Deutschland steht nach der russischen Aggression in der Ukraine vor einem dramatischen Wandel. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte die „Zeitenwende“ an. Doch die nötigen Veränderungen in der Energieversorgung, der Verteidigung und der Industrie sind gewaltig.
Der Erfolg Deutschlands in den letzten Jahrzehnten ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass es seinen Kurs gehalten hat. Sogar seine Dramen waren Dramen der Kontinuität – wie 2015, als sich Angela Merkel weigerte, die Asylpolitik des Landes angesichts des riesigen Zustroms syrischer Flüchtlinge zu ändern. „Wir schaffen das“, sagte sie damals und hielt die Tür offen. Die viel zitierte Bemerkung strahlte Mitgefühl und Zuversicht aus und bot den Wählern gleichzeitig ein gutes Gefühl der Menschlichkeit. Deutschland war stark und stabil genug, um diese außergewöhnliche Entwicklung zu bewältigen. Es würde Anpassungen geben müssen, aber keine tiefgreifenden Änderungen oder übermäßige Kosten.
Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine in diesem Februar ausgelöste Krise ist von einer anderen Größenordnung. Olaf Scholz, der im vergangenen Dezember an der Spitze einer Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen Angela Merkel abgelöst hatte, hat den Wandel rasch begriffen. Nur drei Tage, nachdem russische Panzer über die ukrainische Grenze gerollt waren, erklärte er den Beginn einer „Zeitenwende“. Deutschland werde die Ukraine nach Kräften unterstützen, sagte er. Es werde Russland mit Sanktionen bestrafen und seine eigene Armee verstärken. Es werde seine teils durch ein Konzept der Annäherung durch Handel, teils durch Opportunismus bedingte Politik, sich allzu sehr vom russischen Erdgas abhängig zu machen, radikal ändern.
Das Ende alter Gewissheiten
Diese deutlichen Worte eröffneten eine viel breitere Debatte über die Notwendigkeit, ausgetretene Pfade zu verlassen – eine Debatte, in der fast nichts mehr unbestreitbar erscheint. Die Grünen in der Koalition von Olaf Scholz scheinen bereit zu sein, die Nutzung von Atom- und Kohlekraftwerken zu verlängern. Konservative sprechen davon, die Obergrenzen der Staatsverschuldung aufzuheben, die die öffentlichen Investitionen gebremst haben. Führende Persönlichkeiten der Industrie warnen, die deutsche Wirtschaft werde untergehen, wenn sie nicht lerne, in neuen und raueren Gewässern zu schwimmen.
Glaubt man all diesen Anzeichen, so entsteht derzeit ein neues Deutschland: pragmatischer und weniger moralisierend, weniger selbstzufrieden und entschlossener. Es verspricht, sich zu einer selbstbewussteren und effizienteren Lokomotive für ein europäisches Projekt zu entwickeln, zu einem globalen Drehkreuz für neue Industrien und grüne Technologien und zu einem Land, das den Einsatz seiner Streitkräfte gutheißt. Wenn die Dinge gut laufen, könnte sich Deutschlands kriegsbedingter Wandel als einer der größten Nachteile für Putin erweisen. Aber dahinter steht noch ein großes Fragezeichen.
Fairerweise muss gesagt werden, dass Deutschlands neu entdeckte Offenheit für Veränderungen nicht allein Putin zuzuschreiben ist. Seit Jahren hat sich Druck aufgebaut. Bei all ihrem Wohlstand konnten die Deutschen sehen, dass ihre Infrastruktur nach Jahrzehnten der Unterfinanzierung hinfällig wurde, dass ihre Industrie zu sehr von den Exporten nach China abhängig war, und dass Unternehmen Schwierigkeiten hatten, geeignete Mitarbeiter zu finden. Viele waren der Meinung, dass längerfristige Herausforderungen wie der Klimawandel und die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Rentensystems vernachlässigt würden.
