Zärtlichkeit, Zweisamkeit, Sex: All das gehört zu einer Beziehung dazu. Dass auch Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung ihre Sexualität ausleben wollen, ist für ihr Umfeld nicht immer selbstverständlich. Sie kämpfen dennoch für einen gesellschaftlichen Wandel.

Sex ist überall, er ist selbstverständlich und alles andere als ein Tabu. Ganz nach dem Motto: Anything goes. Es wird darüber aufgeklärt, gesprochen, gewitzelt; in Filmen, in den Medien, in der Werbung, im Alltag. Mit Sarah und Tom* wollte aber lange Zeit kaum jemand darüber reden. Es wurde ihnen sogar ausgeredet. So wie ihre ganze Beziehung.

Sarah und Tom haben beide eine intellektuelle Beeinträchtigung. Sarah hat zudem eine körperliche Einschränkung – ihr rechter Arm ist gelähmt. Dass die beiden eine Beziehung führen, Gefühle füreinander und Sex haben, war für viele aus ihrem Umfeld lange schwierig – und teilweise sogar inakzeptabel. Selbstbestimmte Sexualität? Nicht für Menschen mit einer Behinderung, hieß es oft.

Vor mehr als 24 Jahren wurden die beiden ein Paar. Nach ersten heimlichen Treffen sind die beiden schnell zusammengezogen. Erst lernten sie sich kennen, dann lieben. Es folgte ein Baby.

Die Gesellschaft denkt, Leute mit Beeinträchtigung hätten kein Recht auf Sexualität.“Vera Bintener, Info-Handicap

Was sich nach einer ganz normalen Liebesgeschichte anhört, hatte aber seine Tücken. Beide haben in Heimen gewohnt und die Mitarbeiter und Familien waren von der Beziehung alles andere als begeistert. Von einem Kind schon gar nicht zu reden. Zu viel Verantwortung, zu kompliziert, zu kostspielig. „Alle dachten, wir würden das nicht schaffen und manche waren sogar dagegen“, sagt Tom. „Doch ich hatte immer meine genauen Ziele.“

„Dass dieser Gedanke so abwegig ist, zeigt, wie die Menschen immer noch zum Thema Sexualität bei Menschen mit einer Beeinträchtigung stehen“, sagt Fernande Dahm. „Uns andere fragt ja auch niemand nach unserem Sexleben aus und wie wir es schaffen, ein Kind großzuziehen. Bei ihnen aber wird es als etwas Unvorstellbares dargestellt“, so die Sexualpädagogin der Ligue HMC.

Nicht Frau, nicht Mann – sondern beeinträchtigt

Einblicke in ihr intimes Privatleben gewährten vor einigen Jahren auch Joël Delvaux und seine mittlerweile verstorbene Frau Andrea. Im Film „Sweetheart Come“ sieht der Zuschauer, wie Joël und Andrea von einer Pflegekraft Hilfe bekommen, um sich im Bett nebeneinander zu legen, um kuscheln zu können oder wie beide beim gemeinsamen Schwimmen von Betreuern unterstützt werden. Obwohl beide im Rollstuhl saßen und körperlich eingeschränkt waren, war das alles möglich. Es brauchte nur ein bisschen Unterstützung.

Dass Menschen mit Behinderung sexuelle Wünsche haben, bleibt oft auf der Strecke – oder es wird skandalisiert. Auch, weil sie oft nicht als Mann und Frau wahrgenommen werden, sondern nur als Behinderte. So, als hätten sie kein Geschlecht, keine Sexualität, keine Bedürfnisse. Als seien sie asexuelle Wesen oder Übersexuelle, die ihre Triebe nicht im Griff haben.

„Dass es dieses Bild noch gibt, liegt daran, dass die Gesellschaft nicht informiert ist“, sagt Ute Tauchhammer. Die Psychologin und Sexualpädagogin ist seit 2016 bei der Ligue HMC und wurde von den Mitarbeitern dort anfangs als „Sextussi“ abgestempelt, wie sie sagt. Ihre Aufgabe innerhalb der Organisation, war, eine „Sexualkultur“ aufzubauen. Kurz: Es sollte kein Tabu mehr sein, über Sex und Sexualität zu reden.

