Über afghanische Flüchtlinge, die in die Grenzen Europas vorstoßen, wird oft berichtet. Doch dabei werden oft die rund 1,8 Millionen Binnenflüchtlinge vergessen, die innerhalb von Afghanistan ihre Heimat verloren haben. Eine Reportage vom Hindukusch.
Es ist eine typisch afghanische Szene: Wie hüpfende Farbtupfer heben sich die Kinder in ihren bunten Kleidern von den erdfarbenen Hauswänden und dem Braun der faltigen Hindukusch-Berge ab. Kleine Mädchen tragen ihre noch kleineren Geschwister auf dem Arm über sandige Schotterpisten. An manchen Ecken schauen Verkäufer aus dem Schatten ihrer bescheidenen Läden hervor. Hier, am Stadtrand der nordafghanischen Stadt Masar-e Scharif, liegt die Hamdard-Gemeinde, die vor einigen Jahren zur Heimat von über 1.000 Binnenvertriebenen wurde.
Binnenvertriebene, das sind laut Definition der UNHCR „ZivilistInnen, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt oder allgemeinen Menschenrechtsverletzungen sind“. Ihre schwer zu schätzende Zahl wird momentan auf weltweit rund 40 Millionen Menschen beziffert. Kürzlich veröffentlichte die Internationale Organisation für Migration (IOM) einen Bericht, nach dem jeder dritte Afghane oder jede dritte Afghanin in den letzten sechs Jahren entweder ausgewandert oder innerhalb der Grenzen des eigenen Landes vertrieben wurde. Bei Afghanistans Bevölkerung sind das rund 12 Millionen Menschen.
Flucht vor Krieg und Naturkatastrophen
Einer von ihnen ist Faiz Mohammad, der sich in der Hamdard-Siedlung von Masar-e Scharif ein neues Leben aufgebaut hat. Der 53-Jährige mit dem zerfurchten Gesicht bewohnt inzwischen ein einfaches Lehmhaus mit eigenem Garten. Seine Haut ist von vielen Jahren harter Arbeit in der Sonne gegerbt.
Die Ruhe von Faiz Mohammads Garten lässt fast vergessen, was der Landwirt vor wenigen Jahren erlebt hat. Die Taliban fielen in Faiz Mohammads Dorf südlich von Mazar-e Scharif ein, plünderten und mordeten sich durch die Region. Die Familie konnte gerade noch in die nahe gelegene Provinzhauptstadt fliehen. Die erste Zeit lebten die Neuankömmlinge in einem Zelt, das die Bewohner von Hamdard über einem breiten Erdloch errichtet hatten. Sie standen buchstäblich vor dem Nichts.
Wie Hunderttausende Afghanen zwang der Krieg Faiz Mohammads Familie im eigenen Land in die Flucht. Nach UN-Schätzungen gibt es in Afghanistan 1,8 Millionen Binnenflüchtlinge, eine der höchsten Zahlen weltweit. Aufgrund der fragilen Sicherheitslage ist die Tendenz steigend: Allein im Jahr 2018 mussten sich 300.000 Afghanen innerhalb der Landesgrenzen eine neue Heimat suchen. Doch nicht nur der Vormarsch der Taliban in vielen Dörfern macht den afghanischen Landbewohnern zu schaffen. Auch Naturkatastrophen wie Dürren oder Überflutungen führen zum Exodus ganzer Dörfer in die Städte.
Verletzlichster Teil der afghanischen Bevölkerung
„Binnenvertriebene gehören zum verletzlichsten Teil der afghanischen Bevölkerung“, sagt Yama Omari, der für internationale Organisationen in Afghanistan Entwicklungshilfeprojekte koordiniert. „Oft stammen die Flüchtlinge aus bescheidenen Verhältnissen und riskieren, durch ihre Flucht in noch größere Armut zu fallen.“ An ihren neuen Wohnorten seien sie der Witterung schutzlos ausgesetzt, meist fehle es am Lebensnotwendigen.
Die Vertriebenen siedeln sich vor allem an den Rändern großer Städte wie Masar-e Scharf an, dort wo die Grundstücke am günstigsten sind. Die Aufnahme von Flüchtlingen führt in den urbanen Regionen häufig zu einer Überlastung der örtlichen Infrastruktur. Krankenhäuser und Schulen sind überlastet. Der ohnehin sehr schwache Arbeitsmarkt bietet ihnen nicht genügend Verdienstmöglichkeiten. All dies ruft häufig Spannungen zwischen Gastgebern und Gästen hervor.
Oft stammen die Flüchtlinge aus bescheidenen Verhältnissen und riskieren, durch ihre Flucht in noch größere Armut zu fallen.“Yama Omari, Entwicklungshelfer
Doch in Hamdard hat die Aufnahme der neuen Bewohner verhältnismäßig gut funktioniert. Zur reibungslosen Integration tragen hier vor allem die Schuras bei, traditionelle afghanische Nachbarschaftskomitees, in denen die Ältesten aus Flüchtlings- und Gastgeber-Community zusammenkommen. In Hamdard wird auch auf ein ausgewogenes Verhältnis unter den Stämmen bei der Auswahl der Delegierten geachtet – Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Paschtunen sind allesamt vertreten. Faiz Mohammad ist von Anfang an Mitglied der Schura: „Sobald wir in der Gemeinde einen Mangel feststellen, tritt die Schura zusammen und versucht eine Lösung zu finden.“
Fünf Gehminuten von Faiz Mohammads Haus nehmen heute sieben bärtige Männer zur Schura auf roten Sitzkissen Platz. An der Wand hängt ein Gebetsteppich. Es geht um den Bau einer Klinik, die in der Siedlung dringend benötigt wird. Mohammad moderiert das Gespräch, er ist ein guter Redner. Bisher, erklärt er seinen Nachbarn, müssten die Bewohner bei Notfällen immer den Weg in die Stadt auf sich nehmen. Doch auf den holprigen Straßen von Hamdard gestalte sich der Krankentransport schwer. Mit ernster Mine beginnen die Männer zu diskutieren, an welche Stellen sie sich mit ihrem Gesuch wenden sollten.
Regierung vernachlässigt die Landbevölkerung
Die Abwanderung von Menschen in die Städte ist auch eine direkte Folge der afghanischen Politik. Obwohl nur rund 23 Prozent der Afghanen in urbanen Regionen leben, sind die Nutznießer von politischen Reformen und staatlichen Geldern in den letzten achtzehn Jahren der Kabuler Regierung zumeist Städter gewesen. So konnte sich in Kabul etwa eine Mittelschicht herausbilden, die relativen Wohlstand hinter hohen Mauern in einer stark umkämpfen Stadt genießt.
Doch ein Blick in die jüngere afghanische Geschichte zeigt: Aufstände und Putsche in Afghanistan fanden ihre Initialzündung stets auf dem Land. Sie nährten sich aus einer unzufriedenen und stark indoktrinierten Jugend. Dabei sind die Taliban keine Ausnahme, die ihre Kämpfer meist aus verarmten Landstrichen beziehen, besonders im Süden des Landes.
Doch Faiz Mohammad hatte Glück im Unglück. Er hat seine Flucht in die Stadt nicht bereut. Seine Söhne hat sogar Arbeit als Lehmbauarbeiter gefunden. „Wir haben die Hoffnung, dass das Leben hier noch besser wird“, sagt der alte Mann und stößt sanft die neben ihm schaukelnde Wiege an, in der sein sechs Monate alter Enkelsohn Seyed Mobin liegt. Wohlstand wird in Afghanistan nicht nur finanziell, sondern auch an der Zahl der Nachkommen gemessen. Zuneigungsvoll und stolz blickt Faiz Mohammad auf den weich gebetteten Säugling. Und hofft, dass es Seyed Mobin einmal leicht in seinem Leben haben wird.
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