Das schlechte Abschneiden der Christdemokraten von Angela Merkel bei den Wahlen im vergangenen Jahr spiegelte die aufgestaute Unzufriedenheit der Nation wider. Die Regierung, die sie abgelöst hat, ist die jüngste und vielfältigste, die Deutschland je erlebt hat. Die „Ampel-Koalition“ begann mit einer starken Agenda für innenpolitische Reformen. Das Ziel war eine grünere, hochgradig digitalisierte „soziale Marktwirtschaft“. Dies wurde jedoch rasch von der „Zeitenwende“ verdrängt. Immerhin stehen Teile davon im Einklang mit dem Bestreben, die Streitkräfte zu verstärken und die Energielandschaft umzugestalten.
Langsam, aber stetig
Sechs Monate nach der Rede des Kanzlers ist die Bilanz seiner Regierung, den Worten auch Taten folgen zu lassen, nicht schlecht. Deutschland hat der ukrainischen Regierung Geld und eigene Waffen geschickt. Es hat weiteres Geld durch die EU und Waffen durch „Ringtausch-Deals“ bereitgestellt, bei denen deutsche Waffenlieferungen an NATO-Verbündete es diesen erlaubt haben, mehr eigene Waffen in die Ukraine zu schicken. Außerdem hat Deutschland fast eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Rund 150.000 ukrainische Kinder sind inzwischen an deutschen Schulen angemeldet.
Einige Aspekte dieses Vorgehens wurden jedoch von mehreren Seiten kritisiert. Zwar habe Deutschland Geld geschickt, doch hätten andere Länder mehr überwiesen, wenn man den Anteil am BIP zugrunde legt. In der Ukraine gab es Beschwerden darüber, dass Deutschland nur langsam in die Gänge komme und dass die lange Liste der Hilfslieferungen von offensichtlich überzähligen und nicht mehr benötigten Gütern beherrscht werde. Es gibt Anzeichen dafür, dass die deutsche Bundeswehr, die durch Jahrzehnte lange Unterfinanzierung geschwächt wurde, sich nur ungern von dem Wenigen trennt, das sie hat.
Allerdings könnte Deutschland mit einem schwerfälligen, aber stetigen Konzept der Ukraine längerfristig mehr helfen als die meisten anderen Länder. Die militärische Hilfe hat sich zweifellos beschleunigt. Die Ankunft der ersten in Deutschland hergestellten mobilen Raketenwerfer in diesem Monat war der bisher bedeutendste Beitrag eines Landes, das sich seit Jahrzehnten routinemäßig weigert, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.
Was die Isolierung der Nicht-Energiesektoren der russischen Wirtschaft angeht, so ist die Bilanz eindeutiger. Trotz der Sanktionen, die nach Putins Annexion der Krim im Jahre 2014 verhängt wurden, blieb Deutschland bis zum Beginn dieses Jahres Russlands größter ausländischer Investor, mit rund 4.000 dort tätigen deutschen Firmen. Mehr als 200 deutsche Firmen sind nach wie vor in Russland tätig, darunter Globus (Supermärkte) und Fresenius (Gesundheitswesen). Aber die überwältigende Mehrheit hat nun den Betrieb eingestellt und ihre Mitarbeiter abgezogen. Dies geht über das hinaus, was erforderlich war, um den neuen EU-Sanktionen aufgrund von Sicherheitsbedenken, Rücksicht auf die öffentliche Meinung und der Überzeugung, das Richtige zu tun, zu entsprechen. Dadurch wurden Investitionen, Partnerschaften und Verkäufe hart getroffen, was jedoch fast klaglos hingenommen wurde.
Umdenken in der Verteidigung
Auch die Politiker haben zugelegt. Die Grünen haben seit jeher eine starke pazifistische Tendenz, aber davon war nichts zu sehen, als Annalena Baerbock, die 41-jährige Außenministerin und eine der beiden führenden Grünen in der Regierung, den Schülern der „New School“ in New York sagte, Russlands „brutaler Krieg“ sei ein Angriff auf „Freiheit, Demokratie und Menschenrechte“. Der eigenen Partei von Bundeskanzler Scholz wurde lange Zeit ein allzu nachsichtiger Umgang mit Russland nachgesagt. Ihr früherer Kanzler Gerhard Schröder, der um die Jahrtausendwende im Amt war, wurde nach seinem Ausscheiden zum Lobbyisten für russische Interessen. Der 44-jährige derzeitige Ko-Vorsitzende der Partei, Lars Klingbeil, bezeichnet militärische Gewalt immerhin unverblümt als legitimes Instrument für den Frieden. „Nicht das Reden vom Krieg führt zum Krieg“, sagte er kürzlich in einer Rede. „Die Augen vor der Realität zu verschließen, führt zum Krieg.“
Dies gilt ebenso für die mangelnde Bereitschaft, die Verteidigung ernst zu nehmen. Der Teil der Rede von Olaf Scholz, der seine NATO-Bündnispartner am meisten aufhorchen ließ, war sein Versprechen, die Militärausgaben auf zwei Prozent des BIP anzuheben, ein Ziel, auf das sich das Bündnis bereits vor mehr als einem Jahrzehnt geeinigt hatte, das Deutschland jedoch eindeutig verfehlt hat. Mitte der 2010er Jahre gab es nur knapp ein Prozent dafür aus.
Ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro (103 Milliarden US-Dollar) soll verwendet werden, um die Ausgaben für die Streitkräfte von 51 Milliarden Euro im Haushaltsplan 2021 auf etwa 80 Milliarden Euro pro Jahr aufzustocken. Die ersten großen Beträge sind für die schwächelnde Luftwaffe bestimmt, die 35 F35-Jäger aus Amerika im Rahmen eines 8,4-Milliarden-Dollar-Deals erhalten wird.
Mehr Investitionen allein reichen jedoch nicht aus. „Man muss viel Geld für die Bundeswehr ausgeben“, sagt Nico Lange, ehemaliger Leiter des Leitungsstabes im Bundesverteidigungsministerium, „doch was man wirklich ändern muss, ist ihre bürokratische Kultur“. Seines Erachtens werde die Armee zu sehr vom Schreibtisch aus geführt. „Wir geben uns große Mühe, Ukrainer im Umgang mit unseren „fortgeschrittenen“ Waffen auszubilden, obwohl wir doch von ihnen lernen sollten, wie man auf dem Schlachtfeld improvisiert und die Initiative ergreift.“
„Wandel durch Handel“ gescheitert
So wichtig der zunehmende militärische Ehrgeiz auch ist – die Änderung der Energiepolitik hat weit größere Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft. Unter den verschiedenen Regierungen von Angela Merkel stieg nicht nur der Anteil Russlands an den Gasimporten auf 55 Prozent. Sie genehmigten auch den Verkauf von Raffinerien, Gasspeicheranlagen und anderer wichtiger Infrastrukturen an russische Firmen. Sie bauten keine Terminals für Flüssiggastanker (LNG), die von weiter entfernten Anbietern kamen. Sie verboten Fracking, eine Technologie, mit der Deutschland seine eigenen Gasreserven hätte ausbeuten können. Marktbasierte Reformen zur Finanzierung erneuerbarer Energien dämpften den exponentiellen Boom der frühen 2010er Jahre zugunsten eines stetigeren, weniger dramatischen Wachstums. Der Ausstieg aus der Atomenergie war eine schlecht durchdachte Reaktion auf die Katastrophe von Fukushima.
