Nach dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda wurde Belgien zum Zufluchtsort für Opfer und Täter gleichermaßen. Verantwortliche des Genozids und deren Sympathisanten können so bis heute ein verzerrtes Geschichtsbild verbreiten. Ihre Spuren führen auch nach Luxemburg.
Brüssel, neun Uhr abends. Jeanne* ist spät dran, der Babysitter wartet. Sie sollte eigentlich längst zu Hause sein. Sie entscheidet, ein Taxi zu nehmen, will Zeit sparen. Jeanne öffnet die Tür, grüßt den Fahrer. „Er sieht ruandisch aus“, denkt sie. Der Fahrer erwidert ihren Gruß nicht; reagiert auch nicht, als sie ihre Adresse nennt. Er würdigt sie keines Blickes und fährt los. Auf einmal stimmt er ein Lied an, er singt in Kinyarwanda, einer Sprache Ruandas.
Jeanne erstarrt vor Angst. Sie kennt die Melodie. Es ist eins der Lieder, das die Täter des ruandischen Völkermordes anstimmten, während sie Tutsi ermordeten. Jeanne senkt den Blick. Sie weiß, sie muss die Fahrt über sich ergehen lassen. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie der Fahrer sie durch den Rückspiegel ansieht, während er immer weiter singt. Die Botschaft ist klar: Die Arbeit ist noch nicht getan. Die Arbeit, das ist der Völkermord an den Tutsi, bei der auch Jeannes Familie getötet wurde. Sie selbst konnte entkommen. Doch die Angst bleibt.
Von Ruanda nach Belgien
Etwa 13.000 Personen ruandischer Herkunft leben in Belgien. Die meisten von ihnen kamen nach dem Völkermord als Schutzsuchende ins Land. Zunächst waren es die ruandischen Eliten, ehemalige Minister und hohe Beamte unter Juvénal Habyarimana, sowie wichtige Mitglieder seiner Partei, der Nationalen Republikanischen Bewegung für Demokratie und Entwicklung (MRND).
„Die Drahtzieher des Genozids fassten hier sehr schnell Fuß. Sie dachten wohl, sie müssten sich nie für ihre Taten verantworten. In den 1950er und 1970er Jahren konnte man in Ruanda schließlich auch ungestraft Tutsi umbringen“, erzählt Bernadette Mukagasana, die 1994 fast ihre gesamte Familie verloren hat. Nur ihr Bruder hat den Völkermord überlebt. Seitdem setzt sich Bernadette dafür ein, dass die Täter des Genozids nicht ungestraft davonkommen. Der Erfolg ließ lange auf sich warten. Erst 2001 kam es in Brüssel zum ersten Prozess: Zwei Ordensschwestern, ein Intellektueller und ein Notar mussten sich wegen ihrer Beteiligung am Völkermord verantworten.
Die ehemaligen ruandischen Machthaber leerten die Staatskassen, bevor sie sich in den Kongo (damals Zaire) und später nach Europa absetzten. Sie verfügten über die nötigen Mittel, um Ruandas neuer Regierung und in vielen Fällen der Justiz zu entkommen. Die meisten haben den Völkermord nicht selbst ausgeführt, sondern ihn geplant oder finanziert. Belgien hat einige Täter gefasst. Doch es kam nur vereinzelt zu Prozessen. Der letzte fand 2019 statt. Es handelte sich um den Fall Fabien Neretse. Das Gericht verurteilte den ehemaligen hohen Beamten wegen Völkermordes zu 25 Jahren Haft.
Der Völkermord in Ruanda
6. April 1994, 20.30 Uhr: Das Flugzeug, das den ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana aus Tansania zurückbringt, wird abgeschossen. Das Attentat dient als Vorwand, den lange im Voraus geplanten Völkermord an den Tutsi in die Tat umzusetzen. Bewaffnete Hutu-Milizen, Soldaten der ruandischen Armee (Forces Armées Rwandaises, kurz FAR) und einfache Bürger, die durch die Propaganda des extremistischen Radiosenders „Radio Télévision Milles Collines“ (RTLM) aufgehetzt wurden, beginnen mit den Massakern an den „Kakerlaken“, den Tutsi. Innerhalb von vier Monaten werden zwischen 800.000 und einer Million Menschen getötet. Es sind Tutsi, aber auch Hutu, die sich weigern, ihre Mitmenschen umzubringen.
