Bald neun Jahre nach der großen Revolution von 2011 kommt Ägypten immer noch nicht zur Ruhe. Die politische Lage bleibt angespannt. Neue Protestbewegungen sind nicht ausgeschlossen – auch wenn sich die Fronten leicht verschoben haben.

Dieser Tage ist der Tahrir-Platz eine Baustelle. Das politisch-ökonomische Herz Kairos ist vollends mit Bauzäunen versehen, offiziell zur „Renovierung und Verschönerung“, so hieß es aus dem ägyptischen Ministerium für Wohnungsbau.

Der Geschäftigkeit um den weitläufigen Knotenpunkt tut dies jedoch wenig Abbruch: Scharen von gut gekleideten Büroangestellten strömen aus Metro-Schächten und kämpfen gegen eine schier endlose Blechlawine an. Immer wieder verkeilen sich Autos und Fußgänger, bringen sich gegenseitig zum Stillstand, doch irgendwie scheint alles ohne größere Zwischenfälle seinen Gang zu nehmen.

Fast vergisst man bei all dem Alltagswahnsinn in der größten Stadt der arabischen Welt, dass sich hier vor neun Jahren die Bühne befand für die wohl berühmteste Protestbewegung in der MENA-Region des 21. Jahrhunderts. Sie war die Mutter des „Arabischen Frühlings“, die fast schon sprichwörtliche Tahrir-Revolution. Seitdem ist viel Wasser den Nil hinab geflossen und sind so manche politische Stürme über Kairo hinweg gezogen.

Armee stürzte Regierung der Muslimbrüder

Ein kurzer Rückblick auf die wechselhafte politische Landschaft Ägyptens in den letzten Jahren zeigt, dass die Umbrüche mit dem Arabischen Frühling längst nicht zu Ende waren. Nach monatelangen Protesten im Jahr 2011 und einer Übergangsverwaltung des Militärs gelang Mohammed Morsi, dem Kandidaten der Muslimbruderschaft, ein knapper Sieg bei den ersten Präsidentschaftswahlen überhaupt im modernen Ägypten.

Doch Morsis Präsidentschaft und die Führung der islamistischen Muslimbrüder wurden von vielen säkularen Ägyptern von Beginn an mit viel Argwohn betrachtet. Wenige Monate nach Beginn seiner Präsidentschaft machte sich Morsi daran, die Verfassung des Landes umzukrempeln. Die Rolle des Islam wurde konstitutionell gestärkt und die Rede- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt.

Neue Proteste ließen nicht lange auf sich warten: Anfang 2013 kamen bei Anti-Morsi-Demonstrationen 50 Menschen ums Leben und zum einjährigen Jubiläum seines Amtsantritts forderten auf dem Tahrir-Platz im Juni 2013 eine halbe Million Kairoer den Abtritt des Präsidenten. Im Monat darauf stürzte die Armee die Regierung der Muslimbruderschaft. Hunderte kamen ums Leben, während Sicherheitskräfte Pro-Mursi-Protestcamps stürmten.

Militär übernimmt (und festigt) die Macht

Anfang 2014 verfügte das nun regierende Militär in einer neuen Verfassung ein Verbot jeglicher Art von religiösen Parteien, was die Muslimbruderschaft de facto illegal machte. Im Mai gewann der ehemalige Armeechef Abdel Fatah al-Sisi die Präsidentschaftswahlen. Der gestürzte Mohammed Morsi wurde im Jahr darauf wegen eines Massenausbruchs von Gefangenen der Muslimbrüder im Jahr 2011 gemeinsam mit mehr als 100 anderen Häftlingen zum Tode verurteilt. Morsi starb im Juni dieses Jahres in einem Kairoer Gefängnis an einem Herzinfarkt. Sein Tod wurde bei den Vereinten Nationen als „staatlich zugelassene Tötung“ bezeichnet.

Während Abdel Fatah Al-Sisis erster Amtszeit wurde Ägypten von einem Erstarken des sogenannten Islamischen Staats heimgesucht. Anschläge in Touristenhochburgen wie Hurghada und an den Pyramiden von Giza trafen die ägyptische Tourismusindustrie hart, während IS-Attacken gegen koptische Christen und Sufis im Nordsinai international viel Aufmerksamkeit erhielten.

Zugleich ist Al-Sisis Präsidentschaft geprägt von der Unterdrückung oppositioneller Gruppen, Einschränkungen in der Presse- und Meinungsfreiheit, Kontrollmaßnahmen gegenüber den Medien, Sperrung von internationalen Nachrichtenseiten sowie dem Blockieren von sozialen Netzwerken.

Neue große Proteste nicht unwahrscheinlich

Gegen das autoritäre Vorgehen der aktuellen Regierung gab es immer wieder kleinere Protestwellen, bei denen auch das Internet ausgeschaltet wurde. Nachdem im Herbst Details über Geldverschwendung beim Bau des Präsidentenpalasts und den Missbrauch öffentlicher Gelder bekannt geworden waren, wurde sogar erstmals von einzelnen der Sturz von al-Sisi gefordert — bei derartiger Gängelung der Opposition ein äußerst riskantes Vorgehen. Auf die Proteste folgte prompt eine Verhaftungswelle, im Zuge derer rund 2.000 Menschen festgenommen wurden.

Neben prominenten Dissidenten wie dem Politologen Hassan Nafaa von der Universität Kairo, dem Terrorismus-Unterstützung vorgeworfen wird, waren unter den Inhaftierten viele junge Ägypter, die bisher nicht weiter aktivistisch aufgefallen waren. Das Vorgehen von Al-Sisis Regierung zeigt die Nervosität von Ägyptens aktuellen politischen Eliten. Man will eine dritte Tahrir-Bewegung mit allen Mitteln verhindern und politisches Aufbegehren noch im Keim ersticken. Doch im unruhigen politischen Klima Ägyptens ist eine weitere Revolution auf mittelfristige Sicht keine allzu große Unwahrscheinlichkeit. Dann dürfte der Tahrir-Platz wieder zu einem Brennpunkt des politischen Wandels werden.