Jahrelang war Sufismus in der Türkei verboten. Doch heute avanciert er unter jungen Türken zur populären Alternative zu den Dogmen eines politisierten Islam. 

Als die türkische Bestsellerautorin Elif Shafak im letzen Herbst in New York einen TED-Talk zum Thema “Die revolutionäre Kraft der Vielfalt von Gedanken” hielt, zitierte sie den berühmten und einst von Goethe verehrten persischen Sufi-Dichter Hafis: “Du trägst in deiner Seele jede Zutat, die du benötigst, um deine Existenz in Freude zu verwandeln. Alles was du tun musst, ist diese Zutaten zu vermischen.”

Shafak interpretierte das Zitat als Plädoyer für die Schönheit eines kosmopolitischen Lebensstils, der aus verschiedenen Zutaten besteht und für die Bereicherung, im Alltag mit multiplen Identitäten zu leben, so wie sie es selbst tut: als Türkin, als Londonerin, beheimatet im Mittelmeeraum genauso wie auf dem Balkan und im Mittleren Osten. Dabei hätte Shafak in ihrer Hafis-Auslegung noch eine Bedeutungsebene tiefer gehen können: Für die Sufis besitzt jeder Mensch in seinem Inneren die Antwort auf all das, wonach er sucht. Die Zutaten sind bereits vorhanden, aber das Rezept fehlt.

Der Mensch gleicht, wie es eine alte Sufi-Parabel aus Rumis Masnawi lehrt, einem Bettler, der auf einem Schatz sitzt, aber aus Unwissenheit die Hand aufhält und nach äußerem Reichtum verlangt. Der Sufismus – auch bekannt als islamische Mystik – ist ein Pfad der Selbstverwirklichung, welcher den Menschen dafür vorbereitet, auf die “Schatzsuche” nach seinem inneren Reichtum zu gehen.

Auch wenn sie seit Jahren im Exil lebt, ist Elif Shafak heute neben Orhan Pamuk eine der bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen türkischen Literatur. Ihr Roman “Die vierzig Geheimnisse der Liebe”, der die Geschichte vom berühmten islamischen Mystiker Jalaluddin Rumi und seinem Meister Shams von Täbris erzählt, war sowohl im Westen, als auch in der Türkei ein gefeierter Bestseller. Doch was viele nicht wissen: Shafaks Erfolg steht symbolisch für die Wiederbelebung und Neuinterpretation des Sufismus in der Türkei, und das ganz besonders in den vergangenen Jahren unter der Regierung von Erdogan.

Die Rückkehr der Sufi-Mystik

Tatsächlich war die islamische Mystik in der modernen Türkei lange Zeit von der öffentlichen Bildfläche verschwunden. Dabei war der Sufismus im Osmanischen Reich für Großteile der Bevölkerung ein wichtiger Orientierungspunkt, der auch das Profane des Alltags durchdrang: In den über dreihundert Sufi-Konventen, die in Istanbul noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts florierten, wurde gemeinsam gekocht und gespeist, gelesen und studiert, Debatten abgehalten und Nachbarschaftskonflikte geschlichtet.

Im Jahr 1925 jedoch sprach der türkische Republiksgründer und Kulturrevolutionär Mustafa Kemal Atatürk ein Verbot gegen die Sufi-Orden aus. Er sah in den mystischen Bruderschaften ein Modernisierungshindernis, hatten doch viele der Sufi-Meister unter den Osmanen einen erheblichen politischen Einfluss erlangt und schienen mit ihren zum Teil erzkonservativen Ansichten einer Annäherung an Europa im Weg zu stehen.

Der Geist der Gemeinschaft – Junge Sufis bei Musik und Tanz in Konya. (Foto: Marian Brehmer)

Deshalb praktizierten türkische Sufis über Jahrzehnte im Untergrund, gaben sich den Anschein von Kulturvereinen anstatt spirituellen Orden. Seit einigen Jahren jedoch lässt sich in der Türkei so etwas wie ein Comeback des Sufismus beobachten. Es wird wieder öffentlich zu Sufi-Zeremonien eingeladen und selbst die Kommunalverwaltungen verschiedener Stadtbezirke von Istanbul organisieren Vorträge von bekannten Sufi-Lehrern. Klassische Sufi-Musik, in Fusion mit modernen Stilen, erfreut sich großer Popularität, und die Fernsehserie “Yunus Emre”, welche den Werdegang eines berühmten türkischen Mystikers aus dem 13. Jahrhundert erzählt, wurde zum Publikumsliebling.

Nahe der Stadt Yalova, gelegen gegenüber von Istanbul am Marmarameer, organisierte das Sufismus- und Musikkollektiv “Tümata” in den letzten Jahren Festivals, zu denen Menschen aus zahlreichen Ländern wochenlang Sufi-Musik und Derwischtanz erleben konnten. Neben Türken aus allen Bereichen der Gesellschaft folgten Tausende Menschen aus der ganzen Welt dieser Einladung, um gerade in Zeiten von politischer Polarisierung eine andere Seite der Türkei zu entdecken.

Seelensbalsam für eine gespaltene Gesellschaft

Anders als die touristischen Vorstellungen der ikonischen drehenden Derwische, die auf jedem Programm eines Türkei-Reiseveranstalters stehen, wird der Derwischtanz hier als Gebet in Bewegung verstanden, als Hinwendung zum Göttlichen. Besonders die jüngere Generation in der Türkei sehnt sich nach dieser erfahrungsbetonten Dimension des Islam, die weit über vereinfachte religiöse Regeln und Dogmen hinausreicht. Hinzu kommt die Erfahrung eines spirituellen Zusammenseins in Eintracht. Für viele ist dieses Gefühl von “Community” in der zutiefst gespaltenen türkischen Gesellschaft Balsam für die Seele.

Der “Neosufismus” stillt den spirituellen Durst junger Menschen und stößt damit in eine Lücke vor, die sonst in der Regel entweder mit gänzlicher Abwendung von Religion oder mit asiatischer Esoterik gefüllt wird. Angesichts der weitreichenden Politisierung von Religion unter der AKP-Regierung sehen die Sinnsucher im Sufismus einen politikfreien Gegenentwurf zu einer als einengend empfundenen Religionsauslegung.

Das heißt nicht, dass die Hinwendung zum Spirituellen unpolitisch sein muss: An den Gezipark-Protesten im Jahr 2013, die ein Sammelbecken von verschiedenen Ausdrücken des kulturellen Lebens in der Türkei waren, nahmen auch Sufis teil. Selbst der Derwischtanz wurde damals zum Protestakt umgedeutet. Im Park ertönte die Musik und Sprache der Sufis, als Ausdruck von Freiheit, sowohl im Inneren als auch im Äußeren.

Denn letztendlich, so würde es auch Hafis verstehen, führt die Kultivierung von innerem Frieden im Menschen zu einer friedlicheren und politisch reiferen Gesellschaft, in welcher religiöser Fundamentalismus keinen Nährboden finden kann. Hafis zumindest war ein scharfer Kritiker von Machtmissbrauch und religiöser Heuchelei. Auch deshalb werden seine Gedichte heute von Sufis in der Türkei und im Iran geschätzt.