Von Uganda aus beendet die Ruandische Patriotische Front (RPF) von Paul Kagame die Massaker und verfolgt die Extremisten bis in den Kongo. Seitdem herrscht der „Befreier“ Kagame mit eiserner Hand und unterdrückt jede Kritik an seinem Regime. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) wird im November 1994 von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen, um die Verantwortlichen des Genozids und anderer schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht vor Gericht zu stellen. Seit 2015 ist der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (IRMCT) für die letzten Verfahren gegen die Verantwortlichen des Völkermords zuständig. Derzeit steht der mutmaßliche Finanzier des Genozids, Félicien Kabuga, vor Gericht. Es wird einer der letzten Prozesse vor dem IRMCT sein.
„Einige der Täter – darunter auch die wichtigsten Akteure des Völkermordes – werden wohl nie gefasst. Es ist eine Frage der Mittel, aber auch der Beweise“, sagt Damien Vandermeersch. Er war 1994 Haftrichter in Brüssel und leitete die Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Kriegsverbrecher, die sich nach Belgien absetzten. Damals hatte er noch volles Haar, heute sitzt ein schmaler 60-Jähriger mit ernstem Gesicht und Glatze hinter einem Schreibtisch, vollgepackt mit Ordnern, Büchern und Dokumenten. „Man muss die Täter mit konkreten Fakten, Orten und Massakern in Verbindung bringen. Das macht es sehr schwer, sie strafrechtlich zu verfolgen. Doch wir haben etabliert, dass es einen Völkermord gab. Das ist Fakt.“
Es mangelte den Machthabern des alten Regimes in Belgien nicht an Unterstützung. Viele von ihnen haben in Belgien studiert. Sie waren mit Politikern befreundet, vor allem mit namhaften Persönlichkeiten der Christlich-Demokratischen Internationalen (IDC). Der Weltverband der christdemokratischen Parteien genoss in den 1990er Jahren großen politischen Einfluss.
Ein Netzwerk an Unterstützern
Jean* ist einer dieser ehemaligen Beamten, die nach 1994 nach Brüssel kamen. Groß, kräftig, imposante Statur. Jean trägt Sonnenbrille und Anzug, man könnte ihn für einen Bodyguard halten. Jean war Agent des ruandischen Geheimdienstes. Er gehörte dem Kabinett Habyarimanas an. In Belgien avancierte er zum Sprachrohr der ruandischen Exilgemeinschaft. „Ich war der Sprecher der Hutu-Gemeinschaft in Brüssel. Ich konnte sie mit ruhigem Gewissen vertreten, denn ich habe kein Blut an den Händen. Gegen mich liefen keine Ermittlungen.“
In Belgien entstand schnell ein ganzes Netzwerk an Unterstützern, die sich um die ruandischen Exilanten kümmerten. Eine neue Recherche des belgischen Magazins „Médor“ konnte rund 40 Vereine ausfindig machen. Die meisten wurden mit der Absicht gegründet, die geflüchteten Ruander im Exil zu unterstützen. In ihren Vorständen sitzen mutmaßliche Kriegsverbrecher; Hutu-Extremisten, gegen die die Justiz wegen ihrer Verwicklung in den Genozid ermittelt; Vertreter des alten Regimes und Aktionäre des extremistischen Radiosenders „RTLM“, der zum Völkermord animierte. Immer wieder stößt man aber auch auf die Namen von Vertretern der belgischen Christdemokratie, ehemalige Militärs und belgische Kolonialherren.
Die verschiedenen Vereine hegen enge Beziehungen zueinander: Sie sind an denselben Adressen gemeldet, dieselben Leute sitzen in ihren Verwaltungsräten, sie organisieren gemeinsam Konferenzen und andere Events oder demonstrieren regelmäßig zusammen vor der ruandischen Botschaft.
