Europäische Regierungen bewerten Afghanistan gerne als sicheres Herkunftsland und schieben seit einigen Jahren wieder Menschen in das Land am Hindukusch ab. Doch die Lagebeurteilung durch westliche Politiker könnte nicht realitätsferner sein. 

„Auch in Kabul kann man nicht sagen, dass dort insgesamt die Lage so unsicher ist, dass man die Leute da nicht hinschicken könnte.” So begründete der ehemalige deutsche Innenminister Thomas de Mazière aus seinem Berliner Amtssitz im Februar 2017 Abschiebungen von Flüchtlingen nach Afghanistan. „Im kleinen Umfang”, schob er hinterher. In Zahlen sind das inzwischen knapp 600 junge Afghanen, die seit dem ersten Abschiebeflug im Dezember 2016 von Deutschland zurück nach Kabul geflogen wurden.

Ein Blick auf die Entwicklung der Sicherheitslage in der afghanischen Hauptstadt in den letzten Jahren zeigt, wie unhaltbar de Mazières Äußerung ist. Inzwischen gibt es fast täglich Explosionen in Kabul, die es längst nicht immer in unsere Schlagzeilen schaffen. In der Facebook-Gruppe „Kabul Security NOW”, über welche Bewohner sich gegenseitig zu sicherheitsrelevanten Vorfällen in der Hauptstadt informieren, erscheinen praktisch jeden Tag wackelige Handyvideos und Fotos von Anschlägen oder Warnungen über vernommene Schießereien oder Detonationen.

Derweil liegt den deutschen Abschiebungsentschlüssen die immer wieder geäußerte Behauptung zugrunde, dass Afghanistan ein sicheres Herkunftsland sei. Doch nicht nur die Lage in Kabul zeichnet hier ein ganz anderes Bild. Auf der Website der Organisation „Pro Asyl” heißt es zurecht, es vergehe „kaum ein Tag ohne Kampfhandlungen oder Anschläge, aber auch keine Woche, wo nicht der Drohnenkrieg oder brutales Vorgehen auch der afghanischen Armee Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern”.

Nur 60 Prozent des Landes unter Regierungskontrolle

Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass die Regierung in Kabul nur noch rund 60 Prozent der Landesfläche Afghanistans kontrolliert. Nicht umsonst wird der afghanische Präsident oft scherzhaft als „Bürgermeister von Kabul” bezeichnet.

Die Taliban gewannen mit ihren Offensiven in den letzten Jahren besonders auf dem Land immer mehr an Boden, was innerhalb Afghanistans zu einer massiven Ausweitung der Flucht- und Binnenmigrationsbewegungen geführt hat. Die Erstarkung aufständischer Gruppen wie den Taliban in den Dörfern ist auch auf die sträfliche Vernachlässigung des ländlichen Raums durch die afghanische Regierung zurückzuführen.

„Jahrelang wurden diese Orte bombardiert und durch ausländisches Militär, Milizen und die afghanische Armee selbst überfallen”, schrieb der afghanisch-österreichische Autor und Analyst Emran Feroz, der ein Buch über den US-geführten Drohnenkrieg am Hindukusch geschrieben hat, im April bei TRT World. Der Artikel trug die vielsagende Überschrift „Lasst uns der Wahrheit ins Gesicht schauen — Das ländliche Afghanistan ist verloren”.

Ländliche Regionen werden vernachlässigt

Es sind oft genau diese Regionen, aus denen afghanische Flüchtlinge, die es bis nach Europa geschafft haben, stammen. Dort ist es der afghanischen Regierung mit ihrem Fokus auf die Städte nicht gelungen, eine grundlegende Infrastruktur zu betreiben — Stichwörter: Krankenhäuser, Wasserversorgung, Straßenbau. Nun übernehmen die Taliban in manchen dieser Landstriche erfolgreich genau diesen Job. Die Unterstützung aus der Bevölkerung nährt sich nicht zuletzt häufig aus solchen Grundversorgungsmaßnahmen durch die Milizionäre.

Mahbooba* ist Oberschullehrerin in der nordafghanischen Gebirgsprovinz Badachschan, einer pittoresken Region am Übergang des Hindukusch in das Karakorum-Gebirge. Badachschan war lange eine Insel der Stabilität, auch noch als in den angrenzenden Provinzen bereits das Chaos einzog und sich die afghanische Armee immer mehr auf dem Rückzug befand.

Schon während der Taliban-Herrschaft in Kabul gelang es den bärtigen Krieger nicht, in dieser  Region an der Grenze zu Tadschikistan Fuß zu fassen. Doch im Oktober 2015 nahmen Kämpfer im Zuge der Offensive von Kundus auch den Distrikt Warduj in Badachschan ein. Der Distrikt liegt strategisch auf dem Weg von der Provinzhauptstadt Faizabad in den Wakhan-Korridor, jenem Gebirgszipfel, der bis an die Grenzen Pakistans und Chinas reicht.

Taliban übernehmen zunehmend die Macht

Heute befindet sich die Mädchenschule, an der Mahbooba unterrichtet, nur acht Kilometer vom ersten Checkpoint der Taliban gelegen. Ihr Bruder wurde indes während seines Wehrdiensts von aufständischen Kämpfern umgebracht — ein Schicksal, das Mahbooba mit vielen afghanischen Familien teilt. Auch wenn ihr Heimatdorf offiziell unter Regierungskontrolle steht, sickern Taliban-Anhänger aus deren nahe gelegenem Herrschaftsbereich durch. „In unserem Dorf gibt es Männer, die zu den Taliban gewechselt sind”, erzählt die schlanke Frau mit dem dunkelblauen Kopftuch. „Armut und Arbeitslosigkeit stärken das Interesse der jungen Männer daran, Waffen in die Hand zu nehmen.“

Zwar ist Mahbooba noch nie einem Taliban-Kämpfer begegnet. Sie kann ihren Beruf als Lehrerin ungestört ausüben – anders als im benachbarten Warduj, wo es in den letzten Jahren Berichte über Frauensteinigungen gab. Doch Mahboobas Situation ist fragil. Sie steht exemplarisch für das von Millionen Afghanen, die im täglichen Schatten der Bedrohung durch bewaffnete Aufständische, lokale Milizen oder vorstoßende Warlord-Gangs leben.

Das scheinen Politiker in Mitteleuropa nicht zu sehen oder sehen zu wollen: Auf Vorstoß des aktuellen deutschen Innenministers Horst Seehofer soll es sogar eine Ausweitung von Abschiebungen an den Hindukusch geben. Die Richtung der deutschen Asylpolitik scheint im Moment vorgezeichnet, nicht zuletzt getrieben durch die Asyl-Scharfmacher der populistischen Rechten.

In Luxemburg kam es in den vergangenen Jahren übrigens auch zu einzelnen Rückführungen von afghanischen Asylbewerbern. Die Schutzquote, also die Anzahl jener Afghanen, die das Flüchtlingsstatut erhalten, liegt in Luxemburg allerdings weitaus höher als in anderen europäischen Staaten.

* Name wurde von der Redaktion geändert.


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