Einst gab es in Afghanistan florierende Hindu- und Sikhgemeinschaften. Doch heute stehen die Minderheitengruppen im Land vor dem Aussterben. Einblicke in die Geschichte eines kriegsgebeutelten Landes.
Wer mit dem Taxi durch Kabuls Stadtzentrum fährt und auf die Asmayi Road gelangt, dem dürfte am Straßenrand ein schweres Tor mit Schwertemblem auffallen, hinter dem ein orangenfarbenes Fähnchen weht. Jenseits der weißen Marmormauern befindet sich die größte Gurudwara von Kabul, ein Tempel der Sikhs, wie man ihn auch auf dem indischen Subkontinent finden kann. Wie in den Gurudwaras vom Indien gibt es auch hier eine geräumige Gemeinschaftsküche, den „Langar“, in der an Gemeindemitglieder und Fremde jeden Tag aufs Neue kostenlos Mahlzeiten ausgegeben werden.
Allerdings fehlen der Gurudwara seit Jahren sowohl die Besucher als auch die Helfer. Die einst florierenden Communities der Sikhs und Hindus in Afghanistan sind nach Jahren des Krieges und der gesellschaftlichen Diskriminierung vor dem Aussterben bedroht. Zählten die zwei religiösen Minderheitsgruppen vor Beginn des afghanischen Bürgerkrieges im Jahr 1992 noch über 200.000 Mitglieder, so sind es heute laut einem Artikel der Agentur Reuters nur noch rund 200 Familien.
Die Verwurzelung der Hindus und Sikhs in Afghanistan lässt sich indes bis ins Mittelalter verfolgen. Insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert überquerten Kaufleute aus Indien mit Kamelen den Khyber-Pass und siedelten sich am Hindukusch an. In Städten wie Kandahar, Khost, Herat, Jalalabad und Kabul wurden sie zu einem wichtigen Teil der örtlichen Basarwirtschaft. Aufgrund des muslimischen Zinsverbots erfolge fast der gesamte Geldverkehr über Hindus und Sikhs, aber auch über die Juden und Christen.
Ein Zeugnis von verflogener Harmonie
In dem historischen Bericht „Eine Reise in die Vergangenheit der Hindus und Sikhs in Afghanistan“ schildert der Deutsch-Afghane Om Perkash Piassa das Leben in der Altstadt von Kabul zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Ein Großteil der Geschäfte damals sei in den Händen der Hindus, die interreligiöse Nachbarschaft selbstverständlich gewesen – ein Zeugnis von verflogener Harmonie: „Die Hindus hatten ein freundschaftliches Verhältnis zu den Moslems in Afghanistan. Sie lebten in unmittelbarer Nachbarschaft miteinander und halfen sich bei Schwierigkeiten aus. Die Kinder wuchsen zusammen auf und spielten miteinander. Es war selbstverständlich, dass es bei einer Essenseinladung an die Moslems kein Schweinefleisch gab, genauso wie für die Hindus kein Rindfleisch serviert wurde.“
Piassa, ein Kölner Arzt der bereits in den Siebzigerjahren nach Deutschland auswanderte, versucht mit seinem Buch das Leben der Hindus in Afghanistan für die Nachwelt festzuhalten. Dafür stellte er Recherchen über Historie, Brauchtümer und Migrationsgeschichte seiner Community an. Hinter dem Projekt steht Piassas Sorge um das Aussterben der afghanischen Hindutraditionen, denn die Nachkommen im Ausland vernachlässigten die Wurzeln ihrer Familien zunehmend.
Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war laut Piassa das Klima für die Sikhs und Hindus in Kabul angespannt, besuchten Kinder aus deren Familien aus Angst vor muslimischen Übergriffen nicht mehr die Schule. Infolge der zunehmenden Islamisierung während der Kriegsjahre nahm man die Hindus und Sikhs in der afghanischen Bevölkerung zunehmend als Fremdkörper wahr. Doch erst mit dem Ausbruch des afghanischen Bürgerkriegs wurde die Flucht zur Überlebensfrage. Hindus und Sikhs wurden vermehrt als Ungläubige gebrandmarkt und fielen Bandenentführungen zum Opfer. Unter den Taliban mussten Hindus und Sikhs ihre Kleidung mit gelben Markierungen versehen die sie als Nicht-Muslime kennzeichneten. Dies wurde damals durch die Vereinten Nationen scharf kritisiert.
Vergangene religiöse Vielfalt
Der Exodus der Sikhs und Hindus aus Afghanistan hatte seinen Höhepunkt Anfang der Neunzigerjahre, als Indien kostenlose Visa an die afghanischen Hindus vergab und seine Grenzen für den Flüchtlingsstrom öffnete. In Indien jedoch waren die Neuankömmlinge ebenfalls Diskriminierungen ausgesetzt und galten schematisch als „die Afghanen“, in der Regel verarmt und ohne wirtschaftliche Überlebensbasis. Tausende von ihnen emigrierten derweil in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und Europa.
In Deutschland zählt die afghanische Hindu- und Sikhgemeinschaft heute rund 15.000 Mitglieder. In den vergangenen Jahren taten sich ihre Verbände immer wieder als Sprachrohr gegen die Rücksendung afghanischer Flüchtlinge in die alte Heimat hervor. Besonders für die Sikhs und Hindus bestünde in Afghanistan akute Verfolgungsgefahr. Auch unter der aktuellen Regierung Aschraf Ghanis seien Hindus und Sikhs immer wieder Anfeindungen aus dem Volke ausgesetzt. Eins jedenfalls ist sicher: Im mittlerweile zu 99,7 Prozent muslimischen Afghanistan scheint religiöse Vielfalt der Vergangenheit anzugehören. An eine Rückkehr in die Heimat ihrer Vorfahren glaubt in den Sikh- und Hindu-Exilgruppen jedenfalls niemand mehr.