Eine verschworene Gemeinschaft
Jean saß lange Jahre im Vorstand mehrerer Vereine. „Wir alle kannten uns. Viele von uns waren ehemalige Beamte und Gegner der Ruandischen Patriotischen Front (der Partei des heutigen Präsidenten Paul Kagame, Anm. d. Red.).“ „Viele sehnen sich nach ihrer früheren Stellung und hoffen weiterhin darauf, eines Tages an die Macht zurückzukehren“, sagt Jean.
Um das zu erreichen, verbreiten die Vereine seit den 1990er Jahren eine alternative Version der Erlebnisse von 1994. Jean kennt die Argumente gut: „Sie sagen, es gab keinen Völkermord oder wenn, dann ist der eigentliche Schuldige Paul Kagame. Er hat den Völkermord provoziert, indem er das Flugzeug des Staatspräsidenten abschoss.“ Kagame stecke demnach auch hinter einem weiteren Genozid, dem an den Hutu, diesmal im Kongo. „Das alles dient dazu, die wahren Verantwortlichen reinzuwaschen.“
Die Rolle der belgischen Politik
1997 untersuchte ein Sonderausschuss des belgischen Senats die Rolle Belgiens im Völkermord. Kigali und Brüssel sind eng miteinander verbunden, schließlich handelt es sich bei dem zentralafrikanischen Staat um eine ehemalige belgische Kolonie. 1994 starben zudem zehn belgische UN-Blauhelme. Der Bericht des Senats zählt etliche Fehlentscheidungen der Regierung des früheren flämischen Christdemokraten Jean-Luc Dehaene auf. Ein ganzes Kapitel befasst sich mit den Verbindungen zwischen den flämischen und französischen christdemokratischen Parteien Belgiens, der Christlich-Demokratischen Internationalen (IDC) und dem ruandischen Regime.
Die Senatoren kritisieren insbesondere die engen Kontakte, die der IDC-Vorsitzende André Louis, dessen Berater für Afrika, Alain de Brouwer, sowie die damalige EU-Abgeordnete Rika de Backer mit Vertretern des ruandischen Regimes pflegten. Sie unterstützten ihre ruandischen Freunde sogar lange nach dem Völkermord.
Mehr dazu bei „Médor“: Rwanda, la complicité des partis chrétiens
Ein Beispiel ist die „Sofradie“. Der 1995 gegründete „belgo-ruandische Verein für Solidarität, Brüderlichkeit, Würde, Rechte und Hoffnung“ will die „Integration der Ruander in ihrem Gastland“ erleichtern. Im Vorstand sitzen ehemalige Hutu-Power-Ideologen, darunter mutmaßliche Täter des Genozids, gegen die ruandische und belgische Instanzen ermitteln. Zwei Namen lassen aufhorchen.
Der erste ist Jean Marie Vianney Ndahimana. Es handelt sich um einen ehemaligen Kommandanten der ruandischen Streitkräfte der „Forces Armées Rwandaises“ (FAR), die den Genozid ausführten. Ndahimana wurde 2011 in Belgien wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an den Massakern von Kigali und Kibuye verhaftet. 2012 kam er auf Kaution frei. Sein Fall liegt zurzeit bei der belgischen Staatsanwaltschaft.
Der zweite Name ist der von Venant Musonera, ebenfalls ehemaliger Kommandant der FAR. Die ruandische Kommission zur Bekämpfung des Völkermords (CNLG) zählt ihn zu den hochrangigen Verantwortlichen des Massakers von Bugesera, bei dem Hunderte Tutsi ums Leben kamen. Dennoch erhielt Musonera 2005 die belgische Staatsbürgerschaft. 2009 taucht sein Name in einem UN-Bericht über die Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas auf. Er soll die bewaffnete Gruppierung, die in der Demokratischen Republik Kongo Angst und Schrecken verbreitet, finanziell unterstützt haben.
Im Vorstand der Sofradie sitzen aber auch bekannte belgische Persönlichkeiten, etwa der ehemalige Direktor des internationalen Hilfswerks der katholischen Hilfsorganisation Caritas, Luc Heymans. Er war bis 2005 Vorstandsmitglied.
Spuren nach Luxemburg
Ebenfalls Mitglied der Sofradie: Oswald Nsengiyumva. Es handelt sich um den ehemaligen Sprecher für die Benelux-Region der Partei „Mouvement démocratique Républicain“ (MDR). Ihr gehörte zum Beispiel Jean Kambanda an, der während des Völkermordes als Premierminister fungierte und aufgrund seiner Verwicklung in den Genozid lebenslang in Haft sitzt. In einer Pressemitteilung von Juni 1994 verharmloste Oswald Nsengiyumva den Völkermord als „calvaire d’une population entière, meurtrie par les atrocités – on ne peut plus inhumaine – imposée au peuple rwandais [par le FPR]“.
Heute arbeitet Oswald Nsengiyumva als Hausarzt in Brüssel und ist Mitglied der Oppositionsbewegung „FDU-Inkingi“. Es handelt sich um einen Ausläufer des „Rassemblement pour un retour des réfugiés“ (RDR). Die Exilbewegung vereinte am Völkermord beteiligte Hutu-Milizen, Soldaten der ruandischen Armee und hochrangige Politiker. Der RDR sollte der in Verruf geratenen Regierung als akzeptable Fassade dienen, um mit der internationalen Gemeinschaft über die Rückkehr nach Ruanda zu verhandeln. Einige Gründungsmitglieder des RDR sind heute in der FDU-Inginki aktiv.
Seit den 1980er Jahren pflegte Oswald Nsengiyumva allerdings auch Beziehungen zu Luxemburg. So war er etwa bis 2019 Mitglied der Luxemburger ASBL „Amicale Rwanda-Luxembourg“. Der Verein hat den Arzt und Politiker großzügig unterstützt: Laut den Jahresberichten hat er ihm zwischen 1996 und 1998 rund 140.000 Franken (etwa 3.500 Euro) in Form eines Stipendiums ausbezahlt. In dieser Zeit hat die Amicale auch mit der Sofradie zusammengearbeitet. Zwischen 1998 und 2001 gab der Verein 270.000 Franken (6.750 Euro) für gemeinsame Projekte aus. 1996 hat die Amicale auch 59.065 Franken an Caritas International gestiftet. Der damalige Direktor Luc Heymans saß bis 2005 im Vorstand der Sofradie. Oswald Nsengiyumva wollte sich auf Nachfrage nicht zu diesen Sachverhalten äußern.
Die Amicale Rwanda-Luxembourg
Die Amicale Rwanda-Luxembourg wurde 1984 gegründet. Laut Statuten, um ein Krankenhaus in Musasa im Norden Ruandas zu bauen. Die damalige Präsidentin Antonia Kinnen sitzt auch heute noch dem Verein vor.
Unter den Gründungsmitgliedern taucht der damalige ruandische Minister Charles Nyandwi (MRND) auf. Er saß von 1981 bis 1994 in der ruandischen Regierung, zu dem Zeitpunkt war die MRND, die die Interessen der Hutu vertrat, die einzige zulässige Partei in Ruanda. Nyandwi war erst Minister fürs Hochschulwesen und Forschung, später für den öffentlichen Dienst. In dieser Funktion war er auch für die Durchsetzung der umstrittenen Quotenregelung zuständig, wonach nur eine sehr begrenzte Zahl von Tutsi Zugang zu Bildung und öffentlichen Posten hatten. Nyandwi hat sich 1994 nach Kenia abgesetzt. In einer Anfrage der ruandischen Botschaft in Frankreich an die französische Regierung von 2019 wird Nyandwi als Unterstützer der „Interahamwe“ geführt. Es handelt sich um die paramilitärischen Milizen der MRND-Partei, die den Genozid ausführten.
Auch der Name eines weiteren Mitglieds der Amicale lässt aufhorchen: Leonidas Munyanshongore. Er war in den 1970er Jahren ruandischer Botschafter für den Benelux, später arbeitete er für den UN-Botschafter in New York. In dieser Funktion leugnete er etwa die Anti-Tutsi-Pogrome der 1970er Jahre.

Die Amicale Rwanda-Luxembourg erhielt in den Jahren 1993 bis 1997 öffentliche Gelder durch das Außenministerium, wie aus den Jahreskonten hervorgeht. Seit 1997 sind keine staatlichen Subventionen mehr gelistet. Der Verein hat kein Abkommen mit dem Kooperationsministerium, ist allerdings Mitglied im „Cercle des ONG“ und unterhält fast jedes Jahr einen Stand beim „Festival des Migrations“. Die Amicale unterstützt bis heute Projekte in Kigali, Kibuye und Nairobi, Kenia. Die Präsidentin der Amicale, Antonia Kinnen, wollte sich auf Nachfrage nicht zu den in dieser Recherche aufkommenden Sachverhalten äußern.
„Man muss die Geschichte Ruandas kennen“
„Über Ruanda recherchieren fühlt sich an, als würde man auf Eiern laufen“, sagt Roland Moerland, der an der Universität Maastricht über die Leugnung des ruandischen Völkermordes forscht. „Man wird immer in ein Lager gesteckt. Wenn man die Verbrechen von Kagames Ruandischer Patriotischer Front erwähnt, gilt man als Leugner des Völkermordes. Verurteilt man Letztere, gilt man als Marionette Paul Kagames“, so der Kriminologe.
Hinzu kommt, dass die Leugnung des Völkermordes nur selten explizit ist. Der Genozid wird auf subtile Art und Weise infrage gestellt, etwa indem man von einem doppelten Völkermord spricht oder den heutigen Präsidenten Paul Kagame für alles verantwortlich macht. „Man muss die ruandische Geschichte sehr gut kennen, um diese Formen der Leugnung zu erkennen. Viele Aussagen sind doppeldeutig und vielschichtig. Um zu verstehen, was eigentlich gemeint ist, muss man wissen, von wem die Aussagen stammen und vor welchem Hintergrund sie getätigt wurden“, erklärt Roland Moerland.
Der Wissenschaftler unterscheidet zwischen jenen Akteuren, die direkt in den Völkermord involviert waren, und einem Netzwerk an Sympathisanten, also Politiker, Intellektuelle, Journalisten oder Anwälte, die sie umgeben. Letztere sind vielleicht keine direkten Leugner des Völkermordes, doch ihre Aussagen legitimieren dessen Verneinung. „Die Verleugnung des Völkermordes kann nur dann existieren, wenn sie auf fruchtbaren Boden fällt. Wenn Menschen mit einem gewissen Ansehen, einer gewissen Autorität, die Argumente der Leugner rechtfertigen, dann wird die Geschichte Ruandas Schritt für Schritt umgeschrieben“, sagt der Experte.
Die Auswirkungen auf jene, die den Genozid durchlebt und überlebt haben, sind erheblich. Roland Moerland hat sein Buch zum Thema deswegen „The Killing of Death“ genannt: Man hat die Menschen nicht nur umgebracht, sondern man leugnet auf gewisse Weise, dass sie je gelebt haben.
Für manche Geschichten ist kein Platz
In Belgien gleicht die ruandische Diaspora einem Mikrokosmos, in dem sich zwei Lager gegenüberstehen, findet Jean-Luc Nsengyiumva. Der Soziologe, selbst Ruander, promovierte zur Gemeinschaft ruandischer Einwanderer in Brüssel. „Die Menschen haben absolut keinen Kontakt zueinander. Die einen Kneipen werden nur von Hutu besucht, die anderen von Tutsi. Es gibt Hutu-Kirchen und Tutsi-Kirchen, Hutu-Tanzgruppen und Tutsi-Tanzgruppen. Sogar die Studentenvereinigungen sind gespalten.“ Das Misstrauen gegenüber dem anderen sei allgegenwärtig. „Man sagte mir, geh nicht in diese Kneipe, sie werden dich heimlich vergiften. Aber ich habe mich über zehn Jahre an diesen Orten aufgehalten und ich bin immer noch hier. Es ist eine fiktive Angst. Sie dient dazu, die Spaltung zwischen den beiden Gemeinschaften zu bewahren“, so Jean-Luc Nsengyiumva.
