Auch überschuldete Menschen brauchen ein Existenzminimum, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei Lohnpfändungen droht jedoch oft der komplette soziale Abstieg. Die Politik steuert indes nur bedingt gegen diese Entwicklung. Eine Bestandsaufnahme.
Scheidung, Krankheit, Konsumsucht, der Verlust der Arbeitsstelle: Die Gründe, warum Menschen sich überschulden, sind vielfältig. Mit der privaten Überschuldung geht dabei oft auch eine gewisse Scham einher. Die Betroffenen zögern zu handeln.
Die ersten, die von der misslichen Lage erfahren, sind oft nicht Freunde oder Verwandte, sondern die Schuldnerberatung. Manchmal ist es dann für Verhandlungen mit den Gläubigern aber schon zu spät. Der Lohn wird bereits gepfändet.
Falls die Schuldenlage aber überschaubar ist, können die Mitarbeiter der Anlaufstellen sich ein Bild der Lage machen und mit den Betroffenen zusammen Lösungen suchen. Das bedeutet vor allem, dass man mit den Gläubigern Konditionen für die Rückzahlung aushandelt. Laut dem Gesetz von 2013 lässt sich auch gemeinsam mit der zuständigen Mediationskommission ein Plan umsetzen, der mit einer Privatinsolvenz innerhalb von sieben Jahren endet.
Eines soll diesen Szenarien aber gemein sein: Den verschuldeten Menschen soll es weiterhin möglich sein, ein menschenwürdiges Leben zu führen. In der Praxis ist dieser Anspruch aber nicht immer ohne Weiteres zu erfüllen.
Das individuell variable Existenzminimum
Denn nicht alle Menschen haben dieselben Bedürfnisse. Für manche reicht ein kleines Budget zum Essen, andere wollen aber auf bestimmte Verbrauchsgüter nicht verzichten. Einschränkungen seien aber unumgänglich, sagt Christian Schumacher, Schuldenberater der „Ligue médico-sociale“. „Zigaretten können schon einmal 300 Euro monatlich in der Haushaltskasse ausmachen“, so eines seiner Beispiele.
Die Schulden sind meist die Spitze des Eisbergs. Diese Menschen haben oft keine Perspektive mehr.“Christian Schumacher, Schuldenberater
Die Anlaufstellen der gemeinnützigen Vereine „Ligue médico-sociale“ oder auch „Inter-Actions“ achten individuell auf die Schmerzensgrenzen der Betroffenen. Dabei spielt die Zusammensetzung des Haushalts eine wichtige Rolle. Das Existenzminimum variiert etwa mit der Anzahl von Kindern. Auch ob die betroffene Person alleine lebt oder in einer Partnerschaft, macht etwas aus.
Dieser Tatsache will auch die Anfang des Jahres in Kraft getretene Reform der Sozialhilfe Rechnung tragen. Das Gesetz über das Einkommen zur sozialen Eingliederung („Revenu d’inclusion sociale“ bzw. REVIS) sieht zusätzliche Hilfen vor, die im Fall von Alleinerziehenden noch erhöht werden können.
Was ändert sich mit dem REVIS?
Anders als bei der vorherigen Variante des garantierten Mindesteinkommens RMG, steht beim REVIS (Revenu d’inclusion social) die Aktivierung im Mittelpunkt. Seit dem 1. Januar in Kraft setzt sich das Mindesteinkommen aus einer Basiszulage pro Erwachsenen und zusätzlichen Beträgen für Haushalt und Kinder zusammen. Fortan erhalten Kinder und Alleinerziehende mehr Mindesteinkommen. Konkret bedeutet dies: Eine Kinderpauschale von 217,71 Euro (30 Prozent der Erwachsenenpauschale) oder 282,71 Euro (40 Prozent derselben Pauschale) in einem Alleinerzieherhaushalt. Ein „Ein Kind-ein Erwachsener“ Haushalt erhielt mit dem RMG einen Betrag von 1.528,54 Euro monatlich, derselbe Haushalt erhält mit dem neuen Gesetz 1.789,61 Euro, mit jedem zusätzlichen Kind kommen 282,71 Euro hinzu. Auch wenn Alleinerzieherhaushalte mehr erhalten, schützt REVIS nicht vor Armut.
Keine automatische Indexierung
Anders sieht es im Fall von gerichtlich angeordneten Lohnpfändungen oder der Lohnabtretungen aus: Das Existenzminimum wird nicht an die Zusammensetzung eines Haushalts angepasst. Das bei einer Pfändung ermittelte Existenzminimum wird allein nach dem Einkommen festgelegt. Und vor allem: eine automatische Indexierung gibt es nicht.
Im Jahr 2016 wurden die Beträge für die Berechnung des Existenzminimums angepasst. Dabei wurden aber lediglich die Indexanpassungen seit 2002 einbezogen. Insgesamt bedeutete dies 30 Prozent Existenzminimum mehr. Dennoch spricht Christian Schumacher von „einer verpassten Chance“. Die automatische Indexierung wurde nicht gesetzlich festgehalten und somit hatte etwa die letzte Indexanpassung im August 2018 keinen Einfluss auf dieses Existenzminimum. Obwohl damit natürlich ein Verlust der Kaufkraft einhergeht.
Bei einem Einkommen über 2.296 Euro bleiben so maximal 1.974 Euro und minimal 1.652 Euro zum Leben übrig. Bei kleineren Einkommen wird weniger einbehalten. Bis 722 Euro darf nichts gepfändet werden und zwischen 722 und 1.115 Euro ist lediglich erlaubt, zehn Prozent einzubehalten. Es erfolgen noch zwei weitere Tranchen, die jeweils mit einem Betrag von 20 Prozent bzw. 25 Prozent verrechnet und gepfändet werden dürfen.
Weniger Geld übrig als die Miete kostet
Christiane Steffen, Mitarbeiterin beim Verein „Inter-Actions“ sieht die fehlende Einbeziehung der familiären Situation als besonders problematisch im Fall von Alleinerziehenden. Sie rechnet anhand eines praktischen Beispiels vor: Einer alleinerziehenden Mutter mit einem Netto-Einkommen von 1.500 Euro im Monat plus Kindergeld bleibt nach Abzug der Miete von rund 1.000 Euro und den Lohnpfändungen gerade einmal 100 Euro pro Woche zum Leben.
Luxemburg hat es insgesamt verpasst, ein ganzheitliches Konzept gegen die Armut auszuarbeiten.“Christiane Steffen, „Inter-Actions“
Dass damit die Gefahr besteht, komplett durch das sozialstaatliche Netz zu fallen, ist für die Berater offensichtlich. „Der Freibetrag muss zu einem normalen Leben reichen, sonst kann es passieren, dass die Betroffenen ihre Miete nicht mehr zahlen können und auf der Straße landen“, betont Christian Schumacher von der „Ligue médico-sociale“.
Die vorgesehenen Grenzwerte können in Härtefällen sogar noch unterschritten werden. Falls Unterhaltszahlungen zu leisten sind, werden diese noch von dem restlichen Betrag abgezogen. „Die Schulden sind meist die Spitze des Eisbergs. Diese Menschen haben oft keine Perspektive mehr“, so Christian Schumacher über die oft aussichtslosen Situationen der Betroffenen.
Allerdings müssen soziale Beihilfen das Einkommen der überverschuldeten Menschen in solchen Fällen auffangen. So gibt es laut dem Experten Fälle, in denen nach Abzug der Unterhaltszahlungen noch 800 Euro zum Leben übrig bleiben, und das bei einer Miete von 1.100 Euro.
Zahlen zur Überschuldung in Luxemburg
Dass es bei manchen Bürgern um die Zahlungsmoral oder die soziale Situation schlecht bestellt ist, zeigt allein die Tatsache, dass es in Luxemburg 18 Gerichtsvollzieher gibt, die wiederum bis zu 19 Mitarbeiter beschäftigen. 2018 bewilligten die Friedensgerichte 12.454 Lohnpfändungen ( 2017 waren es 13.035 Lohnpfändungen) und 65 neue Dossiers wurden der Mediationskommission vorgelegt. Die Überschuldungsstelle der „Ligue médico-sociale“ befasst sich jährlich mit ungefähr 200 neuen Fällen, wobei 400-500 ältere Dossiers gleichzeitig noch offen sind.
Eine soziale und politische Herausforderung
Dennoch bleibt es fraglich, ob ein niedriger Freibetrag einen positiven Effekt auf die Zahlungsmoral der Verschuldeten hat und ob dies als Ansporn dienen kann, die schwierige Lage schnellst möglich zu verlassen. Des Weiteren ist nicht klar, warum nicht schon längst eine adäquatere Tabelle eingeführt wurde. Unklar bleiben auch die Ursachen der Nichtumsetzung einer automatischen Indexanpassung. „Luxemburg hat es ingesamt verpasst ein ganzheitliches Konzept gegen die Armut auzuarbeiten.“ findet Christiane Steffen. In ihren Augen müsse Prävention eine Priorität sein.
Auf Nachfrage von REPORTER verweist das zuständige Justizministerium auf das bestehende Lohnpfändungsgesetz. Dieses stammt noch aus dem Jahre 1970 und überlässt es großherzoglichen Verordnungen, die zu pfändenden Abschnitte festzulegen. Die letzten Anpassungen gab es 2002 und 2016. Der Freibetrag wurde vor drei Jahren von 550 auf 722 Euro angehoben. Seitdem gab es aber bereits zwei Indexerhöhungen, Anfang 2017 und im August 2018.
Als „politisch uninteressant“ bezeichnet Christian Schumacher das Thema, kaum jemand interessiere sich für die Lebensbedingungen überschuldeter Menschen. Schließlich werden die Betroffenen wohl kaum auf ihr Recht nach einem menschenwürdigen Leben bestehen, Diskretion ist ihnen wichtiger. Christiane Steffen pflichtet ihrem Kollegen bei: „Wenn wir das Thema nicht aufgreifen, wird es niemand tun. Die Betroffenen sind in 99 Prozent der Fälle nicht in der Lage dazu.“