Das Schicksal eines Lautenschnitzers in der Altstadt von Kabul erzählt vom beispiellosen Kulturverlust in Afghanistan, während sich die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert. Unser Korrespondent Marian Brehmer berichtet regelmäßig aus dem krisengebeutelten Land am Hindukusch.
Kunst kann auch auf kleinstem Raum überleben. Ein mal zweieinhalb Meter misst die Instrumentenwerkstatt im Kabuler Shor Basar, in der Yusuf Kadri das Erbe seiner Vorfahren fortführt. Einen Tisch kann man auf dieser Fläche nicht unterbringen. Deshalb fertigt Yusuf Kadri seine Rababs im Schneidersitz, die hölzerne Werkzeugkiste immer an seiner Seite.
Die Rabab ist das afghanische Nationalinstrument, eine Langhalslaute, deren Ursprung mehrere Jahrhunderte zurückreicht. In ihrer heutigen Form soll die Rabab im 19. Jahrhundert in Kabul entwickelt worden sein. Die Geschichte des Rababhandwerks ist die Geschichte jener Tage, in denen Kabul noch ein kultureller Knotenpunkt auf der Seidenstraße war. Hier in der Altstadt waren einmal ganze Straßen dem Instrumentenbau gewidmet. Bis in die späten Abendstunden sollen die melancholischen Klänge der Rabab damals aus den Häusern zu hören gewesen sein.
Heute sieht es in den Gassen anders aus: Von funktionierender Infrastruktur ist auch im Kabul von Aschraf Ghani, dem aktuellen afghanischen Präsidenten, wenig zu sehen. Es regnet stark an diesem Tag im März, auf Kabuls Stadtbergen liegt noch Schnee, und ich treffe auf Schlag- und Matschlöcher so weit das Auge reicht.
Kulturschwund und kaum Wiederaufbau
Wiederaufbau hat bisher kaum statt gefunden, der Altstadt ist der Horror der Kriegsjahre auch siebzehn Jahre nach dem Bürgerkrieg noch anzusehen. Siebhafte Einschusslöcher an Gebäuden zeugen von den unerbitterlichen Kämpfen der Warlords, halbierte Häuser von ganzen Vierteln, die dem Erdboden gleich gemacht wurden. Doch den Afghanen wird nachgesagt, ein zähes Volk zu sein. Zwischen den Trümmern befinden sich heute Gemüsehändler, Kosmetikstände und Imbissbuden.
Yusuf Kadris Werkstatt liegt etwas abseits des allgemeinen Trubels und ist in ihrer Winzigkeit ein Symbol für den Kulturschwund in Afghanistan. Der Instrumentenbauer ist ein schmächtiger Mann von Anfang fünfzig mit schütterem Haar. „Ich habe schon seit langer Zeit einen weißen Bart. Das liegt an den vielen Schwierigkeiten“, meint Yusuf Kadri. Er lächelt, wobei sich sein Kopf etwas zur Seite neigt. Dann schenkt er mir Tee aus einer blechernen Teekanne ein, die auf einem Kerosinkocher zischt.
Unter den Taliban wurde alles anderes. Sie brandmarkten die Rabab als unislamisch.“
Vor Kadri liegt ein kantiger Maulbeerholzblock, der mit Sägespänen übersät ist. Dieser wird zunächst grob zurechtgesägt und dann ausgehöhlt. Griffbrett und Wirbelkasten werden separat geschnitzt und angeklebt. Kunstvolle Blumenmuster in Form von Perlmutteinlagen geben dem Instrument seine Eleganz. Auf den Klangkörper wird dann Ziegenhaut gespannt. Die zwanzig Saiten werden über einen Steg aus Hirschgeweih gezogen und an der Unterseite des Instruments befestigt. „Die Symmetrie ist sehr wichtig. Ich messe alles genau nach“, sagt Yusuf Kadri und holt, um das zu unterstreichen, einen eisernen Zirkel aus seiner Werkzeugkiste.
Yusuf Kadri studierte zunächst Landwirtschaft, lernte dann von seinem Vater das Rabab-Bauen. Seine Familie lebt bereits seit zweihundert Jahren vom Instrumentenhandwerk. Kadri hält ein verstaubtes Bild seines Vaters hoch: „Was ich heute bin, verdanke ich ihm. Im Monat baue ich vier bis fünf Rababs.“ Stimmt seine Rechnung, dann würde das schon mindestens 1.200 Instrumente ergeben, die aus seiner Hand entstanden sind.