Heute erkennt man diese Spaltung besonders daran, wie die jeweiligen Gemeinschaften die Ereignisse von 1994 interpretieren. Der Soziologe bedauert, dass der ruandische Völkermord ähnlich definiert wird wie der Holocaust: Die Nationalsozialisten haben die Juden umgebracht, die Hutu die Tutsi. „Nur, dass man aus dem Nationalsozialismus austreten konnte, aber man kann sich seiner ethnischen Herkunft nicht entledigen“, erklärt Jean-Luc Nsengyiumva.
Hinzu kommt, dass die Geschichte des Völkermordes sehr polarisierend ist, sagt Richard Benda, Theologe am Luther King Centre London. Er hat in Ruanda lange mit den Kindern von Tätern des Völkermordes gearbeitet. „Viele von ihnen sagten mir, der Genozid begann 1997. Damals griff das neue Regime in Ruanda Flüchtlingscamps im Kongo an, in denen sich Völkermörder versteckt hielten. Erst da erlebten diese Kinder Leid und Gewalt. Sie verloren ihre Eltern; ihre Verwandten wurden entweder von der RPF oder von Hutu-Extremisten ermordet. Ihre Erlebnisse passen nicht zu der offiziellen Geschichte des Genozids. Wenn wir uns nicht um ihr Trauma kümmern, verlieren wir diese Generation.“
Die Rolle der zweiten Generation
Heute stellt insbesondere die zweite Generation die Geschichte des ruandischen Völkermords infrage. Es sind die Kinder der ehemaligen Eliten. Einige ihrer Eltern wurden vom internationalen Strafgerichtshof für ihre Rolle im Völkermord verurteilt. Diese Kinder haben Ruanda verlassen, als sie sehr jung waren. Ihre Erfahrungen des Völkermordes, das ist das Leben in den Flüchtlingslagern, die von der Cholera heimgesucht und von den Soldaten der Ruandischen Patriotischen Front angegriffen wurden; das Exil in Belgien; die Anschuldigungen gegen ihre Eltern.
Wie ihre Eltern organisieren auch sie sich in Vereinen. Der bekannteste ist „Jambo“. Der Verein wurde 2008 gegründet und beschreibt sich als „Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte“. Jambo erkenne den Völkermord an den Tutsi an, heißt es auf der Webseite des Vereins. Doch er setze „sich auch für die Anerkennung des Völkermords an den Hutu in Ruanda und in der Demokratischen Republik Kongo ein“. Jambo betreibt einen Nachrichtenblog über die Region der großen Seen, „Jambo News“, der bei der ruandischen Diaspora sehr beliebt ist. Der Verein mit Sitz in Brüssel erhält dafür öffentliche Fördergelder. 2011 und 2012 erhielt Jambo etwa Subventionen von der Region Brüssel, um einen Journalismus-Wettbewerb zu organisieren.
Die Artikel auf „Jambo News“ zeichnen sich durch eine kategorische Ablehnung von Paul Kagames Regierung aus. Sie verherrlichen das Habyarimana-Regime und machen Kagame nicht nur für den Genozid der Tutsi, sondern auch für Massaker an „Millionen ethnischer Hutu“ verantwortlich. Damit vertreten sie oftmals eine Ideologie, bei dem sich die Verbrechen gegenseitig aufheben.

Auf Nachfrage erklärt Jambo, das Anliegen des Vereins sei die Aussöhnung zwischen Überlebenden des Genozids und Ruandern aller Lager. Man würde den Opfern aller Tragödien der großen Seen Gehör schenken und ihnen helfen, das Erlebte zu verarbeiten. „Jambo verschreibt sich keiner anti-Tutsi Ideologie“, betont etwa Gustave Mbonyumutwa, „sondern höchstens einer anti-RPF Ideologie.“
Doch diese Vermischung von Politik und Erinnerungskultur macht Vereinigungen wie Jambo so problematisch, sagt Catherine Gilbert, die an der Universität Newcastle zum Gedenken an den Völkermord forscht. „Das Problem ist nicht, dass es Opfer von Kriegsverbrechen und RPF-Massakern gibt, die wollen, dass ihr Leid anerkannt wird. Sondern, dass Jambo versucht, das Ganze unter der Schirmherrschaft des Völkermordgedenkens zu vereinen, und Paul Kagame für alle Verbrechen, einschließlich des Völkermords an den Tutsi, verantwortlich macht. Sie führen eine politische Kampagne und tragen nicht zur Aussöhnung zwischen Ruandern bei“, so die Wissenschaftlerin.
Vereine wie Jambo würden versuchen, die Geschichte umzuschreiben, so Catherine Gilbert weiter. „Die jüngeren Generationen haben keine direkte Erinnerung an den Völkermord. Sie erben eine Darstellung der Ereignisse, die nicht mit dem übereinstimmt, was 1994 geschah. Diese verzerrte Version der Geschichte wird bewusst von ihren Eltern und ihrem Umfeld gepflegt und an die jungen Menschen weitergegeben. Es gibt kein Gegen-Narrativ, außer durch das ruandische Regime, das sie als Feind betrachten.“
„Jambo“ im Luxemburger Radio
Die Kampagnen von Jambo haben in Belgien nur eine begrenzte Reichweite. Die Ausnahme bilden ein paar Meinungsartikel und das eine oder andere Interview in der belgischen Presse. Im vergangenen Juni, anlässlich der Ruanda-Reise von Premierminister Xavier Bettel (DP) sowie Kooperations- und Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP), konnte man den Namen „Jambo“ allerdings im luxemburgischen Radio hören. Patrice Mbonyumutwa, Gründungsmitglied des Vereins, sprach bei „Radio 100,7“ zu Menschenrechtsverletzungen in seinem Heimatsland. Er stellte sich als politischer Aktivist vor, der sich bei Jambo für Menschenrechte engagiert. Das öffentlich-rechtliche Radio war sich dem politischen Engagement und den familiären Beziehungen von Mbonyumutwa nicht bewusst. Der Beitrag wurde wenig später angepasst.
Patrice Mbonyumutwa ist Rechtsanwalt in Luxemburg. Auch seine Brüder Gustave und Ruhumuza Mbyonumutwa gehören Jambo an. Es handelt sich um die Söhne von Shingiro Mbonyumutwa, der während des Völkermordes Kabinettschef des inzwischen vom ICTR verurteilten Premierministers Jean Kambanda war und der Hutu-Power-Bewegung angehörte. Die Opfer des Völkermordes erinnern sich bis heute an ein Interview von Shingiro Mbonyumutwa auf „Radio Ruanda“ am 21. April 1994, bei dem er Hass und Angst gegen die Tutsi schürte. Er sagte etwa, die Tutsi außerhalb Ruandas würden die Ausrottung der Hutu-Gemeinschaft planen – eine Warnung, die während des Völkermordes dazu diente, die Hutu zum Töten der Tutsi zu animieren.
Patrice Mbonyumutwa sitzt in den Verwaltungsräten mehrerer Vereine in Luxemburg und Belgien. Oft benutzt er dazu seinen Zweitnamen Rudatinya. Ein Beispiel ist das „Radio Inkingi“, Radiosender der politischen Oppositionsgruppierung FDU-Inkingi, in der Mobonyumutwa ebenfalls Mitglied ist. Im Verwaltungsrat von „Radio Inkingi“ sitzt Patrice zusammen mit Personen wie Charles Ndereyehe, um dessen Auslieferung aus den Niederlanden die ruandische Regierung sich seit Jahren bemüht. Man wirft Ndereyehe vor, an den Massakern am „Institut des sciences agronomiques“ teilgenommen zu haben, Ndereyehe war damals Direktor des Instituts.
