Der Psychologe Jan Kossack arbeitet regelmäßig mit Jugendlichen, die sexuelle Übergriffe begangen haben. Manchmal leben sie mit ihrem Opfer unter einem Dach. Wie kann das gelingen?

Interview: Kerstin Smirr

Junge Menschen erfahren in der Pubertät ihren Körper neu, probieren sich aus. Ab wann sprechen Fachleute von einem sexuell grenzüberschreitenden Verhalten?

Jan Kossack: Psychologen schauen sich verschiedene Faktoren an, um zu sehen, ob eine problematische Handlung vorliegt oder nicht. Wie ist der Altersunterschied? Gab es ein Machtgefälle, dass einer den anderen ausgenutzt hat? Lag echte Zustimmung für diesen sexuellen Kontakt zwischen den Jugendlichen vor und haben beide auch von ihrem Entwicklungsstand und ihrem intellektuellen Leistungsvermögen her verstanden, was passiert? Waren beide alt genug und hatten ähnliche Gefühle? Diese Dynamik muss man in jedem Einzelfall genau analysieren.

Zwischen Begrapschen auf dem Schulhof und Vergewaltigung ist ein großer Spann. Wann ist ein solches Verhalten behandlungsbedürftig?

Es ist wichtig zu schauen, wie der Jugendliche auf Grenzsetzungen reagiert. Kann er es stoppen oder nicht? Und wie gefährlich war das Verhalten? Man muss sich das immer im Einzelfall anschauen. Es sind manchmal auch Ansätze, wo sexuelle Verhaltensprobleme beginnen. Es ist wichtig, dass Eltern oder Lehrer intervenieren, wenn ein Mitschüler ein Mädchen begrapscht. Zu bagatellisieren hilft nicht, weil Jugendliche dadurch die Rückmeldung bekommen: „Das ist ja nicht schlimm.“

Psychologe Jan Kossack. (DR)

Kommen weitere problematische Verhaltensweisen ins Spiel wie Aggressivität?

Es gibt unterschiedliche Gruppen. Bei den einen sind sexuelle Übergriffe ein Teil der Grenzüberschreitungen, zum Beispiel neben dem Klauen oder Aggressivität. Andere sind im Normalfall eher unauffällig und angepasst und suchen nur im sexuellen Bereich diese Ersatzbefriedigung.

Sind sexuelle Übergriffe auf männliche Jugendliche beschränkt?

In der Mehrheit sind es Jungs. Wenn man die Kriminalstatistik anschaut, werden Frauen grundsätzlich seltener straffällig als Männer. Diesen Geschlechterunterschied gibt es sicherlich auch beim sexuell grenzüberschreitenden Verhalten. Mädchen sind sicherlich aber nicht außen vor. Vielleicht fällt es bei ihnen weniger auf, weil es nochmal ein größeres Tabu ist, dass Jungs oder andere Mädchen davon berichten, dass ein anderes Mädchen sie sexuell angefasst oder sie zu etwas gezwungen hat, was sie nicht wollten.

Was ist über die Opfer bekannt?

Wenn ein Jugendlicher auf dem Schulhof an einem Mädchen vorbeiläuft und es dabei begrapscht, handelt es sich oft um Gleichaltrige. Bei sexuellem Missbrauch sind die Opfer meist Kinder aus dem näheren Umfeld. Das können Bekannte sein, Kinder von den Nachbarn, von Freunden, jüngere Geschwister von Freunden. Es können aber auch die eigenen Geschwister sein. Dass es sich um fremde Kinder handelt, ist die Ausnahme.

Wie arbeiten Sie mit Familien, wenn ein Jugendlicher einen jüngeren Bruder oder eine jüngere Schwester missbraucht hat? Leben Täter und Opfer weiterhin unter einem Dach?

Wir schauen sehr genau hin, wie gefährlich das Verhalten ist, wie der Jugendliche mitarbeitet und wie die Familie für Sicherheit sorgen kann, damit es nicht mehr zu Übergriffen kommt. Wir versuchen, eine Art Sicherheitsplan mit der Familie auszuarbeiten. Wenn diese Maßnahmen nicht eingehalten werden, wenn die Familie nicht mitarbeitet, ist es nicht zu verantworten, dass der Jugendliche zuhause bleibt. Der Opferschutz hat Priorität. Wenn keine Sicherheit gewährleistet werden kann, muss der Jugendliche aus dem familiären Umfeld heraus.

Wenden Sie spezielle Therapien bei diesen Jugendlichen an?

Es gibt deliktorientierte Therapien. Dabei schauen wir auf die sexuelle Grenzverletzung und darauf, wie sich dieses Verhalten entwickelt hat. Die Ursachen sind oft ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren. Warum hat der Jugendliche gedacht, dass er so seine Bedürfnisse ersatzmäßig befriedigen kann? Wie hat er gelernt, sich selbst schönzureden, dass man so etwas machen darf? Welche Denkfehler hat er mit der Zeit entwickelt, um es zu bagatellisieren? Dann schauen wir mit dem Jugendlichen, wie er lernen kann, den sexuellen Impuls zu stoppen und seine emotionalen Bedürfnisse in Zukunft auf andere Weise zu befriedigen, ohne andere zu schädigen.

Können diese Therapien einen Rückfall verhindern?

Es gibt Untersuchungen aus Kanada, den USA und der Schweiz. Es ist erwiesen, dass es durch therapeutische Maßnahmen zu deutlich weniger Rückfallen kommt.


Lesen Sie mehr zum Thema: