Ob Schrittmacher für den Magen oder Endoskope mit Greifarmen: Wo kommen medizinische Implantate eigentlich her? Welche Phasen umfasst die Entwicklung innovativer Medizinprodukte? Ein Besuch bei zwei Brüsseler Forschern.
Den Arbeitsplatz der beiden Wissenschaftler Antoine Nonclercq und Alain Delchambre zu finden, ist gar nicht so einfach. Ihre Büros verstecken sich in einem unscheinbaren, in die Jahre gekommenen Gebäude auf dem Campus der der Université Libre de Bruxelles (ULB). Lediglich ein Schild aus Papier mit der Aufschrift „Beams“ verrät, was hinter den Türen vor sich geht. „Beams“, das steht für „Bio, Electro, and Mechanical Systems“. Hier wird demnach vor allem geforscht und getüftelt. Ob Implantate oder Endoskope: Von dem, was hier entwickelt und ausprobiert wird, profitieren insbesondere Chirurgen und Ärzte.
Wie kann man Menschen mit starkem Übergewicht helfen, ohne ihnen eine schwere Magen-Bypass-OP zuzumuten? Wie lässt sich diese Operation, bei der ein Stück des Magens abgetrennt wird, schonender gestalten? Mit solchen Fragen beschäftigen sich Antoine Nonlercq und Alain Delchambre tagtäglich. Sie entwickeln Medizinprodukte, die dabei helfen sollen, Operationsmethoden zu verbessern oder innovative Behandlungen zu ermöglichen.
Ein Schrittmacher gegen Übergewicht
Antoine Nonclercq sitzt hinter einem massiven Holzschreibtisch. Auf den Regalen um ihn herum stapeln sich Bücher über Medizin, Mechanik, Elektronik. Auf die Frage, was er konkret entwickelt, holt der Wissenschaftler eine kleine, schwarze Kiste aus dem Regal. Darin befinden sich kleine viereckige Plastikteile – manche sind nicht größer als ein Daumen. Sieht man genauer hin, entdeckt man im Gehäuse kleine Drähte und winzige Kabel. „Es sind Schrittmacher“, erklärt Nonclercq. Die kleinen Drähte sind Elektroden, die elektrische Impulse abgeben.
Die Schrittmacher dienen aber nicht dazu, das Herz von kranken Patienten wieder in einen normalen Rhythmus zu bringen. Sie sollen irgendwann in die Mägen von fettleibigen Patienten implantiert werden. „Wissenschaftler haben bemerkt, dass winzige Stromstöße im Magen zu einem Sättigungsgefühl führen. Man könnte damit also erreichen, dass Übergewichtige wieder ein gesünderes Essverhalten entwickeln“, erklärt der junge Forscher sein Projekt.
Das Klischee des Forschers, der einsam und alleine vor sich hertüftelt, ist wirklich nur ein Klischee“Antoine Nonclercq
Stehen Idee und mögliche Funktionsweise erst einmal fest, beginnt das Tüfteln. Wie könnte der Schrittmacher aussehen? Wie klein kann er sein? Wo im Magen setzt man ihn am besten ein? Wie lässt sich die Technologie dahinter vereinfachen und verfeinern? Und mit welcher OP-Technik lässt sich der Herzschrittmacher am einfachsten platzieren? Besser minimal-invasiv oder mit Hilfe eines Endoskops?
Mit all diesen Fragen wird sich Nonclercq in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen. „Wir tasten uns langsam an einen Prototypen heran. Irgendwann haben wir ein fertiges Produkt, das am Patienten getestet werden kann.“
Greifarme für das Endoskop
Ihre Prototypen entwickeln die Wissenschaftler aber nicht alleine. „Das Klischee des Forschers, der einsam und alleine vor sich hertüftelt, ist wirklich nur ein Klischee“, so Nonclercq. Die Arbeit findet in enger Zusammenarbeit statt: Mit Ärzten, Doktoranden und manchmal auch mit Vertretern der Medizintechnik.
Alain Delchambre, ein Mittvierziger mit gutmütigem Gesicht und dunkler Stimme klinkt sich ins Gespräch ein. „Würden wir das alleine machen, würde das ziemlich sicher schiefgehen“, lacht er. Er nimmt seine eigene Forschung als Beispiel. Auch bei dieser steht der Magen im Mittelpunkt: Er hat sich auf endoskopische Operationen spezialisiert und hilft Ärzten dabei, diese Operationstechnik zu verfeinern.
„Meistens kommt ein Arzt mit einer Idee zu uns und wir versuchen diese umzusetzen“, erläutert Delchambre. So geschehen bei einem spezifischen Endoskop mit Greifarmen, welches der Forscher zusammen mit seinem Doktoranden entwickelt hat. Das neuartige Gerät wird zur Zeit an den ersten Patienten getestet. „Vor über zehn Jahren ist ein Chirurg zu mir gekommen und hat gesagt, er würde eigentlich ganz gerne seine Patienten von innen am Magen operieren. Dazu braucht das Endoskop aber kleine Arme, die steuerbar sind – zum Beispiel um Stiche zu setzen oder Tumore zu entfernen.“
Das Endoskop hat den Vorteil, dass die Patienten nicht aufgeschnitten werden müssen. Ein Skalpell braucht man nicht, äußere Narben sind passé. Das Gerät wird durch den Mund des Patienten in den Magen geführt.
Langer Weg zum Endprodukt
Wer aber an dieses Gerät noch Greifarme anbringen will, steht vor einem Problem. Delchambre macht eine Faust: „So eng ist die Speiseröhre. Da passt das Endoskop nicht mehr durch.“ Das Team musste also ein Gerät entwickeln, bei dem sich dieses Problem umgehen lässt. Ein Doktorand hat schließlich die Lösung gefunden: Ein Roboter-Endoskop, bei dem sich die Greifarme – einmal im Magen – mit einem Joystick herausschieben lassen.
Nach mehreren Jahren Forschung stand der Prototyp bereit. Das Gerät erlaubt es dem Arzt, den Magen von innen zu nähen. Zum Beispiel, um ihn zu verkleinern: quasi eine Bypass-OP von innen. Heute wendet der Chirurg an ersten Testpatienten diese neue, schonende Operationsmethode an. Der Vorteil liegt auf der Hand: „Statt drei, vier Tage im Krankenhaus zu bleiben, können die Patienten schon abends wieder nach Hause“, freut sich Alain Delchambre.
Wir sind Forscher. Uns geht es um die Recherche, die Entwicklung der Produkte. Würden wir zu Patiententests übergehen, wären unsere Doktoranden nur noch damit beschäftigt, Formulare auszufüllen.“Antoine Nonclercq
Seit dem Tag, als der Arzt mit seiner Idee zu Delchambre kam, sind fast 15 Jahre vergangen. Erst mussten die Wissenschaftler eine Lösung finden. Dann haben sie erste Prototypen angefertigt. Anschließend wurden diese getestet: Zuerst auf naturgetreuen Modellen. Dann an den Mägen von geschlachteten Tieren. Diese erhalten die Wissenschaftler von Firmen, die allein darauf spezialisiert sind, Forschern jene Organe zu bringen, die sie brauchen.
Für Delchambres Arbeit eignen sich Schweinemägen besonders gut. „Sie ähneln den menschlichen Mägen am meisten“, sagt er. Klappen diese Tests, werden die Geräte an lebendigen Tieren getestet. Allerdings nicht auf dem Campus der ULB. Die Wissenschaftler arbeiten mit der Veterinärschule in Lüttich zusammen. Erst danach werden Tests am Menschen überhaupt in Erwägung gezogen.
Implantate aus dem 3D-Printer

Die Ärzte sind in der Regel eng in diesen Entwicklungsprozess mit eingebunden. Sie müssen das Produkt schließlich am Ende benutzen und einsetzen. Ein Endoskop etwa muss gut in der Hand liegen und sich leicht in den Magen einführen lassen.
Bei diesen Fragen kommen den Forschern die technischen Entwicklungen der letzten Jahre zu Gute. Denn früher war jeder Arbeitsschritt mit erheblichen Kosten verbunden. Für die Entwicklung der verschiedenen Prototypen mussten entsprechende Gießformen angefertigt werden. Eine solche Form kostet zwischen 10.000 und 20.000 Euro. Für jede minimale Änderung musste eine neue Form her. Heute ersetzen 3D-Printer diese Arbeit.
Alain Delchambre und Antoine Nonclercq erklären den technologischen Wandel bei einem Gang durch ihre Labore. Auf langen Tischen liegen unterschiedliche Röhrchen, Drähte und kleine Plastikteilchen: Es sind quasi die Bastelräume, in denen Wissenschaftler und Studenten ihre Produktideen zusammenbauen.
Im Nebenraum stehen mehrere 3D-Drucker: Große, schwarze viereckige Rahmen mit transparentem Gehäuse. In der Mitte befindet sich der Druckkopf, der unterschiedliche Materialien – etwa Plastik oder Metall – in beliebige Formen pressen kann. In der Ecke steht eine Vitrine, in der sich verschiedene weiße Plastik-und Silikonteile befinden, die meisten nicht größer als eine Haarspange. Aus solchen Teilen werden die Prototypen der Forscher zusammengesetzt.
