Nigeria weigert sich, ein Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Westafrika zu unterschreiben. Ist es ein heldenhafter Widerstand gegen europäische Liberalisierungsgelüste oder doch blanke Interessenpolitik? Ein Überblick.

Lange konnten die sogenannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) ihre Produkte zollfrei in die EU exportieren, während sie selbst hohe Einfuhrzölle für europäische Produkte erheben konnten. Doch spätestens ab 2008 sollte damit Schluss sein – denn die Welthandelsorganisation (WHO) kritisierte die einseitigen Deals. Die EU wollte deshalb sogenannte Wirtschaftsabkommen (WPA) mit den Entwicklungsländern abschließen.

Doch Wollen und Tun liegen weit auseinander, wie das Beispiel Westafrika zeigt. Rund zwölf Jahre dauerte es, bis sich die EU und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS auf einen Text einigten. Seit 2014 liegt das Wirtschaftsabkommen auf dem Tisch. Die afrikanischen Märkte sollen zu Dreiviertel liberalisiert werden. Ein Viertel der Tarife bleibt auf besonders sensiblen Produkte bestehen. Prompt wurde das Abkommen vom EU-Parlament angenommen und von allen EU-Mitgliedsstaaten unterschrieben. Doch die afrikanischen Partner zögerten.

„Schutz unserer Jugend“

Heute, vier Jahre später, haben drei Staaten – darunter Afrikas größte Wirtschaftsmacht Nigeria – den Vertrag immer noch nicht unterschrieben – und haben es auch nicht vor.

Während die EU auf die Vorteile der Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt pocht, beharrt Nigerias Präsident Muhammadu Buhari auf seiner Position. Auf ein Neues hat er so vor wenigen Wochen betont, dass ein Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen Union für ihn keine Option sei. „Unsere Wirtschaft kann nicht mithalten und wir müssen unsere Jugend beschützen“, lautet seine Begründung.

Die Kritik an der geplanten Freihandelszone ist nicht neu und die gleichen Argumente werden immer dann laut, wenn es um den Handel mit ungleichen Partnern geht. Die Fronten zwischen Liberalisierungsbefürwortern und Freihandelsgegnern sind verhärtet. Der Fall Nigeria zeigt: Die Realität ist eine Grauzone.

Das altbekannte Milchpulver-Argument

„Ein afrikanischer Staat wagt es ‚nein’ zu sagen und den Industrienationen eine Absage zu erteilen – das ist eine beachtenswerte neue Entscheidung“, begrüßt der frühere Luxemburger Diplomat Jean Feyder den Widerstand von Präsident Buhari. Neu ist die Entscheidung zwar nicht, immerhin gilt Nigeria seit dem Abschluss des Abkommens als Problemkind. Dennoch, für den ehemaligen Diplomaten ist die Sackgasse, in dem sich die EU befindet, eine positive Sache. Die Liberalisierung erlaube es den Staaten nämlich nicht, sich zu industrialisieren, so der Experte für Entwicklungshilfe, der nach sein ersten Buch „Mordshunger“ erst kürzlich ein weiteres Buch zum Thema Freihandel veröffentlicht hat. Als ehemaliger Vertreter Luxemburgs bei der WTO kennt er sich aus. Sein Beispiel, um die Gefahren des Freihandels zu untermalen: das Milchpulver.

Tatsächlich wird das Milch-Argument immer dann aus der Schublade geholt, wenn es um den Handel mit Entwicklungsländern geht – sei es in Afrika, Asien oder etwa Lateinamerika. In dieser Geschichte ist die Europäische Union der Bösewicht, der die eigene Überproduktion ausgleicht, indem er den Überschuss zu Spottpreisen auf ausländischen – oft afrikanischen Märkten – absetzt. 2016 wurden rund 12 Prozent der europäischen Milcherzeugnisse in Nicht-EU-Länder exportiert. Das waren rund 16 Millionen Tonnen. Solche Partnerschaftsabkommen wie jenes mit Westafrika würden es der EU noch leichter machen, ihre Überschüsse loszuwerden, warnt Feyder. Insbesondere da die Nachfrage aus China zurückgeht – einem der Hauptimporteure.

Damit ruiniert die EU Millionen Kleinbauern mit ihren Familien“

In der Tat ist Nigeria hier ein wichtiger Absatzmarkt: 24.000 Tonnen Milchprodukte, zumeist Milchpulver, hat die EU letztes Jahr in den westafrikanischen Staat exportiert – die Zölle für Milchpulverimporte liegen bei niedrigen fünf Prozent (zehn Prozent für flüssige Milch).

Für Feyder sind es ganz klar „Dumpingexporte“. Er sagt, die lokalen Märkte würden so zerstört. „Damit ruiniert die EU Millionen Kleinbauern mit ihren Familien.“ Sie können nicht mit den Niedrigpreisen mithalten und werden ihrer Einkommensquelle beraubt, erklärt der ehemalige Diplomat. Es sei demnach nichts als Hypokrisie, dass die EU auf der einen Seite Milliarden an Hilfsgeldern in Entwicklungsprojekte pumpe, gleichzeitig aber eine Handelspolitik betreibe, die die wirtschaftliche Entwicklung des globalen Südens hemmt. Laut STATEC und Agrarministerium gehen kaum Luxemburger Milchprodukte auf direktem Wege in Entwicklungsländer – die meisten werden in den angrenzenden Ländern verkauft.

Sanoussi Bilal vom Europäischen Zentrum für das Management der Entwicklungspolitik (ECDPM) differenziert: Das altbekannte Argument müsse in den richtigen Kontext gesetzt werden. Und in der Tat zeigt ein genauerer Blick auf den nigerianischen Milchsektor: Der Staat braucht die Importe.

Laut einer PwC-Studie von 2016 gehören die nigerianischen Milcherzeugnisse zu den niedrigsten der Welt. Die Produktionsbedingungen sind schlecht, die nötigen Infrastrukturen fehlen, die Kühe bringen zu wenig Leistung. Während die Eigenproduktion 600.000 Tonnen ausmacht, liegt der Bedarf bei 1,7 Millionen Tonnen – und beträgt also fast das Dreifache. Zwar versucht die Regierung durch verschiedene Entwicklungsprogramme, den Milchsektor zu professionalisieren, doch laut Studie wird das noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen: 95 Prozent der lokalen Produktion stammt von nomadischen Hirtenvölkern.

Anstrengungen hin oder her, der Bedarf kann in naher Zukunft unmöglich gedeckt werden und beide Sektoren könnten sich durchaus parallel entwickeln, wie etwa der Fall Burkina Faso zeigt. Laut einer rezenten Studie der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit zeichnet sich hier nämlich ein sehr ähnliches Bild – Nigeria ist also kein Einzelfall.

Solidarität vs. Eigeninteressen

Nicht nur zeigen diese Zahlen, dass das ‚Milchpulver-Argument’ eben kein Universalargument gegen den Freihandel sein kann, doch sie deuten auch auf die Ambiguität von Nigerias negativer Haltung gegenüber Handelsabkommen hin. Denn der Staat sagt keineswegs „Nein“ zu europäischen Privatinvestoren, wie ein weiterer Blick auf Nigerias Milchsektor zeigt. Der Staat ist erst kürzlich eine Zusammenarbeit mit den Milchgiganten FrieslandCampina (Niederlande) und Arla Foods (Schweden/Dänemark) eingegangen.

Buharis Argumentation ist trumpistisch“

„Buharis Argumentation ist trumpistisch“, drückt es Bilal ein wenig überspitzt aus. Tatsächlich sei seine Haltung vor allem politischer Natur und auf ein weitreichendes Lobbying des Privatsektors und die Wirtschaftsinteressen von wenigen Geschäftsleuten zurückzuführen. Zwar würde der Präsident behaupten, man wolle zu erst die heimische Industrialisierung vorantreiben bevor man die Märkte öffne, doch in der Praxis geschehe wenig. „Es gibt keine kohärenten Reformen.“ An dieser Stelle soll aber daran erinnert werden, dass der fast 200-Millionen Staat, der an 152. Stelle des Indexes für menschliche Entwicklung steht, mit erheblichen religiösen und ethnischen Spannungen zu kämpfen hat. Dennoch fehlt laut Bilal auch der politische Wille: Obwohl der Staat zum Beispiel seit 2002 Zeit hatte, eine Impaktstudie zum EU-Westafrika Abkommen zu machen, liegt eine solche bis heute nicht auf dem Tisch. Buharis Argumente entbehren sich also jeglicher Basis.

„Das soll aber keineswegs bedeuten, dass eine Liberalisierung für alle betroffenen Staaten gut ist“, stellt Bilal klar. Auch er weiß wie gerne die EU ihre Zölle hoch hält, während sie am liebsten freien Zugang zu den afrikanischen Märkten hätte. Er weist daneben auf die hohen Anpassungskosten für die afrikanischen Handelspartner hin. Doch die Lage sei viel vielschichtiger als oft dargestellt.

Tatsächlich sei Nigerias Haltung auch deswegen problematisch, weil Buharis Entscheidung die wirtschaftliche Integration der gesamten ECOWAS-Staaten beeinflusst und blockiert. Dabei hat Nigeria eine Sonderstellung: Der Staat exportiert vor allem Öl und hier liegen die Zolltarife sowieso bei null Prozent. Auch die am wenigsten entwickelten Länder können mit der jetzigen Situation Leben, da sie von einer Verzollung ausgenommen sind.

Für Staaten wie Ghana oder die Elfenbeinküste sieht das anders aus. Für sie war der Status quo nicht haltbar. Sie waren gezwungen ein Übergangsabkommen zu unterschreiben und die eigenen Märkte zu öffnen, um im Gegensatz weiterhin Produkte wie Kakao, Kaffee, Bananen und co. zu günstigen Konditionen nach Europa zu exportieren: für die Staaten ging es ums wirtschaftliche Überleben. Die Entscheidung für oder gegen das Wirtschaftsabkommen ist demnach auch eine Frage der Solidarität: Stellt man die Eigeninteressen vor die der afrikanischen Partner?

Ein rezentes Zusammenkommen der Mitglieder der afrikanischen Union in Kigali zeigt, dass Nigeria diese Frage deutlich mit „Ja“ beantwortet. Auf dem Kigali-Gipfel im März haben 43 Staaten ein Abkommen unterschrieben, das die Gründung einer inter-afrikanischen Freihandelszone vorsieht. Doch Afrikas größte Wirtschaftsmacht blieb dem Treffen fern und blockiert somit auch dieses Projekt. Die Nachricht scheint klar: Nigeria ist raus, bei jeglichen Freihandelsambitionen. Doch solange der Staat am Golf von Guinea keine ernsthaften Reformen umsetzt ist alles Lob für die trotzige Haltung obsolet.