Luxemburg setzt auf Digitalisierung, um weiter kräftig zu wachsen. Doch internationale Forscher streiten, ob Rifkins dritte industrielle Revolution tatsächlich einen Wirtschaftsboom anstoßen kann.
Das Wachstum wird zu einem wichtigen Wahlkampfthema. Wirtschaftsminister Etienne Schneider sprach beim LSAP-Kongress von einer „populistischen Anti-Wachstumsdebatte“, Außenminister Jean Asselborn von „Wachstumskritik“ als Modetrend. Sie meinten damit wohl Umweltministerin Carole Dieschbourg, die Schneiders Prestigeprojekte Google und Joghurtfabrik in Frage stellte, aber auch den CSV-Spitzenkandidaten Claude Wiseler, der die Nachhaltigkeit des Pensionssystems in Frage stellt.
Selektives oder qualitatives, richtiges oder falsches Wachstum: Die politische Debatte gleicht Kindern, die sich streiten, welches Bonbon sie wollen. Dabei ist nicht klar, ob überhaupt Süßigkeiten verteilt werden. Versucht man dagegen den Kern des Problems zu verstehen, landet man schnell bei der Produktivität. Der Begriff zieht sich wie ein roter Faden durch den Rifkin-Bericht. Die Vokabel taucht darin ganze 80-mal auf, sprich auf jeder sechsten Seite. Nicht zu Unrecht, denn die Produktivität ist der bestimmende Faktor, wenn es darum geht, wie schnell Wirtschaft und Bevölkerung in den nächsten vierzig Jahren wachsen werden. Das betonte die Statistikbehörde Statec im November.
Auch der Wirtschafts- und Sozialrat brachte im Januar einen 94-Seiten-Bericht zum Thema Produktivität heraus. Die Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeber spannen darin einen Bogen von sozialer Ungleichheit, der Zukunft der Arbeit bis zu den Grenzgängern. Die Regierung müsse die Entwicklung dieses Wirtschaftsfaktors unbedingt im Auge behalten, lautet die Schlussfolgerung des Berichts, der mehr Fragen stellt als Antworten liefert. Doch bei diesem Thema ist das meistens so. „Produktivität ist nicht alles, aber auf lange Sicht bestimmt sie fast alles“, schrieb Nobelpreisträger Paul Krugman 1997.
Rifkins Versprechen
Produktivität, das ist das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag, also wie viel Arbeit, Kapital und Technik es braucht, um etwa eine Tonne Stahlträger zu produzieren. Grob ausgedrückt: Steigt die Produktivität, wächst die Wirtschaft. Das Problem ist, dass die Industrienationen ihre Produktivität in den vergangenen Jahren kaum noch steigern konnten. Eine „säkulare Stagnation“ befürchtet gar Larry Summers, der einst Finanzminister unter Clinton und Obamas Chef-Wirtschaftsberater war.
Der US-Berater Jeremy Rifkin verspricht Luxemburg dagegen einen Produktivitätsschub durch eine tiefgreifende Digitalisierung der Wirtschaft und des Alltags. Dabei geht es etwa um intelligente Stromnetze, autonome Autos und Big Data. IT-Systeme sollen in allen Lebensbereichen erlauben, die Ressourcen besser zu nutzen. Ist etwa ein Auto autonom, kann es den ganzen Tag Menschen transportieren, statt wie heutige Pkws 22 Stunden am Tag geparkt zu sein. „Méi mat manner“, würde es die DP formulieren.
Die kurze dritte industrielle Revolution
Ohne Zweifel hat die Digitalisierung unser Leben bereits verändert. Google ist seit 1997 online, Facebook seit 2004 und das iPhone kam vor zehn Jahren auf dem Markt. Es bleibt aber das Rifkin-Paradox: Smartphones sieht man überall, nur nicht in der Produktivitätsstatistik. Diese Formel ist eine Abwandlung eines Spruchs des US-Ökonomen Robert Solow, der dies 1987 über Computer sagte. Tatsächlich hatten die Großrechner, die seit den Siebzigerjahren in den USA in Banken und Telefonunternehmen genutzt wurden, wenig Einfluss auf die Produktivität. Selbst als in den Büros ab den Achtzigerjahren mehr und mehr Computer zum Einsatz kamen, blieb die Wirkung gering, betont Robert J. Gordon in seinem Buch The Rise and Fall of American Growth.
Die dritte industrielle Revolution brachte schließlich doch noch einen Wachstumsschub. Zwischen 1995 und 2004 explodierte die Produktivität in den westlichen Ländern durch den Einsatz von Computern, Software und Datenbanken, erklären übereinstimmend Gordon sowie die Ökonomen Gilbert Cette und Ombeline Julien de Pommerol in der Zeitschrift Futuribles.
Doch dann brach der Produktivitätszuwachs zwischen 2004 und 2014 ein. Beim Warum scheiden sich die Geister. Sind das Platzen der Dot-com-Blase 2001 und die Finanzkrise die einzigen Ursachen? Brachten die ICT-Innovationen nur einen Wachstumshöcker? Oder gleicht die Kurve eher einem Kamel als einem Dromedar und wir dürfen uns auf eine weiteren Höcker freuen?
Autoren wie Gordon argumentieren, die dritte industrielle Revolution sei bereits vorbei. Sie habe die Welt nicht so tiefgreifend verändert wie der Einsatz von Elektrizität, die die zweite industrielle Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts antrieb.
Die Grundlagen sind vorhanden, um einen Schatz zu heben, der alles übertrifft, was wir bisher erlebt haben“.Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee
Neue Technologien wie etwa künstliche Intelligenz bräuchten noch Zeit, um sich durchzusetzen, argumentieren dagegen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee in The Second Machine Age. Die Produktivitätsgewinne aus der Elektrifizierung der Wirtschaft erstreckten sich fast über ein Jahrhundert, betonen die MIT-Forscher. Sie sind sich sicher: „Die Grundlagen sind vorhanden, um einen Schatz zu heben, der alles übertrifft, was wir bisher erlebt haben“.
Über Produktivität und Grenzgänger
Der Wirtschafts- und Sozialrat zitiert in seinem Bericht sowohl Gordon als auch Brynjolfsson und McAfee. Doch die Sozialpartner schlagen sich weder dem Lager der Optimisten noch der Pessimisten zu. Das hat einen Grund: Luxemburg folgt dem Trend nur teilweise. Der Einbruch der Produktivität war hierzulande in der Folge der Finanz- und Schuldenkrise brutaler als in den Nachbarländern. Aber die hiesige Wirtschaft hat sich schneller erholt.
Den neuesten Zahlen zufolge legte die Produktivität seit 2012 im Schnitt jährlich 1,5 Prozent zu, betont Ferdy Adam, der beim Statec die Konjunkturvoraussagen verantwortet. Im Vergleich zum Ausland ist das eine sehr günstige Lage, so der Statistiker. In der Eurozone stieg die Produktivität dagegen zwischen 2013 und 2016 lediglich um 0,6 Prozent pro Jahr.
Diese Zahlen lassen die von Arbeitgeberseite beklagte Stagnation der Produktivität zwischen 2000 und 2016 in einem anderen Licht erscheinen. Das jetzige Tempo ähnelt jenem des Booms in den Neunzigern. Langfristig reichen die 1,5 Prozent allerdings nicht. Das Statec rechnet, dass es einen jährlichen Produktivitätszuwachs von zwei Prozent braucht, um ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent zu erreichen. Diese Wachstumsrate gilt als notwendig, um den Luxemburger Sozialstaat zu erhalten.
Die hohen Produktivitätszuwächse in den Neunzigerjahren ließen die Einkommen in Luxemburg schneller steigen als in den Nachbarländern und das zog Grenzgänger und Einwanderer ins Land. Das wiederum erlaubte ein Wirtschaftswachstum nicht nur über die Produktivität, sondern auch über die Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze. „Unser Wachstum ist seit dem Jahr 2000 getrieben von Bevölkerungswachstum und der Zunahme an Grenzgängern“, betonte Marc Wagener von der Handelskammer in einer Chamber-Anhörung Ende Oktober.
Läuft man ein Rennen an der Spitze, dann wird es schwierig, sich zu übertreffen“Charles-Henri Dimaria
Bei stagnierender Produktivität benötige die Luxemburger Wirtschaft 2040 etwa 480.000 Grenzgänger, um ein Wachstum von drei Prozent zu erwirtschaften, rechnen die Arbeitgebervertreter im Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats vor. Das wären 300.000 Grenzgänger mehr als heute.
Wenig Gewissheit, viele offene Fragen
Ist es realistisch, dass die Luxemburger Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten weiter mit drei Prozent wachsen wird? Die zugegeben naive Frage verhallt im schlichten Konferenzraum des Statec. Die drei anwesenden Experten geben nicht die eine, endgültige Antwort, sondern viele kleine Puzzleteile.
Von der These der „säkularen Stagnation“ halten die Statec-Mitarbeiter nichts. „Es wird technologische Entwicklungen geben, die wir heute noch nicht voraussagen können“, betont Ferdy Adam. Um darüber einen besseren Überblick zu bekommen, plant das Statec zusammen mit einem Spezialisten aus dem Rifkin-Team die technologischen Durchbrüche in seine langfristigen Modelle einzubauen, so Adam weiter.
Ich weiß nicht, ob Space Mining realistisch ist, aber es würde auf jeden Fall die Produktivität steigern!“Ferdy Adam, Statec
Klar ist, dass die Produktivität in Luxemburg bereits sehr hoch ist. „Läuft man ein Rennen an der Spitze, dann wird es schwierig, sich zu übertreffen“, fasst Statec-Mitarbeiter Charles-Henri Dimaria das Dilemma zusammen. Der Produktivitätszuwachs von 1,5 Prozent sei positiv, allerdings sei der wirtschaftliche Aufschwung zu rezent, um belastbare Aussagen zu treffen, meint Ferdy Adam.
Dazu kommt, dass Luxemburg auch in diesem Feld ein Albtraum für Statistiker ist. Nationale Champions wie Cargolux und SES beeinflussen das Gesamtbild enorm. Und dann ist da noch der übergroße Finanzsektor. Hier stößt des Konzept der Produktivität an seine Grenzen, denn die Statistiker streiten, was die Produktion einer Bank genau ist. Investmentfonds und Holdingsgesellschaften machen die Berechnung noch schwieriger. Bei letzteren ist oft nicht einmal klar, wie viele Beschäftigte sie haben, meint Dimaria.
Das Problem, dass man nicht genau weiß, was Produktivität heute bedeutet, ist eine mögliche Antwort auf das Rifkin-Paradox. „Wie misst man die Menge einer Dienstleistung?“, formuliert Bastien Larue vom Statec die Herausforderung. Produktivität ist ein Konzept aus dem Industriezeitalter, als die Erzeugung von Gütern einfach zu berechnen war. Die Diagnose der stagnierenden Produktivität betrifft vor allem den Dienstleistungssektor, so Larue. „Es gibt mehr Diskussionsbedarf bei dem was wir messen als bei den Ergebnissen“, meint Ferdy Adam.
„Niemand weiß, wie das Wirtschaftsmodell in zwanzig oder dreißig Jahren aussieht. Klar ist aber, dass Unternehmen weiter in Innovation investieren werden, das ‚Space Mining‘ ist ein Beispiel“, meint Ferdy Adam. „Ich weiß nicht, ob es realistisch ist, aber es würde auf jeden Fall die Produktivität steigern!“