In Italien steht die Regierung aus Lega Nord und Fünf-Sterne-Bewegung vor dem Aus. Mitten im Europa-Wahlkampf steuert die im Ausland oft als Populisten-Koalition betitelte Regierung auf eine Konfrontation zu. Im Zentrum der Kontroverse steht die Asylpolitik. Ein Gastbeitrag.

Von Annalisa Camilli (Internazionale)*

„Wir haben Europa aufgerüttelt. Ich bin stolz darauf, dass wir Italien wieder zu seiner Würde verhelfen.“ So startete der italienische Innenminister Matteo Salvini im Rahmen einer der beliebtesten italienischen Fernsehsendungen seine Wahlkampagne für die Europawahl Ende Mai. Das Bild hat er in den letzten Monaten schon oft verwendet: In Brüssel muss endlich einmal energisch auf den Tisch gehauen werden.

Die Migration war das zentrale Thema im Programm der neuen italienischen Regierung, die im Juni 2018 von der systemfeindlichen Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5s) und der rechtspopulistischen Lega, Salvinis Partei, gebildet wurde. Die beiden werfen Europa vor, Italien in der Migrationskrise „allein gelassen“ zu haben, und rechtfertigen damit eine Politik der völligen Abschreckung, wie beispielsweise das Verbot für humanitäre Organisationen, die Flüchtlinge aus Libyen in Seenot retten, mit ihren Schiffen italienische Häfen anzulaufen. „Sie dachten, dass Italien alles schluckt und für alle bezahlt. Jetzt wissen sie, dass es in Italien eine Regierung gibt, normale, ernstzunehmende Menschen mit gesundem Menschenverstand. Entweder gehen wir das Problem gemeinsam an oder wir lassen nur Migranten mit einem Visum in unser Land“, so Salvini im italienischen Fernsehen.

Europa als Buhmann

Obwohl die Europawahl in wenigen Wochen stattfindet, hört man wenig über die Wahlprogramme und die Profile der Kandidaten für das Europäische Parlament. Europa wird von der Lega und der M5s als feindlich gesinnter Buhmann hingestellt. Die Regierungsparteien scheinen die Europawahl als Prüfstein für ihre Beliebtheit und das Gleichgewicht innerhalb der Koalition zu betrachten. Den jüngsten Umfragen zufolge hätte die Lega (die im März 2018 mit dürftigen 17 Prozent der Wählerstimmen in die Regierung eingetreten ist) heute mehr als 30 Prozent der Stimmen. Die M5s, die im März noch mit den meisten Stimmen punktete, würde demnach knapp zehn Prozentpunkte verlieren.

Sollte die Europawahl diese positiven Prognosen für die Mitte-Rechts-Parteien unter der Führung der Liga bestätigen, könnte die Partei von Matteo Salvini beschließen, eine Regierungskrise auszulösen, und versuchen, nach Neuwahlen eine Koalitionsregierung mit Forza Italia (Partei von Silvio Berlusconi) und Fratelli d’Italia (rechtsnationalistische Bewegung) zu bilden. Aus diesem Grund ist der derzeitige Wahlkampf vor allem eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Regierungsparteien. Eine blutlose Konfrontation.

Streitpunkt Migration

In Bezug auf die Migration zeigt die M5s beispielsweise eine offenere Haltung, die nicht mit der fremdenfeindlichen Position der Lega übereinstimmt. Zudem versucht sie, einen Teil ihrer linken Wählerschaft zurückzugewinnen. Als Mitte März der Fahrer eines Schulbusses senegalesischen Ursprungs eine Schülergruppe in einem Vorort von Mailand als Geisel nahm und drohte, die Kinder zu töten, versprach Salvini sofort, dem Geiselnehmer die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, wie es das Ende November 2018 verabschiedete Gesetz vorsieht, das den Namen des Ministers trägt.

Salvini versicherte auch, dass er Rami, einem 13-jährigen Jungen, der in Italien geboren wurde, aber ausländische Eltern hat, die Staatsbürgerschaft verleihen würde, weil er es zusammen mit seinen Begleitern geschafft hatte, das angedrohte Blutbad zu verhindern. Ein paar Tage später änderte der Minister jedoch seine Meinung: Ramis Vater sei vorbestraft und der Junge könne daher nicht eingebürgert werden. Die M5s und ihr Vorsitzender, der stellvertretende Ministerpräsident und Arbeitsminister Luigi Di Maio, bestehen jedoch darauf, dass dem Jungen die Staatsbürgerschaft für sein Verdienst verliehen wird, wie es gesetzlich vorgesehen ist.

