Leih-Scooter erobern immer mehr Städte in Europa. Sie werden als grüne Lösung für das Verkehrschaos angepriesen. Doch am Beispiel Brüssel zeigt sich: Wirklich nachhaltig sind die Gefährte nicht. Und ohne rechtlichen Rahmen sorgen sie in erster Linie für Chaos.

Plötzlich standen sie an jeder Straßenecke. Sie heißen Lime, Dott, Flash und Troty und bringen ihre Nutzer von A nach B: Die Leih-Scooter-Flotten haben Brüssel erobert. Vor ein paar Monaten kannte man die Elektroroller lediglich vom Hörensagen. Heute kann man sich die belgische Hauptstadt ohne sie kaum noch vorstellen. Auf dem Weg zur Arbeit versperren sie den Bürgersteig. Auf öffentlichen Plätzen warten Dutzende Treter auf ihren Einsatz. Und auf den Straßen sieht man inzwischen mehr Scooter- als Fahrradfahrer.

Das Prinzip ist einfach: App runterladen, per Handy den Barcode scannen und schon geht die Fahrt los. Ein Euro kostet es in der Regel, die Scooter freizuschalten. Hinzu kommen 15 Cent pro Minute. Bei 25 Stundenkilometern bringen einen die Roller oft schneller zum gewünschten Zielort als Fahrräder oder öffentliche Verkehrsmittel.

Die ultimative Lösung für grünere Städte also? Damit werben jedenfalls die Anbieter, die inzwischen auch mit dem luxemburgischen Markt liebäugeln. Doch das Beispiel Brüssel zeigt: Die Scooter sind nicht so grün wie ihr Marketing vermuten lässt. Und das Mobilitätsmodell ist nur dann wirklich effizient, wenn der gesetzliche Rahmen dafür steht.

Von 0 auf 100

In Brüssel ging es ganz schnell. Ende 2018 wurden die Elektro-Scooter noch belächelt. Öffentliche Anbieter gab es keine. Heute zählt die belgische Hauptstadt rund 3.600 „free floating scooters“. Frei schwebend, da sie keine Dockingstationen benötigen. Die Nutzer können die Leih-Scooter, und inzwischen auch -Fahrräder, einfach überall abstellen und mieten.

Diese ultimative Mobilitätslösung bringt Sie auf coolste Weise durch die Stadt.“Werbeslogan, Troty

Zur Zeit konkurrieren in der Stadt sechs Anbieter um Kunden und Abstellplätze. Ihre Botschaft: Die Scooter sind nicht nur praktisch, sondern auch hipp und umweltfreundlich. Auf den Websites ist von einem Paradigmenwechsel die Rede – von intelligenter Mobilität und der Perspektive von Städten ohne Autos, Stau und Luftverschmutzung.

Auf ihren Instagram-Accounts werben die Start-ups mit Bildern von jungen Menschen in trendigen Klamotten, die mit den Scooter vor Graffitis und Sehenswürdigkeiten posieren. „Diese ultimative Mobilitätslösung bringt Sie auf coolste Weise durch die Stadt“, lautet etwa der Slogan des belgischen Anbieters Troty.

In einer Zeit, in der quer durch Europa nach innovativen, nachhaltigen Verkehrslösungen gesucht wird, erscheint die Scooter-Welle wie ein perfektes Geschenk. Bereits jetzt zählen die großen Anbieter, wie etwa die US-amerikanische Start-up Lime, in Brüssel rund 100.000 Nutzer.

#Trotygram: Der belgische Anbieter Troty wirbt mit hippen Instagram-Fotos.

Wild Wild West

In Wirklichkeit ist die Sachlage allerdings komplexer. Denn in den meisten Städten fehlt der rechtliche Rahmen, der die Nutzung der Roller regelt, die sich überall im öffentlichen Raum tummeln.

Die Folge: Der Einzug der Scooter-Flotten führt in erster Linie zu Chaos. Die Gefährte blockieren Bushaltestellen und Gehwege, die Nutzer fahren ohne Helm und düsen über Bürgersteige statt Fahrradwege. In Brüssel war der Bürgermeister der Gemeinde Saint Josse von den Scootern derart genervt, dass er die Roller gänzlich verbieten wollte. Auch die Unfälle häufen sich. In Paris etwa ist die Zahl der Unfälle innerhalb eines Jahres um rund 23 Prozent gestiegen. Zu Brüssel liegen noch keine offiziellen Zahlen vor.

Manche Städte haben inzwischen angefangen, den Miet-Scooter-Markt zu regulieren. Andere, etwa Madrid oder Barcelona, verbieten Leih-Scooter ganz. Auch die Region Brüssel-Hauptstadt hat vor kurzem einen Erlass verabschiedet, der die Bedingungen für die Niederlassung und Nutzung der Roller reguliert: Etwa, dass für sie die Straßenverkehrsordnung gilt, wo die Vehikel parken dürfen, und dass die Gemeinden scooterfreie „zones rouges“ einführen können.

Künftig müssen die Start-ups zudem eine Lizenz beantragen, wenn sie sich in Brüssel niederlassen wollen. Die Vergabe ist an mehrere Bedingungen geknüpft, die etwa Verkehrssicherheit, öffentliche Gesundheit, Steuerbestimmungen oder den Umgang mit den Nutzerdaten betreffen. Darüber hinaus müssen die Firmen strenge Umweltkriterien und Recyclingauflagen erfüllen.  „Mikromobilität ist nur dann sinnvoll, wenn sie nachhaltig ist“, betont die Sprecherin der Mobilitätszentrale der Region Brüssel (Bruxelles Mobilité) im Gespräch mit REPORTER.

Doch nicht so grün?

Dass gerade Nachhaltigkeitskriterien für die Lizenzvergabe gelten, mag in erster Linie überraschen. Mit 3,3 Gramm CO2 pro Kilometer stoßen die Scooter rund 97 Prozent weniger Kohlenstoffdioxid aus als PKWs. Grün sind sie aber trotzdem nicht.

Zum einen ist unklar, ob die Menschen wirklich vom Auto auf die Scooter umsteigen oder den Roller nehmen, statt sich zu Fuß oder per Fahrrad fortzubewegen. Zum anderen werden die Roller mit Lithium-Batterien angetrieben, dessen Abbau die Umwelt stark belastet.

Hinzu kommt, dass die Leih-Scooter nur eine kurze Lebensdauer haben. Die Anbieter sprechen von drei bis sechs Monaten. Die Brüsseler Mobilitätszentrale von 500 bis 1.000 Nachladungen. Doch wie aus Daten der US-amerikanischen Stadt Louisville hervorgeht, liegt die durchschnittliche Lebensdauer bei lediglich 28 Tagen.

Auf öffentlichen Plätzen stehen oft Dutzende Scooter und warten auf ihre Nutzer. (Foto: Charlotte Wirth)

Das macht die Treter nicht nur wenig nachhaltig, sondern auch unrentabel. Denn laut Berechnungen des Beratungsunternehmens McKinsey sind die Scooter, ausgehend von einem Kaufpreis von rund 360 Euro, bei fünf Fahrten pro Tag erst nach 114 Tagen profitabel. Den Anbietern ist demnach allein aus finanzieller Sicht daran gelegen, die Ausdauer der Modelle zu verbessern. Zwar sagt McKinsey dem Mikromobilitäts-Modell großes Potenzial voraus. Aktuell rechnet sich das Geschäft allerdings für keine Firma.

Wie Benjamin Barnathan von Lime Benelux dem belgischen L’Echo erklärte: „On ne pourra être rentable que si la durée de vie est extrêmement longue.“ Das neueste Modell von Lime soll bei verantwortungsvoller Nutzung rund sechs Monate überdauern können.

Prekäre Arbeitsverträge für Juicer

Aufgrund dieser Probleme regelt der Brüsseler Erlass auch den Stromverbrauch der Leih-Scooter. Beantragen die Anbieter eine Lizenz, müssen sie einen Energie-Aktionsplan vorlegen, in dem sie darlegen, wie sie die Stromnutzung nachhaltiger gestalten wollen. Zudem dürfen sie nur auf grünen Strom zurückgreifen.

Auch das Nachladen der Leih-Scooter belastet die Umwelt: In der Regel werden sie abends eingesammelt, über Nacht gewartet und geladen, und morgens wieder ausgesetzt. Das bedeutet allerdings, dass täglich eine Vielzahl an „Juicern“ mit gewöhnlichen Autos und Transportern quer durch die Stadt fahren, um die Scooter auf- und abzuladen.

On ne pourra être rentable que si la durée de vie est extrêmement longue.“Benjamin Barnathan, Lime Benelux

Entweder wird diese Aufgabe an große Unternehmen ausgelagert oder es werden Einzelpersonen rekrutiert. Das Arbeitsverhältnis dieser Juicer ist zumeist prekär: Beim Marktführer Lime kann man sich etwa via App anmelden und selbst entscheiden, wie und wie viel man arbeitet.

Durchschnittlich erhalten die Juicer pro Scooter, den sie einsammeln und aufladen, fünf Euro Entlohnung. Diese Prämien können die Anbieter allerdings jederzeit ändern. In Paris etwa gab es anfangs noch 13 Euro, doch der Betrag wurde mehrmals nach unten angepasst. Die Juicer müssen sich zudem selbst versichern und Steuern zahlen, und sie tragen sämtliche finanzielle und rechtliche Risiken, etwa wenn ein Scooter beschädigt wird.

Die soziale Komponente wird mit dem Brüsseler Erlass nicht geregelt. Im Gegensatz zu Luxemburg operieren in der belgischen Hauptstadt allerdings schon seit längerem Firmen mit einer ähnlichen Arbeitsteilung – allen voran der Fahrdienst Uber, der inzwischen auch in den Mikromibilitäts-Markt eingestiegen ist. Zwar bietet Uber keine Leih-Scooter an, dafür aber E-Bikes, die seit ein paar Wochen ebenfalls das Brüsseler Stadtbild prägen.

Mit Blick auf das Großherzogtum zeigt das Beispiel Brüssels vor allem eines: Sollten Troty, Lime und Co. auch Luxemburg erobern, gilt es eine ganze Reihe an Fragen zu klären – am besten bevor sich die Scooter-Flotten hierzulande niederlassen. Denn sind sie einmal in einer Stadt angekommen, kann es schnell chaotisch werden.


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