In Bezug auf ihr erklärtes Ziel, den für beide Seiten vorteilhaften Handel zu nutzen, um Veränderungen in Russland zu fördern, war dies ein völliger Fehlschlag. Außerdem hat es Deutschland in die peinliche, ja tragische Situation gebracht, Putins Aggression zu finanzieren. Durch Deutschlands Zahlungen für fossile Brennstoffe gelangten rund 18 Milliarden Euro in Putins Taschen, seit seine Panzer am 24. Februar in weite Teile der Ukraine rollten, schätzt das „Centre for Research on Energy and Clean Air“ in Helsinki.
Deutschlands Dienste werden nicht das neue Facebook sein, sondern produktionsnahe Dienste, wie das Internet der Dinge.“Jens Südekum, Universität Düsseldorf
Die erwarteten Probleme, um das Land bis zum Sommer 2024 von russischer Energie unabhängig zu machen, wie die Regierung hofft, haben in der Presse Ängste vor einer katastrophalen Deindustrialisierung und Volksaufständen geweckt. Bisher waren die Einschränkungen jedoch wirksamer als erwartet und nicht besonders schmerzhaft. Seit Putin die Gaslieferungen als Druckmittel benutzt, hat Deutschland mehrere Ersatzlieferanten gefunden, indem es bisweilen andere Länder überbot. Nach Angaben der Regierung betragen die Gasimporte aus Russland nur noch 26 Prozent des Gesamtvolumens. Speicherkapazitäten, die vor dem Krieg auf sehr niedrigem Niveau gehalten wurden, konnten für August bis zum normalen Niveau gefüllt werden. Anfang nächsten Jahres soll das erste von fünf neuen LNG-Terminals den Betrieb aufnehmen.
Auch die rückläufige Nachfrage bietet Einsparungsmöglichkeiten. Große Firmen wie Mercedes-Benz und der Chemieriese BASF sagen jetzt, sie könnten mit viel weniger Gas auskommen als ursprünglich erwartet. Der Autohersteller teilt mit, dass er seinen Gasverbrauch bereits um zehn Prozent gesenkt habe und bis Ende des Jahres 50 Prozent erreichen könne, obwohl er nicht angibt, wie. Die Regierung plant die Einführung eines Auktionsmechanismus, der es Unternehmen ermöglicht, Reduzierungen des Gasverbrauchs zu einem bestimmten Preis anzubieten, sodass die Regierung die effizientesten Optionen auswählen kann. Um die Sparsamkeit der Haushaltskunden zu fördern, die in der Regel langfristige Festpreisverträge für Gas haben, wird die Regierung ab Oktober eine Gasumlage erheben und gleichzeitig eine weitere finanzielle Unterstützung der am meisten betroffenen Verbraucher versprechen.
Die Frage der Laufzeitverlängerung
Auch die europäischen Nachbarn Deutschlands (die eine Reduzierung um 15 Prozent zugesagt haben) werden den Gasverbrauch der Industrie und der Haushalte senken. Zusammen mit mehr Gas, das aus anderen Quellen wie Katar, Algerien und Amerika nach Europa kommt, und einem befristeten Rückgriff auf Kohle zur Stromerzeugung sollte es Deutschland möglich sein, den Winter ohne Rationierung und mit minimaler Abhängigkeit von russischem Gas zu überstehen – schätzungsweise 20 Prozent der vollen Kapazität der Pipeline Nord Stream 1. Sollte der Winter jedoch besonders kalt werden oder sollten die Lieferungen aus Russland ganz ausbleiben, sind weitere Maßnahmen erforderlich.
Die Energiekrise hat Robert Habeck ins Rampenlicht gerückt, der als Vizekanzler und Wirtschaftsminister der ranghöchste Grüne in der Regierung ist. Der Krieg hat für starken Rückenwind für die ehrgeizigen Pläne der Grünen zum Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland gesorgt, und Robert Habeck nutzt die Krise, um den politischen Widerstand gegen diese Pläne in den von Christdemokraten regierten Bundesländern zu überwinden. Im Juli stimmte der Bundesrat einem von ihm eingebrachten Maßnahmenpaket zur Beschleunigung von Planung, Genehmigung und Durchführung von Ökostromprojekten zu.
Wenn dies ein einwöchiger Krieg gewesen wäre, dann lägen die Dinge vielleicht anders.“Constanze Stelzenmüller, Brookings
Dabei kam Robert Habeck seine Bereitschaft zum Pragmatismus zugute, etwa bei der vorübergehenden Wiederinbetriebnahme von eingemotteten Kohlekraftwerken. Bisher hat er sich noch nicht zu den langjährigen Plänen geäußert, die letzten drei Kernkraftwerke im Dezember abzuschalten, wodurch die Stromversorgung um sechs Prozent reduziert würde. Aber mit der ihm eigenen großen Popularität, mit europäischen Partnern, die für ein solches Vorgehen plädieren, und mit Umfragen, wonach etwa 80 Prozent der Deutschen, darunter eine Mehrheit der Grünen, dafür sind, die Kernkraftwerke noch mindestens ein paar Monate länger zu betreiben, sieht es so aus, als würde sich diese Frage von selbst erledigen.
Deutschland scheint damit auf einem guten Weg, die Liste seiner Energielieferanten zu erweitern und sich strategisch weniger angreifbar zu machen. Langfristig könnten mehr erneuerbare Energien und eine Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff, der durch Elektrolyse hergestellt wird, das Land autarker werden lassen. Aber bei hohen Preisen für Gas und auch für CO2-Emissionen (was bedeutet, dass Kohle keine billige Option ist) entstehen kurzfristig hohe Kosten und eine weit verbreitete Befürchtung, dass Industrien, die sich auf billiges russisches Gas verlassen haben, in echte Schwierigkeiten geraten könnten.
Das muss nicht unbedingt so sein. Wie Monika Schnitzer von der Universität München betont, kommt es mehr auf die relativen als auf die absoluten Kosten an. „Wenn andere Länder mit ähnlich hohen Gaspreisen konfrontiert werden, was auf den globalen Gasmärkten im Laufe der Zeit passieren wird, kann die Produktion in Deutschland verbleiben, insbesondere bei Produkten, die sowohl Gas als auch Technologie verwenden.“ Allerdings kann eine Volkswirtschaft mit einer großen chemischen Industrie und einer Abhängigkeit vom verarbeitenden Gewerbe höheren Energiepreisen nicht mit Gelassenheit entgegensehen.
Die Industrie schwächelt
Die deutsche Industrie wächst, absolut gesehen, nicht mehr. Im Jahre 2019, vor der Pandemie, machte sie immer noch fast 20 Prozent des BIP aus, verglichen mit elf Prozent in Amerika und neun Prozent in Großbritannien. Obgleich Ökonomen erwarten, dass sich die Wirtschaft weiter in Richtung Dienstleistungen verlagert, wird ihr industrieller Charakter bestehen bleiben. Jens Südekum von der Universität Düsseldorf stellt dazu fest: „Deutschlands Dienste werden nicht das neue Facebook sein, sondern produktionsnahe Dienste, wie das Internet der Dinge.“
Die Transformation einer Industriewirtschaft erfordert jedoch digitale Kompetenzen, und da hinkt Deutschland hinterher. Noch 2013 bezeichnete Angela Merkel das Internet als „Neuland“. Während sich die Verfügbarkeit von Breitband-Internet und Hochgeschwindigkeits-Mobilfunk verbessert hat, lässt die Integration digitaler Technologien in Unternehmen oder der öffentlichen Verwaltung noch zu wünschen übrig. Ein zentrales Problem ist hier, wie in vielen anderen Bereichen, der Mangel an qualifiziertem Personal. Deutschlands Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird im laufenden Jahrzehnt voraussichtlich schneller schrumpfen als die jeder anderen großen Volkswirtschaft außer Südkorea. Selbst mit hoher Zuwanderung, die Deutschland nun im Geiste des Pragmatismus fördern will, wird das Land den Rückstand kaum aufholen können.
Außerdem steht die Industrie vor dem Problem der Absatzmärkte für ihre Produkte. Russland ist weggefallen. Bereits 2019 warnte der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) davor, sich zu stark auf China zu konzentrieren. Und die Art der Dinge, die die Welt will, ändert sich durch die Energiewende.
Nehmen wir die weltbekannte Autoindustrie. Der Vertrag, aufgrund dessen der Elektrofahrzeughersteller Tesla eine Fabrik in der Nähe von Berlin baute, wurde als großer Erfolg gefeiert. Aber selbst wenn die Fabrik trotz der Vorliebe des Unternehmens für vertikale Integration das Vermögen einiger Zulieferer vergrößert, wird sie dem Netzwerk hochqualifizierter Maschinenbauunternehmen, die sich mit den Feinheiten des Verbrennungsmotors befassen, kaum Freude bereiten. Und die heimischen Autofirmen, die sich immer mehr an Tesla orientieren, benötigen deswegen Batterien, die in Asien billig produziert werden, und keine Einspritzdüsen, die bekanntlich in hoher Qualität in Deutschland hergestellt werden.
Grabenkämpfe oder nationale Aufgabe?
Die Hoffnungen auf wachsende Tech-Cluster rund um die Tesla-Fabrik und in der „Silicon Junction“ bei Magdeburg (ebenfalls im Osten), wo Intel, ein amerikanischer Chiphersteller, 17 Milliarden Euro für eine Halbleiterfabrik investiert, könnten sich bestätigen. Weitere Auslandsinvestitionen könnten folgen. Allerdings kommen die wirtschaftlichen Vorteile nicht zwangsläufig den in Deutschland ansässigen Herstellern zugute. Umwälzende Veränderungen, die das Land nach Möglichkeit vermeiden wollte, werden an der Tagesordnung sein. Die europäischen Bemühungen, bestehende Lieferketten weg von China in befreundete Staaten zu verlegen („Friend-Shoring“), werden sich für einige deutsche Hersteller sicherlich auszahlen.
Die Deutschen mögen ihren Politikern die Entbehrungen verzeihen, die eng mit dem Krieg verbunden sind. Jüngste Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit weiterhin dafür ist, Sanktionen gegen Russland zu verhängen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Doch unter den Koalitionspartnern verzeichnen nur die Grünen wachsenden Rückhalt. Die Umfragewerte von Olaf Scholz und seiner Partei sind seit Februar rückläufig. Anhänger des dritten Koalitionspartners, der Freien Demokraten, laufen zunehmend zu den Christdemokraten über. Das Gefühl einer nationalen Aufgabe wird bereits durch Streitigkeiten über die jeweilige Rolle der Bundesregierung und der Länderregierungen bei der Reduzierung des Gasverbrauchs und der Standortwahl von Windkraftanlagen und Übertragungsleitungen untergraben.
Constanze Stelzenmüller von der Denkfabrik Brookings ist zuversichtlich, dass Deutschland nicht in alte Gewohnheiten zurückfallen wird. Die Zeitenwende ist real, glaubt sie, und die Regierung arbeitet mit Hochdruck daran, sie zu verwirklichen. Aber sie äußert auch eine Warnung. „Sie ist real wegen Putin und der Tatsache, dass er nicht aufhören wird“, sagt sie. „Wenn dies ein einwöchiger Krieg gewesen wäre, dann lägen die Dinge vielleicht anders.“ So kann es sein, dass es einer nachhaltigen Herausforderung bedarf, damit sich Deutschland nachhaltig für den Wandel einsetzt.
* Dieser Artikel basiert auf einem Originaltext aus dem „Economist“, den Reporter.lu im Rahmen einer Syndizierungspartnerschaft veröffentlicht.
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From The Economist, translated by Hermann J. Bumb, published under licence. The original article, in English, can be found on www.economist.com.