Als Yusuf Kadri vor dreißig Jahren mit dem Instrumentenbau anfing, kämpften die Sowjets in Afghanistan einen unerbittlichen Krieg gegen die Mudschahidin während der Kommunist Nadschibullah das Land regierte. „Unter dem Regiment der Kommunisten verließen viele meiner Freunde aus politischen Gründen das Land. Aber ich als einfacher Instrumentenbauer hatte keine Probleme“, sagt er. Die schwierigen Zeiten sollten noch folgen.
Beraubung einer jahrhundertealten Tradition
„Unter den Taliban wurde alles anderes. Sie brandmarkten die Rabab als unislamisch“, erzählt Yusuf Kadri. Der Islam der Taliban, der vielen Afghanen fremd war, betrachtete Musik als haram, gesetzeswidrig per se. Die Taliban konfiszierten bei ihren kulturellen Kreuzzügen Rababs um sie anschließend zu zerstören und in der Altstadt öffentlich aufzuhängen.
Damals floh Kadri mit seiner Familie nach Peschawar. In der Paschtunenhauptstadt in Westpakistan entstand in den Jahren der Talibanherrschaft ein eigenes afghanisches Musikerviertel. Kabul hingegen hatten die Taliban innerhalb kurzer Zeit einer jahrhundertealten Kulturtradition beraubt.

Zwei Jahre nach der Machtergreifung der Taliban reiste Kadri mit seinem Bruder noch einmal nach Kabul zurück um zurückgelassene Instrumente nach Pakistan zu schmuggeln. Sie verstauten die Rababs unter den Sitzen. Auf dem Weg nach Dschalalabad hielten Taliban-Offiziere das Auto an. Sie entdeckten die Instrumente und prügelten auf die Brüder ein. Dann mussten sie sich hinknien und als Zeichen der Reue ihre Gesichter in den Staub legen. Doch die Instrumente rührten die Islamisten nicht an. “Zum Glück”, erinnert sich Kadri. „Erst unter Hamid Karsais Präsidentschaft fühlten wir uns sicher genug, um hierher zurück zu kehren.“
Auch wenn Kadri seinen Beruf nun ohne direkte Bedrohung ausüben kann, bereitet ihm die Sicherheitslage in Kabul wohl Kopfschmerzen. Anschläge wie jener auf ein Wahlregistrierungsbüro am 22. April, nur wenige Kilometer vom Shor Bazaar entfernt, sind Kabuler wie Yusuf Kadri inzwischen gewohnt. Bisher haben die Taliban, die sich für den letzten Anschlag verantwortlich zeigten, nicht auf das Friedensangebot des Präsidenten Aschraf Ghani im Februar reagiert. Viele Afghanen werfen ihrer Regierung indes vor, nicht genügend für die Verbesserung der katastrophalen Sicherheitslage im Land zu unternehmen.
Bedrohte Musikkultur
Von der alten Musikkultur jedenfalls ist im gebeutelten Afghanistan bis heute nur wenig zu sehen. Die meisten Musiker haben sich sowieso längst in die Vereinigten Staaten oder nach Europa abgesetzt. Eine andere potenzielle Bedrohung für Kadris Handwerk lässt sich zwei Häuser weiter beobachten. Dort dudeln von einer Ladentheke indische Popschnulzen in die Straße. Das Geschäft mit raubkopierten Musikalben macht einen guten Umsatz — klassisch-afghanische Musik führt es allerdings nicht.
Doch Kadri ist sich sicher: „Egal, wie viel neue Musik heute nach Afghanistan kommt, die Rabab wird überleben. Sie gehört zu unserem Land.“ Stolz zeigt er ein Stück, das er gerade erst fertiggestellt hat. Es ist eine voluminöse Laute aus dunkel lackiertem Holz. Er wird sie für 20.000 Afghanis verkaufen (etwa 240 Euro).
An der Spitze des Instruments befindet sich ein türkisfarbener Stein, der Unglück abwehren soll. Auf der Rückseite des Instruments ist ein Streifenmuster eingeschnitzt, das Markenzeichen der Familie. Schon seine Väter haben so ihre Instrumente markiert und vor Kopierern geschützt. Nur so kann jeder sicher sein, dass die Rabab tatsächlich aus Yusuf Kadris kleiner Werkstatt stammt.