Ein weiteres Thema, bei dem sich die M5s von ihrem Regierungspartner distanzieren will, sind Genderfragen. Di Maio kritisierte den Weltkongress der Familien, der Ende März in Verona stattfand. Am Treffen der konservativen Abtreibungsgegner unter der Schirmherrschaft des Familienministers Lorenzo Fontana nahm auch Salvini teil. Di Maio nannte alle Kongressteilnehmer „Loser“ und beschuldigte sie, ins Mittelalter zurückkehren zu wollen.

Pragmatisches Bündnis

Viele Analysten weisen jedoch darauf hin, dass die beiden Parteien, obwohl sie in der Öffentlichkeit oft nicht einig sind, bisher regiert haben, ohne in Konflikt zu geraten und ohne die Stabilität ihres mit einem echten „Regierungsvertrag“ besiegelten Bündnisses zu gefährden. Als beispielsweise die Justiz den Senat um Erlaubnis bat, gegen Matteo Salvini vorzugehen, dem vorgeworfen wurde, er habe 177 von der italienischen Küstenwache Ende August 2018 gerettete Personen ihrer Freiheit beraubt, weil sie nicht landen durften, nahm die M5s den Innenminister in Schutz und verweigerte die Genehmigung. Dieser Schritt wäre noch vor kurzer Zeit für eine Partei undenkbar gewesen, die ihren Ruf darauf aufbaut, dass sie gegen das Establishment, die Korruption und die als Privileg geltende Immunität der Abgeordneten loszieht.

In gleicher Weise hat die M5s, obwohl sie das sogenannte Salvini-Dekret über Einwanderung und Sicherheit mehrfach kritisiert hat, alle Änderungsanträge zurückgezogen und das Dekret letztlich unterstützt. Die ständigen Auseinandersetzungen der beiden Regierungsparteien, denen jedoch kein echter Bruch folgt, haben zu einer Pattsituation geführt, vor allem, was europäische und internationale Fragen betrifft. Es scheint, als wollten sie abwarten, wie sich das Gleichgewicht im Europäischen Parlament und in den EU-Institutionen verändert, bevor sie beschließen, welche Entscheidung sie nun treffen.

Italiener scheuen die Wahl

Das gilt auch für den Beschluss, die Marine-Mission „Sophia“ um weitere sechs Monate zu verlängern. Die Mission wurde 2015 von der Europäischen Kommission zur Bekämpfung des Menschenhandels gegründet. Nach langen Kontroversen wurde beschlossen, sie bis zu den Wahlen zu verlängern. Jedoch stehen ihr seit April 2018 keine Schiffe mehr zur Verfügung, um Rettungsaktionen im Mittelmeer zu verhindern. Die einzigen, die positiv von Europa sprechen – mit Ausnahme der liberalen, proeuropäischen +Europa-Bewegung – sind die Mitglieder der Demokratischen Partei (PD), die kürzlich ihren Vorsitzenden erneuert und das Motto „Wir sind Europäer“ in das Symbol auf ihrer Liste aufgenommen haben, um die positiven Aspekte der Union hervorzuheben.

Nach der Wahl des neuen Vorsitzenden, Nicola Zingaretti, ergaben die Umfragen einen Zuwachs für die Partei, die jedoch noch lange keine Alternative zu den Rechts-Mitte-Parteien darstellt. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass die PD die derzeitige Struktur der Europäischen Union schärfer kritisieren und eine Erneuerung fordern sollte, um die Unzufriedenheit der Italiener auszudrücken. In der Tat dürften am 26. Mai viele Wähler nicht zu den Urnen gehen, weil sie sich von den italienischen und noch mehr von den europäischen politischen Instanzen verlassen fühlen und sich nicht mit ihnen identifizieren können.

* Übersetzung von Claudia Reinhardt (VoxEurop)


Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament veröffentlicht Reporter.lu eine Reihe von Analysen von Journalisten und Kolumnisten aus anderen europäischen Ländern. Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit der unabhängigen Nachrichtenplattform VoxEurop.eu. Weitere Informationen zur Artikelserie finden Sie hier: VoxEurop: 27 Stimmen für Europa.