Dass es aber jemanden braucht, der beides erklärt, war für viele Mitarbeiter der Organisation zunächst befremdlich. Plötzlich wollte niemand mehr darüber reden – schon gar nicht Gruppen oder Workshops. „Es zeigt, dass Sex zwar allgegenwärtig ist. Wenn es darum geht, ernsthaft darüber zu sprechen, ist die Hemmschwelle plötzlich wieder höher“, so die Psychologin.

Unterdrückte Gefühle führen zu Aggressivität

Wenn Gefühle oder Lust aber außen vor gelassen werden, kann es zu Problemen kommen. „Menschen mit einer Beeinträchtigung wissen häufig nicht, was mit ihrem Körper passiert“, so Ute Tauchhammer. Das kann dazu führen, dass sie irritiert oder gar aggressiv reagieren, weil sie für ihre Gefühle oder ihre Lust kein Ventil finden. Sie können es nicht richtig interpretieren.

Aufklärung ist deshalb wichtig. Tauchhammer spricht nicht nur mit den Betroffenen selbst, sondern auch mit den Mitarbeitern der Ligue, den Eltern, den Familien – mit allen, die Fragen haben. Dazu gibt es Workshops, Kurse, Einzelgespräche. Menschen mit Beeinträchtigung sollen bei Ute Tauchhammer lernen, was mit ihren Körpern passiert, sie sollen deuten können, was sie fühlen. Und ihr Umfeld kann lernen, dass sie eine Sexualität haben, die sie ausleben können und sollen.

Es ist so, als ob menschlicher und körperlicher Kontakt als Luxus angesehen werden.“Joel Delvaux

Auch Tom und Sarah haben bereits an Workshops teilgenommen. „Wir haben über Liebe gesprochen, über Partnerschaft, gelernt wie man sich gegen Krankheiten schützt und wir haben Penisse und Muschis geformt“, so Tom.

Beide haben kein Problem damit, zu erzählen, was sie erfahren und gelernt haben. Aber: „Dinge, wie sich andauernd zu küssen, mag ich sowieso nicht so gerne“, sagt Tom. Sarah sitzt daneben und nickt. Was ihnen wichtiger ist? „Zeit zusammen zu verbringen, spazieren gehen, etwas zusammen unternehmen“, sagt Sarah.

„Bei der Sexualassistenz fehlt eine Gesetzgebung“

Ein wichtiger Punkt, der aber erst aufgearbeitet wird, ist die Sexualassistenz. „Bis heute fehlt in Luxemburg eine Gesetzgebung“, sagt Vera Bintener von Info-Handicap. Fällt es unter Prostitution oder nicht – und wenn ja, warum? Schon alleine das müsse definiert werden.

Auch Joël Delvaux spricht im Dokumentarfilm dieses Thema an. In anderen Ländern legal, ist es in Luxemburg eine Grauzone. „Es ist so, als ob menschlicher und körperlicher Kontakt als Luxus angesehen werden“, sagt er im Film. So, als ob nicht jeder ein Anrecht darauf hat.

Während Info-Handicap einer Debatte über aktive Sexualassistenz offen gegenübersteht, lehnt das Planning Familial diese Form der Assistenz bis dato ab. Die Beratungsstelle stellt sie mit Prostitution gleich. Bei aktiver Assistenz gehe es von Berührungen und Massagen über Masturbation bis hin zur Penetration. „Weil aber in 90 Prozent der Fälle der Mann die Beeinträchtigung hat und die Sexualassistenz von einer Frau kommt“, heißt es in einem offiziellen Statement.

Für eine passive Sexualassistenz, beispielsweise eine Hilfe beim Ausziehen oder beim Finden von Positionen für ein Paar, sei man aber offener. Dafür müsse aber erst eine passende Gesetzgebung geschaffen werden und die Assistenz müsse eine passende Ausbildung durchlaufen.

Für Vera Bintener gibt es immer noch viel zu tun, denn Sexualität bei Menschen mit Beeinträchtigung sei immer noch ein Tabu: „Das liegt vor allem daran, dass die Gesellschaft denkt, Leute mit Beeinträchtigung hätten kein Recht auf Sexualität.“

*Namen von der Redaktion geändert.


Lesen Sie mehr zum Thema