Machen wir einen Fehler, kostet das uns nur noch ein paar Euro. Und wir probieren so lange herum, bis wir zufrieden sind.“Alain Delchambre
„Die Drucker machen unsere Arbeit viel einfacher. Wir können Einzelteile herstellen und schauen, ob alles passt – oder ob wir nachbessern müssen. Der Arzt kann zum Beispiel testen, ob mein Endoskopie-Modell gut in der Hand liegt“, erklärt Delchambre die Vorteile der neuen Technologie. „Machen wir einen Fehler, kostet uns das nur noch ein paar Euro. Und wir probieren so lange herum, bis wir zufrieden sind.“
Markteinführung dank Start-Ups
Dann kommt die Phase des sogenannten „Design freeze“: Der fertige Prototyp steht bereit. Die Modelle, die in den Laboren der ULB gedruckt werden, kommen allerdings nicht am Patienten zum Einsatz, betont Nonclercq. Er zeigt auf eine kleine Glaskammer, vor der ein weißer Schutzanzug hängt. In diesem Raum werden sterile Prototypen zusammengesetzt: Nicht das kleinste Staubkorn darf sich in den Gegenständen festsetzen. Je näher man der Testphase am Patienten kommt, desto mehr Sicherheitsvorkehrungen müssen die Forscher nehmen. Auch das Material ist dann ein anderes. Der menschliche Körper darf die Artefakte nicht als Fremdkörper wahrnehmen, sonst stößt er sie ab.
Darum kümmern sich die Forscher an der ULB aber nicht mehr. Die Arbeit von Delchambre und Nonclercq endet dann, wenn die Produkte für die Testphase am Menschen bereit sind. Und das hat einen Grund: „Wir sind Forscher. Uns geht es um die Recherche, die Entwicklung der Produkte. Würden wir zu Patiententests übergehen, wären unsere Doktoranden nur noch damit beschäftigt, Formulare auszufüllen. Die administrativen Hürden sind hier besonders hoch.“
Das mag angesichts der „Implant Files“ vielleicht überraschen. Erst vor ein paar Wochen hatten Journalisten aufgedeckt, dass viele Prothesen und Implantate, die in Europa zum Einsatz kommen, nicht regelkonform sind. Bereits 2017 hat die EU neue Regeln beschlossen, die für eine schärfere Kontrolle von Implantaten sorgen sollen und die Lücken bei der Zertifizierung von Produkten zu schließen. Besonders für Instrumente, die lange im Körper bleiben – etwa Nonclercqs Schrittmacher – sind nun umfangreichere klinische Studien erforderlich.
Das kann auch Auswirkungen auf die Arbeit der Forscher haben. Denn ihre Abnehmer sind vor allem sogenannte Spin-Off-Firmen. Kleine Start-Ups, die sich um die Martkeinführung spezifischer Implantate kümmern. Oft konzentriert sich eine solche Firma ausschließlich auf ein einziges medizinisches Gerät.
Nicht nur Vorteile
Eine solche Spin-Off betreut auch die Patiententests von Delchambres Greifarm-Endoskop. Sie hat das Gerät soweit angepasst, dass eine kostengünstige Serienproduktion möglich ist – aus einem Roboter mit Joystick wurde ein analoges Wegwerf-Endoskop. Die Spin-Offs kümmern sich um die klinischen Tests und um die Zertifizierung der neuen Geräte. „Oft bringen sie ihr Produkt in ein paar europäischen Ländern auf den Markt und gehen dann in die Vereinigten Staaten, wo der Markt größer ist“, so Delchambre.
Mit den strengeren EU-Regeln könnte das Geschäftsmodell der Spin-Offs verschwinden: Die Prozeduren werden länger, strenger und teurer. Nicht immer ist das zum Vorteil des Patienten. „Für die kleinen Start-Ups wird es immer schwieriger werden, Investoren zu finden“, warnt Nonclercq. Ähnlich wie im Medikamentensektor bestehe die Gefahr, dass sich der Markt monopolisiert und große Firmen Produktion und Forschung dominieren. Das aber treibt nicht nur die Preise der Implantate in die Höhe, sondern „sie konzentrieren sich womöglich hauptsächlich auf Pathologien, die sehr häufig sind.“ Krankheiten also, mit denen sich schnell, viel Geld verdienen lässt. Patienten mit seltenen Krankheiten ziehen den Kürzeren.
Auch die Arbeit der Forscher an der ULB könnte sich demnach verändern und ihnen weniger Spielraum lassen. Sie arbeiten nämlich meistens eher mit kleinen Firmen zusammen. Antoine Nonclercq bleibt aber optimistisch: „Wir können uns nicht in die Zukunft projizieren. Wer weiß, was in zehn Jahren ist?“ Vorerst tüfteln er und seine Kollegen weiter an Schrittmachern, Endoskopen und anderen Innovationen.