Association Rwandaise du Luxembourg
Patrice Mbonyumutwa ist auch im Luxemburger Vereinsleben aktiv. Hier hat der Anwalt die „Association Rwandaise du Luxembourg“ mitgegründet. Der Verein wurde 2010 ins Leben gerufen, um den Kulturaustausch zwischen Ruandern und Luxemburgern zu fördern. Aber auch: „de promouvoir et diffuser une information objective sur l’histoire et l’actualité du Rwanda […] en informant notamment le monde politique, les médias, les acteurs économiques et les acteurs de la vie sociale.“ Und, ähnlich wie Jambo: „de promouvoir et d’effectuer tout acte de défense et de commémoration envers toutes les victimes rwandaises et étrangères des conflits qui se sont déroulés et se déroulent au Rwanda“.
Im Aufsichtsrat saß neben Patrice Mbonyumutwa etwa sein Cousin zweiten Grades, Raymond Mugabo. Sein Name stand 1997 auf der Liste der mutmaßlichen Kriegsverbrecher in Belgien, die vom „Comité pour le respect des Droits de l’Homme et la Démocratie au Rwanda“ (CRDDR) erstellt wurde. Man wirft ihm vor, an mehreren Massakern von Tutsi in Butare beteiligt gewesen zu sein. Belgien hat seine Asylanfrage abgelehnt. Der Verein scheint allerdings nicht besonders aktiv gewesen zu sein. Er hat seit der Gründung keine Konten veröffentlicht und wurde 2021 aus dem Handelsregister gestrichen.
Im Rahmen der Recherche wurde auch Patrice Mbonyumutwa mit den aufgelisteten Fakten konfrontiert. Seine Antwort: „nous [Jambo] luttons depuis des années contre le mensonge et la propagande qui nuisent à tous les rwandais. […] Cela fait trente ans que des journalistes étrangers écrivent des énormités et des méchancetés sur les réfugiés Rwandais Hutus comme nous qui ont fui leur pays à cause de la machine néocoloniale occidentale qui détruit l’Afrique sans vergogne. […] Nous ne pouvons plus supporter ces publications racistes contre les Hutus et les réfugiés Hutus qui nuisent à l’ensemble des Rwandais.“
„Kurz danach waren sie tot“
Für die Opfer von 1994 ist es schwer, damit umzugehen, dass sich bis heute Vereine und ehemalige ruandische Würdenträger darum bemühen, die Geschichte des Völkermordes anzufechten. Der Genozid ist fast 30 Jahre her. Doch er bestimmt weiter ihr Leben.
Etwa das von Bernadette Mukagasana, die sich weiter dafür einsetzt, dass mutmaßliche Täter des Genozids sich vor Gericht verantworten müssen. Obwohl sie schon vor dem Völkermord nach Belgien gezogen ist, lässt sie die Angst nie wirklich los. „Bereits 1959 wurden wir verfolgt, nur weil wir Tutsi sind. Man sagte uns, man würde uns auf schnellstem Wege nach Äthiopien schicken: Nämlich, indem man Leichen in den Fluss Nyabarongo wirft. Wir müssen immer wachsam bleiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass man uns ein zweites Mal tötet.“
Bernadette nimmt ein Glas mit Sorghum, einem ruandischen Getreide, vom Regal neben dem Wohnzimmertisch. Sie öffnet den Deckel, riecht daran, wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Es ist das Letzte, was mir von meiner Familie bleibt“, sagt sie. „Mein Bruder hat es mir kurz vor dem Völkermord aus Ruanda mitgebracht. Das Glas Sorghum zusammen mit Nachrichten und Bildern von meiner Familie, von meinen kleinen Nichten. Kurz danach waren sie tot.“
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.
Anmerkung der Redaktion: Teile dieses Textes erschienen zuerst auf Französisch im belgischen Magazin „Médor“. Ein Stipendium des Journalistenfonds der Gemeinschaft Wallonie-Brüssel machte die Recherche möglich.
Die ganze Recherche von Charlotte Wirth lesen Sie hier: