. Die Diskrepanz zwischen tatsächlich Erlebtem und individuell Gefühltem ist groß, und die Folgen für die Gesellschaft sind kaum absehbar.
„Der reale Zustand der Gesellschaft ist sehr schwer zu ermitteln“, meint Dietmar Heidemann, Philosophie-Professor an der Uni Luxemburg. „Für Statistiken und Studien zur Pandemie ist die Vorlaufzeit sehr kurz. Wir sollten sie deshalb nur mit großer Vorsicht bewerten.“ Das heißt auch: Wir müssen selbst darüber urteilen, wie gut es uns knapp vier Monate nach dem Ausbruch der Pandemie geht. Uns und den Anderen.
So lässt sich die große Unsicherheit angesichts des weiteren Verlaufs der Krise auch als Chance begreifen. Die Pandemie zeigt, dass nur unsere eigene Urteilskraft uns davor bewahrt, völlig in Panik zu geraten. Die aufgeregte Vielstimmigkeit in den Medien und die Gegensätzlichkeit der Deutungen, die den pandemischen Diskurs bis heute bestimmen, zwingen uns dazu, Aussagen zu interpretieren und uns selbst ein Bild zu machen. Wir müssen uns mit dem Wissen über unser Nichtwissen auseinandersetzen und in dieser Unsicherheit handeln und leben. „Nichts und niemand wird uns die autonome Entscheidungskraft abnehmen“, fasst Dietmar Heidemann zusammen.
Der Lockdown als Notbremse
„Wir sind dazu verurteilt, frei zu sein“, um mit dem Philosophen des Existentialismus, Jean-Paul Sartre zu sprechen. Ausgerechnet in einer Situation, in der unsere persönlichen Freiheiten in solchem Maße eingeschränkt sind, wie die meisten von uns es noch nie erlebt haben, entdecken wir unsere Eigenverantwortung, unsere freie Wahl und unser aktives Handeln.
Der Lockdown in besonderem Maße, aber auch die andauernden Restriktionen haben bei vielen Menschen nicht zu Panik geführt, sondern sich eher wie eine Notbremse angefühlt: Ein Ausweg aus einem Leben, das uns entglitten war. Ein Leben, in dem Technik und Digitalisierung uns annehmen ließen, dass uns viele Dinge aus der Hand genommen werden. Ein Leben, in dem wir Entscheidungen durch äußere Umstände festlegen ließen, anstatt sie bewusst zu treffen. Wir funktionierten, verloren aber den Bezug. Wir entfremdeten uns von der Welt. Und mit ihr auch von uns selbst. All das schien unaufhaltsam. Unaufhaltsam wie eine Welle, alternativlos. Und dann war plötzlich Ruhe.
Die Pandemie macht etwas möglich, was viele Menschen vorher nicht zu träumen gewagt hätten: eine Perspektive, ihr Leben und damit auch das gesellschaftliche Miteinander neu zu ordnen.“
Das Virus hat es geschafft, beinahe die gesamte Weltwirtschaft für diesen seltsamen Moment der Geschichte lahmzulegen. Und mit ihr auch jedes einzelne Rad im System zum Stillstand zu bringen. Die Wirtschaft hat sich als ein sehr beschränktes Instrument entpuppt, um unser Leben zu organisieren. Wir erleben nicht nur, wie es sich anfühlt, in einer gemeinsamen Welt zu leben. Wir lernen, dass Dinge umkehrbar sind. In diesem Bewusstsein liegt letztlich die große Chance der andauernden Pandemie.
Rückkehr in eine neue Normalität
Doch was machen wir mit dieser Erkenntnis? Es wäre zu schön, zu einfach und auch etwas naiv, jetzt die Zeit der großen Weltverbesserung einzuläuten. Zudem gibt es immer noch viele Menschen, auch in Luxemburg, denen durch die Corona-Krise die Existenzgrundlage genommen wird. Auch ist die Gefahr einer Situation, in der die Gesundheitssysteme an die Grenzen der Belastbarkeit gedrängt werden könnten, nicht gebannt.
Und doch macht die Pandemie etwas möglich, was viele Menschen vorher nicht zu träumen gewagt hätten: eine Perspektive, ihr Leben und damit auch das gesellschaftliche Miteinander neu zu ordnen. Gesundheit? Familie? Arbeit? Erfolg? Geld? Vergnügen? Solidarität? Oder…? Die Krise gibt uns allen zumindest die Chance, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist – und was nicht. Sich diesem Denkprozess überhaupt stellen zu können, ist nicht selbstverständlich.
Die wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Folgen der andauernden Pandemie sollten nicht unterschätzt werden. Die Angst davor und der Wunsch nach einer Rückkehr in die Normalität sind verständlich. Doch es ist zumindest denkbar, dass die Normalität nach Corona eine andere sein wird.